Читать книгу Coltpoker der Gnadenlosen: Western Sammelband 4 Romane - Glenn Stirling - Страница 8

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Die Stadt war wie die Ausgeburt der Hölle, und in ihr gärte das Böse.

Jim war hergekommen, um eine Mörderin zu finden und zu ihrem Richter zu bringen. Denn der Mann, den sie umgebracht hatte, war sein Freund gewesen …

Die Stadt machte den Eindruck eines sprungbereiten Raubtieres. Wild und zottig wie ein halbverhungerter Wolf lag sie vor Jim Short in der Ebene. Umgeben von Morast und durchzogen von einer Straße, die einem grundlosen Sumpf mehr ähnelte als einem Fahrweg.

Jims Grauschimmel versank bis zu den Sprunggelenken im Schlamm. Vor ihm pflügte ein zwölfspänniger Frachtwagen die lehmige Schmiere, eingesunken bis an die Achsen, während die Maultiere mit ihren Hufen den Dreck prügelten, dass die Schlammfladen meterhoch durch die Luft flogen. Jameshorn – so stand auf dem mit tauenden Eiszapfen behangenen Schild vor den ersten

Häusern. Jameshorn, die Eisenbahnstadt, die einen Winter überdauert hatte.

Man sah es ihr an. Die Prunkfassaden der etwa zwanzig Saloons, der an die dreißig Tanzhallen und Spielhäuser, der Bordelle und Coffee Shops – sie alle waren verwittert, vergammelt, gerissen wie brüchiges Leder.

Jameshorn, die Bahnstadt, entstanden über Nacht, um irgendwann in den nächsten Wochen zu verschwinden wie eine aufgestochene Pestbeule. Sie war es wirklich.

Jim hatte einen Blick für diese Dinge. Aber er spürte nicht, dass alles hier noch viel schlimmer war. Schlimmer, weil Jameshorn übervölkert war, weil hier kein richtiges Gesetz existierte.

Casements Arbeiterlegionen wollten schuften, und danach wollten sie tanzen, trinken und lieben. Der ehemalige Heerführer kannte das, und er gab seinen hart schuftenden Männern diesen Zucker nach der Plackerei am Schienenende.

Die Bahnbauer hatten gestern Geld bekommen. Für Jameshorn war es die Spritze, wonach diese Stadt mit ihren Aasgeiern, Dollarhaien und Beutejägern lechzte wie ein Süchtiger auf sein Morphium.

Jim sah sie in Reihen stehen, bemalt, behängt mit schreiend bunten Fähnchen und gackernd wie eine Hühnerschar: die Mädchen dieser Stadt. Nein, keine von ihnen war etwas für den Herd, sagte er sich, und ganz bestimmt wollten sie das auch nicht.

In den Saloontüren lehnten die Profis. Hartbeinige Burschen mit schmalen Händen, lauernden Blicken, schnellen Revolvern. Sie kontrollierten die Mädchen, die Saloons und kassierten bei den ungeschützten Storekeepern ihren „Schutzzoll“. Wer nicht zahlte, dem wurde der Laden demoliert. Es gab sogar Saloons, die an diesen Ring der Coltmänner zu zahlen hatten.

Sie alle warteten auf das Geld, das ihnen zufloss, zufließen würde, weil ihnen nichts sicherer war als das oder eine schnelle Kugel.

Niemand kümmerte sich um Jim. Reiter, die von Westen kamen, gehörten zu Casements Schutztruppe oder zu den Vermessern der Union Pacific. Beide Kategorien verdienten nicht die Hälfte von dem, was ein Planierer, Schwellen- oder Schienenleger pro Woche machte. Nein, die Haie von Jameshorn interessierten sich nicht für Reiter. Casements Mannschaft, die das kostbare Geld trug, kam zu Fuß. Direkt von den beiden Zahlwagen, die neben dem Roundhouse standen, wo Casement – der Leiter des Bahnbaues der Union Pacific – seine Versorgungszüge entladen ließ.

Jim musterte die Reihe der flanierenden Mädchen ohne bestimmtes Interesse. Er erwiderte nichts auf ihre flotten Zurufe, und es störte ihn nicht, dass sie schlimmer als Fuhrknechte fluchten, wenn sie sich von ihm übersehen fühlten. Er wollte nur ein Gesicht sehen, aber keines der Mädchen glich diesem Gesicht von Judy Stevenson.

In den Bergen war Jim in Regengüsse geraten. Jetzt schien zwar die Sonne, aber er sehnte sich doch nach einem Winkel, wo er ein paar Stunden schlafen konnte, trocken und möglichst ungestört. Und der Graue brauchte Futter und ein Nachtlager.

Fast eine halbe Meile reihte sich Saloon an Spielhölle, Speisehaus an Tanzpalast. Dazwischen wenige Handwerkerhäuser, von denen sich das des Tischlers und Totengräbers besonders abhob.

Ein riesiges Schild wies darauf hin, dass dass O'Toole Särge nur nach Maß anfertige, Bestattungen Tag und Nacht vornehmen ließe und ständig in der Lage sei, einen erstklassig predigenden Geistlichen bereitzuhalten. Begräbnisse pauschal von zehn bis fünfhundert Dollar, eigene Prachtgespanne und Totenwagen. Mac O'Toole schien das Monopol zu haben, und wie Jim später feststellen konnte, stimmte es. Vor allem mangelte es ihm in Jameshorn nicht an Kundschaft.

