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8. KAPITEL

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Die Suche nach dem Glasberg, die nächste Aufgabe, gestaltete sich einfach. Konrad hatte sich, geweckt durch allzu frühes Vogelgezwittscher, durch morgendliche Taukühle und durch die eigene Ungeduld, kaum von seiner notdürftigen, harten Nachtherberge erhoben, die er in Ermangelung einer besseren Bleibe zwischen den groben Wurzeln einer Eiche bezogen hatte, als er sich durch ein seltsames und zunächst unerklärliches Naturschauspiel in Verwirrung gesetzt fühlte. Vor ihm im Osten rollte mit prächtigem Kupferrot der Ball der Sonne über den Horizont herauf, hinter ihm aber im Westen schien mit dem gleichen blanken Glanz ein Doppelgestirn den herrlichen, heißersehnten Vorgang zu wiederholen. Was sollte das bedeuten? Die Irritation löste sich rasch auf. Während die wirkliche Sonne unaufhaltsam und bald wärmend ihren vorbestimmten Bogen himmelwärts fuhr, blieb die scheinbare Gegensonne auf ihrem Platze liegen wie eine vergessene Lederkappe. Auch das sprühende Schmelzmetall ihres Glanzes kühlte ab und wurde grau, als balle sich über einem Kern restlicher Glut Rauch zu einer Wolke.

Konrad verstand. Was da blitzend und täuschend im Westen gebuckelt lag, zum Greifen nahe und ganz wie im Traum vorhergesehen und angekündigt, das war der gesuchte gläserne Berg. Es konnte nur noch eine Frage kurzer Zeit sein, bis er zu diesem kuppelähnlichen Gebilde hingelangen und die Hand prüfend an seinen gläsernen Leib legen konnte. Er hatte nicht die Absicht zu trödeln und machte sich mit einer Energie auf den Weg, die man nur aus der Erleichterung schöpft. Seine Hoffnung, den so nahe scheinenden Berg in kürzester Frist zu erreichen, trog indessen. Wildnis, verfilztes Unterholz, ungebahnte Dickichte hinderten ein rasches Vorankommen; auch das Heraushauen eines Pfades mit dem Schwert brachte nur geringe Beschleunigung. Es war längst Abend, als Konrad den geheimnisvollen, in der Mondnacht wie mit einer mattschimmernden Fischhaut überzogenen Berg erreichte.

Die Kette seiner Erfolge schien Konrad am Glasberg nicht verlängern zu können. So selbstsicher und eifrig er sich ans Werk machte, so gewiss er sich des Erreichens seines Zieles war - hatte es der Traum nicht allzu eindeutig vorhergesagt! - so vergeblich verliefen alle seine Bemühungen, den Wunsch in die Tat umzusetzen. Ein Aufstieg über den ebenmäßigen, glatten Panzer des Berges war nirgends zu finden. Wie ein Raubvogel seine Beute, wie ein Wolf die lockende Schafherde, so umkreiste Konrad den gläsernen Monolithen - vergebens. Eine Schwachstelle, die ihm den Zugang über die abweisenden glatten Flächen eröffnete, war nicht aufzuspüren.

Immer und immer wieder umrundete Konrad den Berg, zehnmal, zwanzigmal, hundertmal, unnachgiebig und starrsinnig, hoffend, dass sich druch eine glückliche Fügung oder durch eine unerwartete Erleuchtung das sich immer schwieriger ausnehmende Problem bewältigen lasse. Bald konnte er sogar der eigenen Pfadspur folgen, die sein unermüdlicher Suchgang um den Glasriesen zog und mit der er diesen geradezu wie in eine Schlinge legte, schmal aber unübersehbar. Es nützte nichts. Wie sehr Konrad auch darauf lauerte, diese Schlinge um das seltsame Wild zusammenziehen zu können, seine Jagd blieb ohne Glück. Schon begann ihm der Proviant auszugehen, schon begannen seine Kräfte zu erlahmen.

Mehr und mehr geriet Konrad in einen Zustand der Erschöpfung und Verzweiflung. Er suchte Hilfe. Die Vögel rief er an, ihm die Fähigkeit ihres leichten Gewandes zu überlassen, und die Schnecken ersuchte er, ihm die haftende Kraft ihrer weichen Sohle zu leihen. Er bat den Efeu, ihm das Klettergeheimnis seiner Ranken preiszugeben, und er beschwor die Sonne morgens, und abends den Mond, Erbarmen zu zeigen und ihn bei ihrem täglichen Aufstieg auf die Kuppe des verwunschenen Berges mitzunehmen. Schließlich, auf dem Höhepunkt seiner Not, versuchte Konrad den abweisenden Berg mit Steinbrocken niederzuhämmern. Als er auch damit scheiterte, nahm er sogar die Stirn, in der wahnwitzigen Hoffnung, sein Blut werde die unerbittliche Härte des Glases aufweichen.