Vergleichsweise primitiv wirkte der lässige Bretterkasten, der direkt neben dem Saloon „Rote Lola“ stand. In diesem grauen, mit Lehm bespritzten Haus wirkten ebenfalls Tag und Nacht zwei Männer abwechselnd. Draußen stand es angeschrieben: „Medizinal-Zentrum von Jameshorn. Dr. Buey und Dr. Robertson, approbierte Chirurgen. Tag und Nacht geöffnetes Hospital. Operationen mit Chloroformbetäubung gegen Aufpreis.“

Als Jim vorbeiritt und auf die „Rote Lola“ zuhielt, sah er gerade durch eines der offenen Fenster, wie einem breitschultrigen Riesen von einem halb so großen Mann im schmutzig-weißen Kittel ein Zahn gezogen wurde. Es sah sich an, als hinge ein Rhesusäffchen am Hals eines Grizzlybären.

Vor der „Roten Lola“ saß Jim ab, sprang direkt auf den glitschigen Brettergehsteig und band eben sein Pferd an, als ein Fuhrwerk mit Galopptempo durch den Schlamm der Straße jagte, um nicht steckenzubleiben. Der Dreck flog Jim stellenweise um die Ohren, und der Graue keilte aufgeregt aus.

Jim fluchte, wischte sich die Fladen vom Gesicht und wollte sich gerade umdrehen, als jemand hinter ihm sagte: „Mister, für fünf Dollar hat Ihr Gaul das beste Futter, das beste Wasser und das beste Stroh von hundert Meilen im Umkreis. Für eine ganze Woche.“

Jim sah über die Schulter zurück und entdeckte einen kleinen Burschen, den er erst für ein Kind hielt, doch gleich darauf bemerkte, dass es ein etwas klein geratener Mann von mindestens dreißig Jahren war.

„Wo ist das?“, fragte Jim.

Der Kleine ging nicht darauf ein. „Für zehn Dollar, Mister, besorge ich Ihnen eine Tänzerin für heute Abend, die schöner ist als alle Frauen der Welt.“

„Mir genügt das mit dem Pferd, aber ich komme mit.“

Der Kleine grinste. „Pferde mit dem Union-Brand werden hier nicht gestohlen. Casement hängt alle auf, die damit zu tun haben.“

„Gut, dann hau ab! Wohin bringst du den Grauen?“

„Hundert Yards von hier, dort vorn rechts. Das ist der Stall von diesem Saloon.“

Jim nickte. „Ich gebe dir das Geld, wenn ich gesehen habe, wo mein Grauer steht, was er frisst und säuft.– Schieb los!“

Der Kleine band den Grauen ab, nahm den Zügel und führte ihn vom Gehsteig aus auf den Stall zu.

Jim wollte noch einen Blick auf den Saloon werfen, als rechts von ihm, etwa fünfzig Schritte entfernt, etwas geschah, das ihn jäh einhalten ließ.

Dort lehnte vor der Pendeltür des Saloons „Red Eye“ ein kleiner, krummbeiniger Revolvermann, dessen Ledergesicht und dessen eiskalte Augen noch mehr über seinen Charakter und seinen Job aussagten, als das die beiden blitzblanken Revolver tun mochten, die griffbereit an seinen Schenkeln hingen.

Genau auf diesen Mann kamen jetzt zwei bullige Männer zu, die aber der Kleidung nach offenbar keine Bahnbauer zu sein schienen. Sie muteten wie Siedler an. Wie Jim schon vorhin von der Höhe aus gesehen hatte, standen an die zweihundert Planwagen am anderen Ende der Stadt. Siedler vielleicht, die den Winter über hier in Jameshorn auf freie Passwege gewartet hatten.

Die beiden Hünen blieben abrupt vor dem viel kleineren Coltmann stehen. Der eine der beiden Muskelmänner hatte ein halb verrostetes Lee-Enfield-Gewehr in seiner linken Pranke. Der andere schien waffenlos zu sein.

„Wo ist Nana?“, brüllte der mit dem Gewehr. „Verfluchter Pinscher, wo ist unsere Schwester?“

Der Kleine sagte etwas, das Jim nicht verstand, aber es musste die beiden Brüder wohl sehr gereizt haben. Plötzlich holte der Unbewaffnete mit der Faust aus. Jim war es klar, dass schon der erste Schlag den kleinen Coltschwinger zum Pfannkuchen verwandeln würde. Aber das wusste der wohl selbst. Plötzlich zuckten die schmalen Hände des Revolvermannes nach unten, die Colts flogen ihm förmlich in die Finger, und der bullige Schläger erstarrte mit erhobener Faust wie gelähmt.

Sein Bruder schrie, dass es über die Straße dröhnte: „Steck die Dinger weg, du Ratte! Steck sie weg, denn du wirst nur einmal schießen, dann zermalme ich dich zwischen den Fingern!“

Indessen reckte die Kette der flanierenden Mädchen die Köpfe. Einige flatterten wie aufgescheuchte Hühner unter Quietschlauten in die nächstbesten Eingänge. Aus den Saloons tauchten nun in drohender Haltung ein paar schwerbewaffnete Killer auf, die wohl meinten, ihrem Kollegen, jenem Coltmann vor dem „Red Eye“, zu Hilfe kommen zu müssen.

Jim war es klar, dass die beiden Hühner gleich in eine handfeste Sache verwickelt werden würden, in der sie nicht den Schatten einer Chance hatten.

Die Gesetze dieser transportablen Bahnstädte waren Jim klar. Es hatte sich da auch in Jameshorn nichts geändert. An Bahnleute wagten sich die Berufskiller nicht heran. Wenn da einer Spektakel machte, wurde die Schutztruppe von Casement alarmiert. Seit Julesburg und Bear River City war das so.

Aber diese beiden Riesen waren keine Bahnleute. Da mengte sich nicht einmal Casements Faust und Prügeltruppe ein. Die dollargierigen Revolvermänner wussten das.

Ohne dass er eigentlich darüber nachdachte, ging Jim näher an die Gruppe heran, und mit ihm näherten sich auch die Revolverschwinger. Sie waren in Grunde alle wie dieser drahtige Bursche mit dem Ledergesicht. Was sie unterschied, machte nur Äußerlichkeiten aus.

„Du hast Nana verführt“, schrie der mit dem Gewehr.

„Sie ist gekommen, weil sie aus eurem Dreck wollte, weil sie leben wollte wie ein Mensch!“, brüllte der Revolvermann zurück. Er sah nicht aus, als errege ihn das wirklich. Jims Meinung nach brüllte er nur so, damit auch alle und jeder hören konnten, wie unschuldig er war.

„Du hast sie verführt, du Groschenjunge!“, polterte der andere Mann. Und er erhob erneut die Faust, als werde er jeden Augenblick zuschlagen.

Der Ring der Revolvermänner schloss sich. Zwei riskierten es sogar, sich bis zu den Knien mit Straßenschlamm zu beschmutzen. Sie standen mitten auf der Fahrbahn, die Hände dicht über den Revolvergriffen.

„Schert euch weg, ihr beiden Kläffer!“, rief jetzt ein dürrer Coltmann von der gegenüberliegenden Straßenseite, „‘raus mit euch aus der Stadt! Los, wir sagen so etwas nicht zweimal!“

Die beiden drehten sich um. Darauf schien der ledergesichtige Killer vor dem „Red Eye“ gewartet zu haben. Er holte plötzlich mit beiden Colts aus und schlug damit auf die Köpfe der beiden Hünen, die von solch hinterhältigem Angriff überrascht wurden. Aber sie gingen nicht zu Boden, sondern fuhren herum. Der mit dem Gewehr ließ seine Waffe fallen, erwischte den Revolvermann, bevor der seine Colts wieder im Anschlag hatte, riss ihn an der Schulter hoch und wirbelte ihn in die Luft. Es ging so schnell, dass überhaupt niemand imstande zu sein schien, einzugreifen. Der Revolvermann flog wie vom Katapult geschleudert plötzlich über die Fahrbahn und landete dicht neben seinen beiden Kollegen mit einem lauten Klatsch im Morast.

In diesem Augenblick sah Jim, wie einer der Männer gegenüber seinen Revolver hochriss. Was er vorhatte, war sonnenklar.

Jims Rechte zuckte zum Revolver und schoss.

Drüben machte der lange Revolvermann einen Satz, und feuerte ungezielt seine Waffe ab. Der Schuss fegte ins Dach des „Red Eye“.

Jims Kugel aber hatte den Gehsteig vor dem Langen aufgemeißelt. Mehr war nicht passiert, doch der Lange begriff.

„Wolltest du auf Unbewaffnete schießen?“, rief Jim hinüber.

Mit einem Male waren die beiden Hünen für die Revolvergarde vergessen. Aller Augen wandten sich Jim zu.

Er stand nicht schlecht, wie er sich insgeheim sagte. Hinter sich hatte er die Hauswand des „Red Eye“, links die beiden Hünen, und rechts bislang noch keinen der Revolvergarde. Sie waren alle hinter den beiden Brüdern und drüben auf der anderen Straßenseite oder eben mitten auf der Straße.

Sie standen wie gebannt und schauten ihn nur an. Ihre wie gelähmt erscheinende Haltung schien sich auf die halbe Stadt zu übertragen. Plötzlich war es ringsum still. Reiter, die auf der Straße weiter wollten, hielten nun etwas entfernt an. Wagen blieben stehen, obgleich es nicht sicher war, ob sie dann überhaupt wieder wegkommen würden.

Der einzige, der sich im Umkreis von hundert Yards bewegte, war der auf die Straße katapultierte Revolvermann, der sich ächzend und spuckend aus dem Schlamm zog.

Jim wartete darauf, dass sie loslegten. Sie würden keine Worte machen. Ihr Rezept lautete ganz einfach: Ein schneller Schuss! Irgendeiner dieser sechs Burschen würde plötzlich schießen.

Jim fragte sich, während er sie mit lauerndem Blick beobachtete, welcher Mann zu einem schnellen Schuss bereit war, wer von ihnen dafür am günstigsten stand.

Ihre Pokergesichter verrieten es nicht.

Weit weg kläfften Hunde, zeterte eine Frauenstimme. Doch hier war es jetzt still wie in einer Gruft. Sogar der in den Dreck geworfene Revolvermann stand, von oben bis unten mit Lehm beschmiert, ganz ruhig.

In jeder anderen als einer Bahnstadt hatte es mit einem Wortgefecht begonnen. Beleidigungen, Beschimpfungen wären die Einleitung gewesen. Hier aber war es anders. Keiner war darauf aus,

sich mit ihm zu messen. Sie wollten ihn töten. Er hatte in ihre Aktion eingegriffen, hatte ihr eigenes Gesetz für den Ring der Revolverschwinger von Jameshorn gebrochen. Jetzt musste er sterben. Hier auf der offenen Straße würde das geschehen. Kein Sheriff, kein Marshal konnte eingreifen, weil es keinen gab. Die Schutztruppe von Casement interessierte sich nur dafür, wenn einer ihrer Bahnbauer darin verwickelt war. In allen anderen Fällen waren das Syndikat der Saloonbesitzer, Tanzhalleneigentümer – und der Ring der Revolvermänner das Gesetz.