Endlich gab Konrad auf. Der Weg von einer richtigen Erkenntnis bis zu deren Umsetzung kann lang sein; Konrad hatte ihn nicht abgekürzt. Er hatte es sich nicht leicht gemacht, sondern alles in seiner menschlichen Macht Stehende versucht. Und doch blieb ihm am Ende nichts Anderes übrig, als enttäuscht sein Scheitern einzugestehen. Sein Körper war ausgemergelt, sein Geist voll Bitterkeit. Er sehnte sich nach Vladana, in ihren Armen wollte er sich erholen. Der Trank Onkel Wodniks hatte nicht die Zukunft, sondern täuschende Illusionen freigelegt. Anstrengung und Gefahr waren umsonst gewesen. Das war die Lage. Ihr musste er sich stellen.

Die Rückkehr in die Heimat, die Flucht von der trügerischen Insel Andia beschloss Konrad kurz zu machen. Fürst Ahira, der Schwiegervater, hatte ihm Hilfe angeboten, diese wollte er in Anspruch nehmen. Einen Augenblick, während er in seinem Reisesack nach dem Kieselstein, Ahiras Geschenk, wühlte, erwog er, ob er sich nicht einfach vom Schwiegervater zum Baum des Lebens hinauftragen lassen solle. Der Gedanke hatte etwas Verführerisches, und Konrad fühlte nach soviel Anstrengung und Mühsal den starken Drang, ihm nachzugeben, doch verwarf er den Einfall ebenso schnell, wie er ihm gekommen war. Ahira hatte ihm Hilfe nur für ein einziges Mal angeboten. Würde ihm der zurückhaltende Schwiegervater, von welchem ihm zudem Vladana vorsichtig, doch deutlich genug zu erkennen gegeben hatte, dass er nicht unbedingt der Schwiegersohn seines Herzens sei, weiterhelfen wollen, wenn er, was gewiss war, zusätzliche Hilfe benötigte? Reichte die Macht des Schwiegervaters überhaupt aus, auch so ungewöhnliche, den Bereich von Zauber und gefährlichem Geheimnis berührende Wünsche zu erfüllen? Was, wenn Ahira versagte? Und was half es, den Gipfel des Berges zu erreichen, ohne die gleichzeitige Gewissheit, dort eine Frucht vom Baum des Lebens zu bekommen? Musste er sein Scheitern schon hier unten vor dem Glasberg nicht als ein Warnzeichen werten? Was, wenn er den Widerstand des Baumes nicht zu überwinden vermochte? Und dann, wie gelangte er vom Glasberg wieder hinunter? Wie konnte er die Insel verlassen? Was half ihm die Unsterblichkeit, wenn er hier für ewig gefangen saß? Zu viele offene Fragen. Zu viele Unsicherheiten. Konrad wollte sich nicht mehr darauf einlassen. Sein Sinn stand nach Rückkehr.

Der Kiesel, den Konrad in seinem Reisesack suchte, wollte sich nicht finden lassen. Um die Suche abzukürzen, entleerte er diesen Stück für Stück und stülpte ihn zuguterletzt um. Da lagen Onkel Wodniks Lederschuhe vor ihm, immer noch mit ekelerregenden Ausdünstungen, doch vom Onkel mit dem Ausdruck energischster Entschiedenheit dem Reisegepäck hinzugefügt. Einem Blitz gleich durchzuckte Konrad die Ahnung, mit diesem abstoßenden, unscheinbaren Schuhwerk möglicherweise den Schlüssel zum Gipfel des glattgepanzerten, störrischen Berges zu besitzen. Hastig, mit fiebernden Händen schob er sich die Schuhe über die Füße, band sie, um festen Halt zu bekommen, mit den langen Riemen über die Waden hoch, ein paar kurze Schritte noch, schon setzte er die Sohlen auf das Glas. Die Schuhe hafteten.

Einen halben Tag später war Konrad am Ziel seiner Wünsche. Über die letzten, sich zurücklegenden Abflachungen der glatten Flanke betrat er die ebene Gipfelfläche des Berges. Es war, als trete er von der einen Welt in eine andere. Hatte ihn sein Weg hierher über nackte, im Sonnenlicht gleißende, in den Augen schmerzende Glasflächen geführt, so leitete er ihn mit einemMal in eine üppige Wiese, in den herrlichsten Garten weiter. Blumen und Blüten empfingen den Ankömmling mit einer schier unendlichen Fülle von Farben und Wohlgeruch, erfrischten ihn und richteten ihn auf. Dichtes Gras löste die unerbittliche Härte des Weges über das Glas in federnder Sanftheit ab, die schwindelerregende Tiefe wich einem lieblichen Gemälde. Konrad fühlte sich erquickt; der nach soviel Verzweiflung und Mühe doch noch errungene Erfolg spornte ihn an.