Die beiden großen Brüder wichen jetzt bis zur Saloonwand zurück. Jim sah nach links an ihnen vorbei, und dort flog jetzt ein Revolver aus dem Halfter. Durch das Zurücktreten der Brüder hatte ein Mann auf dem Gehsteig freies Schussfeld. Und dieser hellblonde Bursche wusste das zu nutzen.

Jim war müde, und Hunger hatte er auch. Doch das schien jetzt mit einem Male vergessen. Es ging ums nackte Leben.

Mit einem Satz sprang Jim vor bis zum zersplitterten Haltebalken, warf sich auf die schmierigen Bohlen, und im Fallen schoss er.

Fast gleichzeitig feuerten die Gegner aus vier Revolvern. Der Mann auf dem Gehsteig, dieser Blonde, schoss ebenfalls, aber Jims Schuss riss ihn zurück, der eigene Schuss verfehlte Jim weit, und auch die anderen Kugeln klatschten an jener Stelle in die Wand, wo Jim gestanden hatte.

Der Blonde brach zusammen und schrie dabei wie ein Tier.

Jims zweiter Schuss riss einen der beiden Männer auf der Fahrbahn in den Schlamm. Eine dritte Kugel schickte er hinüber zu diesem Langen, aber er verfehlte ihn.

Jim sprang auf, warf sich wieder hin, schoss, und um ihn prasselten die Schüsse seiner Gegner in die Gehsteigbohlen. Jim kam es selbst wie ein Wunder vor, dass er noch unverletzt war.

Dicht neben ihm knallte plötzlich ein Schuss wie von einer Kanone abgefeuert. Drüben wurde der Lange gegen die Hauswand geschleudert, wo er zusammenbrach und verkrümmt liegenblieb.

Jim schoss zweimal, rollte sich vom Gehsteig in den Morast der Straße und machte einen Sprung unter den Gehsteig, um Deckung zu haben.

In diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes. Eine Bassstimme, die klang, als käme sie aus einem Tunnel, röhrte über die Straße hinweg: „Ihr lästerliche Bande, ich habe euch vor meinem Rohr. Ihr Söhne des Teufels habt die Stirn, einen einzelnen Mann wie ein Stück Wild abzuknallen! Der Vorschlaghammer Gottes wird euch strafen!“ Dann krachte wieder ein kanonenähnlicher Schuss, dessen Knall ohrenbetäubend von den Häuserwänden zurückschallte.

„Der Reverend!“, schrie jemand.

Ein Verletzter brüllte.

Jim nutzte die Pause, um in jede Trommel drei frische Patronen zu stecken, dann sah er ein Ziel, die Schulter eines Revolvermannes, hinter einem Haltepfosten für die Pferde. Er schoss, und drüben gellte ein Schrei, dann rutschte ein Mann langsam am Pfosten herab in den Morast der Straße.

„Schluss! Schert euch zum Teufel, ihr Bande!“, brüllte die Bassstimme wieder.

Jim wusste nicht, wo dieser Mann mit der Sharps stand, aber er konnte nur zwischen den beiden Saloons sein, dem „Red Eye“ und der „Roten Lola“.

Drüben schnellte der Lange aus seiner Deckung hoch und schoss. Jim hörte es dicht vor sich ins Holz einschlagen, dann feuerte er selbst, aber der Lange war schon wieder in Deckung.

Jim lauerte darauf, dass dieser Revolvermann noch einmal hinter dem Pfosten drüben auftauchen würde. Dann sah er ihn und schoss sofort. Doch gleichzeitig brüllte die Sharps wieder auf, dass es Jim fast das Trommelfell zerriss. Der Lange drüben richtete sich nun ganz auf, stand wie starr und hob ganz langsam beide Hände an die Brust. Er ließ dabei seinen Revolver fallen, griff sich unter den Hals, dann sackte er mit dem Ausdruck des Entsetzens im Gesicht zusammen.

Plötzlich schwiegen die Waffen, und unweit von Jim röhrte diese eigenartige Bassstimme wieder: „Ich habe noch zwei von euch wunderbar im Blickfeld. Ihr habt noch drei Sekunden Zeit, abzuschnallen und wieder in euren Lasterhöhlen zu verschwinden. Eins – zwei …“

Für Jim war es wie ein Wunder, das er einfach noch nicht erlebt hatte. Überall kamen die Revolvermänner aus den Deckungen. Indessen waren es nicht weniger als acht Mann, die Jim jetzt sah. Und sie schnallten ab. Mit hassverzerrten Gesichtern gehorchten sie dem Mann mit der Sharps und gingen waffenlos wie auf ein geheimes Kommando hin in den gegenüberliegenden „Spanish Flower Saloon“. Zwei von ihnen schleppten den noch immer wimmernden Blonden mit, der einen Bauchschuss abbekommen hatte. Sie trugen ihn über die Straße.

Das war auch das Signal für zwei Männer in weißen Kitteln, die aus dem Medizinal-Zentrum stürmten. Der eine, ein großer Mann mit schmalen Schultern, lief den beiden Revolvermännern

entgegen, die den Blonden trugen, der immer wieder von Schmerzen gepeinigt aufschrie. Der andere, klein und behände wie ein Wiesel, lief hinüber zu dem langen Revolvermann, den Jim von seinem Platz aus jedoch nicht erkennen konnte. Er sah nur, wie sich der kleine Mann hinabbeugte, hörte, wie einer der Revolvermänner von der Tür des „Spanish Flower“ Salons rief: „Wenn Pat tot ist, Doktor, sagen Sie es nur gleich!“

Der kleine Doktor tauchte nach einer Weile wieder hinter den Pfosten auf und sagte: „Holt die Bahre im Hospital! Schnell, er lebt noch!“

Jim stand auf und sah sich um. Nun erst entdeckte er auf dem Dach des Anbaues vom „Red Eye“ Saloon einen Mann, der sich gerade aufrichtete und seine langläufige Sharps wie einen Spazierstock benutzte, um sich aufzustützen, in den gewaltigen Pranken dieses Hünen wirkte das schwere Gewehr winzig und zerbrechlich.

Nun stand dieser Mensch in seiner vollen Größe auf dem Dach, sah drohend und voller Zorn auf alles unter sich hinab und sprang dann mit einem geschmeidigen Satz auf den Gehsteig. Die Bohlen krachten, und sogar die Wand des aus Holz gebauten Saloons zitterte unter der Wucht dieses Schwergewichts. Aber dieser gewichtige Mann hatte dennoch federnd aufgesetzt und trat nun auf Jim zu.

Es war für Jim ein kurioser Anblick, diesen massigen Kopf, die klobige, wie geschnitzt wirkende Gestalt zu sehen. In dem breiten Gesicht saß die Nase rot und unförmig, einem Fremdkörper gleich, die buschigen, tiefschwarzen Augenbrauen gaben dem großporigen Antlitz etwas Uriges, Wildes. Ein buschiger Bart, in dem der Mund des Mannes wie eine Wunde klaffte, verstärkte diesen Eindruck.

„Ich bin Reverend Guiness“, sagte der Riese. „Und wer, mein Sohn, bist du?“

Jim musste zu diesem Ungetüm von Menschen aufsehen. Guiness war mindestens einen Kopf größer als er selbst und bestimmt noch mal so breit. Jim konnte sich nicht erinnern, je im Leben einen Mann gesehen zu haben, der ihn so sehr an einen Sagenriesen erinnerte wie dieser Reverend.

Jim nannte seinen Namen, aber er sprach nicht sehr laut dabei, denn ringsumher waren schon wieder die Mädchen wie Hühner auf der Stange in die lange Reihe getreten. Andere Schaulustige gesellten sich dazu.

„Du bist hier fremd?“, fragte der Reverend, und er sprach so laut, dass man es bestimmt in fünfzig Schritt Entfernung genauestens verstand. Die Zuschauer reckten die Hälse.

„Nicht ganz“, sagte Jim lächelnd. „Jetzt bestimmt nicht mehr.“

Über das knollige Gesicht des Hünen huschte ein Grienen. Aus den kleinen blauen Augen blitzte es Jim entgegen, und der schwarzgekleidete Reverend sagte mit gedämpfter Stimme, doch noch laut genug, um einen grasenden Büffel zur erschrecken: „Ich halte in zwei Stunden einen Gottesdienst drüben im „Spanish Flower“ Saloon. Komm hin, mein Sohn, es wird dich erbauen !“ Sprach‘s und nickte Jim wohlwollend zu, schulterte die schwere Sharps und stampfte mit der Grazie eines Wagenpferdes den Gehsteig entlang in Richtung Bahnstation.

Nachdenklich schaute Jim dem schwergewichtigen Mann nach, dem alle respektvoll Platz machten, auch die Rausschmeißer, die eben noch sehr herausfordernd vor den Türen und Pforten der Saloons und Spiellokale gestanden hatten. Sie kuschten vor dem Geistlichen wie junge Hunde vor einem strengen Herrn.

Jim wollte nun endlich in die „Rote Lola“ gehen, aber er warf noch einen prüfenden Blick auf seine Umgebung. Es wirkte ringsum alles so, als sei nie etwas passiert, als hätten nicht eben noch die Schüsse die Luft zerrissen, als sei kein Blut geflossen. Die Mädchen, die Rausschmeißer, die Passanten, ein paar Bahner, die schon dienstfrei hatten – alles erschien wie in tiefstem Frieden. Die meisten beobachteten Jim, doch sie gaben sich mehr oder weniger Mühe, es nicht zu auffällig zu machen.

Der Reverend verschwand weiter hinten in einem der Arbeiterhäuser. Als die Tür hinter ihm zuschlug, schienen sämtliche Leute auf der Straße, Jim ausgenommen, aufzuatmen.

„Hallo, Mister!“, rief plötzlich eine Stimme rechts von Jim. Er sah sich um und entdeckte einen großen schlanken Mann im eleganten Prince-Albert-Rock, mit einer schwarzen Zigarre im Mund, die aber offenbar gar nicht brannte.

Im ersten Augenblick hielt Jim ihn für einen Spieler. Doch als dieser Mann näher kam, änderte Jim seine Meinung. Dieser etwa dreißigjährige, gut aussehende Schwarzhaarige hatte etwas von einer gewissen Härte im Gesichtsausdruck, die Jim kannte. Er kannte sie von einer Reihe erfolgreicher Unternehmer bei Bahn, Viehzucht und anderen Geschäften. Dieser Mensch da war bestimmt kein Spielertyp, der wusste haargenau, was er wollte, und ging keine Umwege.