Er brauchte nach dem Baum des Lebens nicht lange Ausschau zu halten. Unübersehbar in der Mitte des Blumen- und Blütenteppichs, patriarchalisch in Größe, Fülle und Wucht der Erscheinung, einem Berg auf dem Berge gleich, überwölbte er das Fußvolk aller anderen auf dem Gipfel angesiedelten Gewächse. Im Näherschreiten konnte Konrad drei Farben unterscheiden, in denen das Kleid des Riesen gewirkt war. Auf dem hellgrünen Untergrund des Blätterwerks war wie auf einem kostbaren Behang eine Unzahl Blüten eingestickt, von der Farbe frischgefallenen Schnees, einem unvergänglichen Weiß. Daneben wie Blutstropfen, wie Kugeln aus Rubin und durchsichtigem Granat, glühten, Ast an Ast, Zweig an Zweig, die apfelgleichen Früchte. Das wechselte ab, Blüte und Frucht, Schnee und Feuer, Milch und Blut.

Das Pflücken eines der Äpfel schien, verglichen mit der Überwindung des Glasberges, eine harmlose Angelegenheit. Zwar strebten die fruchttragenden Äste allesamt himmelwärts, so dass sie sich dem Zugriff entzogen, auch war der Stamm des Baumes viel zu dick, als dass man ihn trotz der groben Rinde hätte erklettern können, doch einer der Zweige wurde durch ein Übermaß an Früchten so herniedergebogen, dass man ihn durch Hochspringen erhaschen können musste. Daran machte sich Konrad.

Doch wer beschreibt seine Verblüffung, als er, in die Höhe schnellend, den greifgünstigen Ast schon in den Fingern wähnend, zum Boden zurückplumpste, ohne auch nur ein Blatt, geschweige denn den Ast oder eine Frucht berührt zu haben. Ein zweites Mal sprang Konrad, höher als zuvor, doch wieder griff er daneben. Wie von einer jähen Windbö weggeschlagen, schwang der Ast vor der zufassenden Hand in die Höhe, und die Absicht des Pflückers ging ins Leere. Das wiederholte sich, Konrad mochte hochspringen, wie er wollte.

Es erwies sich als glücklicher Umstand, dass Konrad, der Gewohnheit seiner kämpferischen Vorsicht folgend, Pfeil und Bogen auf den Glasberg mitgenommen hatte. Den Bogen also von der Schulter geholt, einen Pfeil aus dem Köcher gezogen, auf die Sehne geführt, angelegt - schon kullerte ein Apfel vor Konrads Füßen ins Gras. Doch welch böse Überraschung wiederum! Als ob die äußere Verletzung ihn seiner Kraft beraubt hätte, so lag statt einer lebensfarbigen roten Frucht ein brauner, schwarzer Ball vor ihm, faulig, übelriechend und ungenießbar. Auch der nächste Apfel, oben am Ast noch frisch und in den appetitlichen Farben, verwandelte sich, vom Pfeil versehrt, in ekelerregenden Abfall, noch ehe er den Boden berührte. Den dritten Schuss setzte Konrad überlegter. Nicht mehr die so überaus empfindliche Frucht machte er zum Ziel seines Schützenauges, er lenkte den Pfeil auf den dünnen Stiel, mit welchem der Apfel am Ast gehalten wurde. Und nun, unverletzt, fiel das kostbare Gut unverdorben nieder und lag mit würzigem, angenehmem, frischem Duft in der Hand des glücklichen Pflückers.

Konrad zögerte nicht lange. Ohne Umschweife verspeiste er das kostbare Obst. Eingedenk der ernsten Mahnung Onkel Wodniks, achtete er sorgfältig darauf, dass ihm keiner der vielen schwarzen Kerne, die die Frucht bereithielt, über die Lippen rutschte und aus Versehen gar in seinen Hals geriet. Der Geschmack des Apfels kam ihm bekannt und zugleich unbekannt vor. Es war, als sei von jeder der vielen Speisen, die er in seinem Leben kennengelernt hatte, etwas in dem zarten weißen Fruchtfleisch zu kosten. Gleichzeitig hatte er den Eindruck, noch niemals einen vergleichbaren Geschmack auf seiner Zunge gespürt zu haben. Nach dem Verzehren der Frucht fühlte sich Konrad von einer eigenartigen Kraft durchströmt. Ein Gefühl, als werde sein Inneres mit einer Metallschmelze ausgegossen, als werde es in ewigen, unveränderbaren Granit umgeformt, durchpulste ihn und erfüllte ihn mit der Gewissheit unzerstörbarer Dauer. Gleichzeitig packte ihn ein unwiderstehlicher, kaum bezähmbarer Heißhunger nach weiteren Früchten. Ein mächtiges Bedürfnis nach Fortsetzung des erlesenen Mahles und nach Wiederholung des einmaligen Genusses loderte so heftig in ihm hoch, dass Konrad der übermächtigen Versuchung gewiss erlegen wäre, hätte er sich nicht umgehend, sich an die Mahnungen Onkel Wodniks erinnernd, vom Baum des Lebens abgewandt und den Rückzug angetreten. Die zunehmende Entfernung vom Baum festigte seine Selbstbeherrschung. Beim Abstieg über das steile Glas des Berges hatte er sich ganz in der Gewalt.

Konradsgrün

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