„Auf einen Augenblick, Mister“, sagte er zu Jim und tippte an die Krempe seines eleganten grauen Louisiana-Hutes. Und nicht nur der Hut erinnerte an den eleganten Süden. Dieser Mann hatte eine tief gebräunte Haut, das scharf geschnittene Gesicht jener Kreolen vom Mississippidelta. Nach Jims Meinung war dieser Bursche haargenau der Typ, um Frauen verrückt zu machen.

Er blieb vor Jim stehen, lächelte ihm mit einer Nonchalance zu, die entwaffnend wirkte, aber Jim unterschätzte die Situation nicht, ebenso wenig wie den Mann selbst.

„Ich bin Rick Debré, ich möchte mit Ihnen reden, Mister …“

„Short – Jim Short.“

„Aha, ein Grund mehr, mit Ihnen zu reden, Mister Short. Ihr Name ist Musik in meinen Ohren. – Dort vorn, der gelbe Bau, das ist mein Büro. Ich lade Sie ein, Mister Short.“

„Ich habe etwas anderes vor, Mister Debré.“ Jim wandte sich halb um, als wolle er gehen.

„Ich würde diese Unterhaltung nicht ausschlagen, Mister Short“, sagte Debré mit einem scharfen Unterton in der Stimme, der von seinem freundlichen Gesicht nicht gemildert wurde. „Ich würde es bestimmt nicht tun!“ Das klang noch deutlicher in Jims Ohren.

„Glauben Sie wirklich?“, fragte Jim gelassen.

Debré nickte. „Ja, ich glaube das bestimmt.“ Er lachte wieder und fuhr einlenkend fort: „Wenn es allerdings wegen meines Büros ist … Wir können selbstredend auch irgendwo anders miteinander sprechen.“

Jim nickte. „Ja, am besten da!“ Er deutete auf die „Rote Lola“. Dabei beobachtete er Debrés Gesicht, doch das verriet nichts.

„Gut, also in der Lola. Er gehört einer Frau, die ich sehr schätze.“ Er lächelte ironisch und meinte bedauernd: „Leider ist sie eine sehr ausgeprägte Persönlichkeit, mit der nicht immer gut Kirschen essen ist.“

Er ging Jim voraus, und als sie vor dem Saloon standen, grüßten die beiden bulligen Rausschmeißer, und einer von ihnen sagte devot: „Schön, Sir, dass Sie uns wieder einmal beehren …“ Dabei drückte er die Pendeltür für Debré auf. Sein Lächeln fror jedoch ein, als Debré über die Schulter hinweg Jim zurief: „Wir haben Glück, Mister Short, es ist noch nicht viel Betrieb.“

Der bullige Türmann sah Jim aus weit aufgerissenen Augen an und stöhnte: „Sie sind Short?“

„Schon seit meiner Geburt.“ Jim ging weiter, ohne sich um die verblüfften Gesichter der beiden Türsteher zu kümmern.

Der Saloon war geräumig, aber wie die meisten überladen mit grellfarbenen Vorhängen, einer Unzahl von Bildern mit nackten Mädchen an den Wänden, Flitterwerk, das wie Christbaumschmuck von der Decke hing, und linker Hand von einer Kupferplattentheke geziert, die in diesem Flimmerzauber wie ein riesiges Instrument wirkte, aus dem jeden Augenblick Töne kommen müssten.

Jim erfasste das alles mit einem Blick, dann konzentrierte er sich auf die Gesichter der Männer. Ihm fiel auf, wie sie alle zuerst auf Debré sahen, kaum merklich zusammenzuckten und dann wie gemaßregelte Kinder im Sprechen abbrachen und so taten, als sei nichts geschehen.

Debré schien das alles gar nicht zu bemerken. Als sei er allein hier, rief er Jim zu: „Da drüben der Tisch in der Ecke, ist der Ihnen recht?“

„Schon recht“, brummte Jim.

Sie ließen sich an dem Ecktisch nieder, Debré wischte mit einer Handbewegung die schmuddelige rote Tischdecke hinunter und brannte nun endlich seine Zigarre an.

Einen Augenblick lang schweifte sein Blick über die Szenerie des Raumes, dann wandte er sich Jim zu. „Ich glaube, wir sollten unser Zusammentreffen begießen. Es ist wirklich ein guter Anlass.“

Einer der beiden Keeper tauchte auf, wedelte mit seiner nicht ganz sauberen Serviette und dienerte beflissen, als Debré ihn ansah.

„Bring den Bourbon, Eddy, aber vergiss nicht, dass ich es bin, der ihn bestellt hat!“

„Gewiss, Sir, den Bourbon“, schnarrte Eddy und wieselte wieder zur Theke zurück.

„Man scheint Sie sehr zu schätzen, Mister Debré“, stellte Jim fest.

Debré lächelte. „Angst, nichts als Angst. Sie zahlen an mich ihre Steuern. Alle hier zahlen an mich. Das ist mein Geschäft, Mister Short. Ich würde Sie gerne in meine Gesellschaft aufnehmen, ihr Name ist bekannt. Ihre Arbeit für die Bahn und das, was Sie sonst noch geleistet haben, sind auch in dieser Stadt ein Begriff, Mister Short. Ich brauche immer solche Leute. Sie und Ihren Bruder …“

„Welchen?“, fragte Jim lakonisch. „Wenn Sie zwei Dutzend Brüder Ihres Schlages haben sollten, sind sie alle willkommen“, versetzte Debré schlagfertig. „Aber nur an Sie würde ich fünfzig Prozent der Prämien abgeben, nur an Sie, Mister Short.“

Der Keeper brachte die Flasche mit dem Bourbon Whisky. „Es ist uns eine Ehre, Sir“, sagte er untertänig und entfernte sich hastig, als Debré ihn spöttisch ansah.

„Jetzt zahlen sie ja anstandslos, aber erst hat dieser Laden hier Späne machen wollen.“ Debré lachte und schenkte Jim und sich ein. „Die Frau, diese schlaue Dame, glaubte erst, es gehe auch ohne Tribut. Aber nun hat sie es inzwischen eingesehen, nachdem sie drei ihrer Coltschwinger verlieren musste – durch ihren Starrsinn verloren hat. Sie verstehen?“

„Ich beginne zu begreifen. Sie übernehmen also den Schutz der verschiedenen Etablissements, dafür kassieren Sie Prämien.“

„Ich sehe, Sie kennen sich aus.“

„Und wer ist die Frau, der dieser Laden gehört?“

„Sie nennt sich Lily Dollar. Hm, ich kenne ungefähr zwanzig Mädchen dieser Kategorie, die sich alle so nennen. Nun, mag sie früher sonst wie geheißen haben, jetzt ist sie eben Lily. Übrigens eine Frau von Format. Etwas später wird sie selbst in den Laden kommen. Schade nur, dass sie ein Herz aus absolutem Eis hat. Mich reizt das übrigens. Sie nicht?“

„Ich weiß nicht. Erst müsste ich sie sehen.“

„Wollen wir sofort in Angriff nehmen.“ Debré hob den Kopf und winkte dem Keeper, der wieder seinen Platz hinter dem Tresen eingenommen hatte. „Eddy! Ich habe etwas mit Miss Lily zu besprechen. Sag ihr das!“

Eddy, der rundliche Keeper, machte sich sofort auf den Weg. Er flitzte die Treppe hinauf, während der standbildartige Revolvermann, der am Fuß der Treppe seine Zeit abriss, interessiert zu Debré und Jim herüberblickte.

Gespannt sah Jim zur Treppe hin. Auch Debré schien nicht ganz uninteressiert zu sein. Er blickte ebenfalls zum oberen Teil der Treppe und sagte:

„In dieser Stadt gibt es keine schönere Frau als Miss Lily. Aber auch keine, die kaltblütiger ist als sie.“ Er sah Jim an und fuhr leiser fort: „Sie sind in die Stadt gekommen, Mister Short, haben sich mit einem ganzen Rudel von Wölfen herumgeschlagen, und vielleicht säßen Sie ohne den Reverend gar nicht hier.“

„O doch!“, sagte Jim überzeugt. „So scharf waren die Wölfe gar nicht. Gehörten die in Ihren Zwinger?“

„Nein, es sind die kleinen Burschen, die die Saloons sich halten, aber sie tun es mit meiner Genehmigung. Keiner der Jungs bekommt den Job, wenn ich das nicht will.“

Jim hatte nicht vergessen, weshalb er hier war. „Wie lange hat diese Lily Dollar den Saloon schon?“

Debré lachte. „Für hiesige Verhältnisse eine Ewigkeit – ungefähr zwei Wochen.“

„Gekauft?“

„Lily Dollar und kaufen? Ein Pokerspiel, Mister Short. Harter Poker. Ja, sie kann das auch. Sie kann sogar schießen, behauptet Ridgeway, ihr Vormann.“

„Vormann?“

Debré nickte. „Sie hat vier Coltschwinger und drei Rausschmeißer. Drei der Revolvermänner sind nichts als feige Killer und Zuhälter. Ridgeway allerdings hat wirklich Format. Ich wollte ihn herauskaufen, aber er will nicht. Ich wette, er ist ihr hörig. Eine ganze Menge Leute lässt sich von ihr um den Finger wickeln.“

Jim sah ihn fragend an. „Und Sie?“

Debré lächelte. „Ich glaube, das ist vorüber.“ Er sah an Jim vorbei zur Treppe hin. „Da kommt sie!“

Jim drehte sich langsam «m.

Sie kam die Treppe herab wie eine Herrscherin. Das rote Haar krönte ihn Kopf. Eine grün gefärbte Locke gab dieser Haarpracht ein exotisches Aussehen. Und sie war schön! Das schmale Gesicht, diese rassige Nase, die hellgrauen Augen, dieser lockende Mund. Eine viel hässlichere Frau hätte in dieser Gegend Chancen gehabt. Für so ein Gesicht und so einen herrlichen Körper, den das eng anliegende Brokatkleid sehr deutlich erahnen ließ, ließen sich hierzulande Männer umbringen oder wurden zu Mördern. Jim hatte Judy Stevensons Chancen da nie unterschätzt. Ja, diese Frau dort war Judy Stevenson. Jim zweifelte keine Sekunde lang daran. Judy Stevenson, ein engelsgleiches Weib, schön wie die Sünde – und sie hatte O'Hagan ermordet, ließ Jubal Badger ausrauben, und von Jubal wusste Jim ja, wo Judy steckte.

In diesem Augenblick sah und erkannte sie Jim. Er bemerkte deutlich wie sie erschrak, wie ihr Schritt stocke und ihr ohnehin blass gepudertes Gesicht noch mehr erbleichte. Sie blieb jäh stehen, und jener wie ein Dandy gekleidete Mann an ihrer Seite blickte sie überrascht an, dann sah er in ihre Blickrichtung und bemerkte Jim. Aber Jim schien ihm so fremd zu sein, wie er selbst für Jim Short ein völlig neues Gesicht bot.

Plötzlich drehte sich Lily Dollar alias Judy Stevenson um. Für Jim gab es keinen Zweifel mehr: sie war Judy Stevenson. Absolut dieselbe Person.

Sie raffte ihr Kleid, blickte noch einmal über die Schulter zurück auf Jim und machte dabei ein Gesicht, als sähe sie den Teufel. Wie von Furien gehetzt hastete sie die Stufen wieder empor, und der Mann, der mit ihr heruntergekommen war, sah ihr verblüfft nach, aber endlich begriff er und folgte ihr.

Der Revolvermann unten am Fuß der Treppe sah fassungslos hinter Lily her, während der Keeper zu Jim hinblickte und dabei nickte, als habe er nun alles verstanden.

Debré wandte sich Jim zu und fragte unter dem Eindruck des Gesehenen: „Was haben Sie ihr getan, dass sie so reagiert?“

„Noch nichts, Mister Debré, noch gar nichts. Aber sie ahnt wohl, warum ich gekommen bin.“

Debré sah ihn verwundert an. „Tragen Sie einen Stern in der Tasche?“

„Nein. Aber ich werde Lily zu dem Mann bringen, der so einen Stern trägt, auf der Brust, Mister, nicht in der Tasche. In Green River City sind jetzt solide Verhältnisse. Ich denke schon, dass Judy Stevenson alias Lily Dollar dort die richtigen Geschworenen findet.“

Debré beugte sich vor. „Mister Short, Sie sind hier in Jameshorn, nicht in Green River City. Ich bin ein Freund von Miss Lily – ein guter Freund! Das sollte Ihnen eine Menge sagen.“

Jim musterte ihn; scheinbar ausdruckslos blickte er auf diesen eleganten Debré, der aussah wie ein spanischer Grande. „Es sagt mir nichts, Mister Debré. Gar nichts. Die Gesetze mögen hier anders sein, aber ein Mörder bleibt auch in Jameshorn ein Mörder und wird entsprechend bestraft.“

„Wer sagt, dass sie es wirklich …“

Jim lachte rau. „Ich bin noch nie einem vagen Verdacht nachgeritten.“

Debré lehnte sich zurück und betrachtete Jim aus schmalen Augen. „Short, der Mann neben Miss Lily eben, das war Ridgeway. Sagt Ihnen das etwas?“

„Ich habe von ihm gehört, aber nichts Schlechtes. Er soll ein fairer, wenn auch harter Bursche sein, und das klingt gut.“

Debré nickte. „Ja, stimmt. Aber er ist verrückt nach Lily. Meine Gefühle in dieser Beziehung sind das reinste Eiswasser dagegen. Verstehen Sie jetzt?“

„Ich kannte einen Cowboy, Mister Debré, der war verrückt auf Aprikosen. Er redete zwischen San Antonio und Houston von nichts anderem. Aprikosen in Dosen. Irgendwo hatte er davon gehört. Und dann bekam er eine solche Dose, als sie in Houston waren. Eine Dose mit eingemachten Aprikosen. – Wissen Sie, Debré, wie es war? Er spielte verrückt, bis die Dose offen war und bis er begriff, dass auf dem Schild der Dose viel schönere Aprikosen aufgedruckt waren, als wirklich in der Dose lagen. So wird es Ridgeway mit Judy Stevenson gehen. Wenn er sie richtig kennt, schmeißt er sie in den Fluss, wie das der Cowboy mit der Dose getan hat.“

„Short, ich könnte einen Mann wie Sie gut brauchen. Aber Sie spielen ja fortwährend mit geriebenem Schwarzpulver.“ Debré lächelte nicht, als er das sagte. „Kümmern Sie sich einen Dreck um die Frau, kommen Sie stattdessen zu mir … Was ich Ihnen zahle, bekommen Sie nirgendwo zwischen der Sierra Nevada und dem Atlantik.“

„Und wie viel Menschen soll ich dafür erschießen?“, fragte Jim spöttisch.

Debré verzog keine Miene. „Wir sind keine Mörder. Wir wollen verdienen – jeder, der für zehn Cents Hirn im Schädel hat, will das. Es gibt haufenweise Dumme, die unbedingt ihr Geld loswerden wollen.“

Jim stand auf und nickte Debré zu. „Ich werde jetzt doch ein paar Worte mit Judy Stevenson reden, Debré.“

„Versuchen Sie‘s“, erwiderte Debré gelassen. Er lächelte und blickte an Jim vorbei auf zwei stämmige Burschen, die sich langsam durch die Tischreihen schoben und genau auf Jim zuhielten.

Jim sah sie kommen, blickte kurz auf Debré und sagte: „Ist das Ihr Aufgebot?“

„Sehe ich aus wie ein Anfänger?“, konterte Debré ironisch.

„Eigentlich nicht, aber ich musste mich vergewissern.“

Die beiden sahen aus wie ehemalige Schwellenleger. Vielleicht waren sie das früher gewesen. Jim mochte da keine langen Überlegungen anstellen. Auf alle Fälle hatten die beiden im Augenblick einen anderen Job.

Mit aufgerollten Hemdsärmeln, die muskulösen Arme wie Pendel schlenkernd, so kamen sie heran. Beide waren jung, beide trugen in ihren Gesichtern die Zeichen häufiger Faustkämpfe. Ihre Nasen wirkten unförmig, ihre Brauen wulstig und vernarbt. Sie machten grimmige Gesichter, die ein Greenhorn das Fürchten gelehrt hätten.

Im Saloon starrte das Dutzend der Gäste auf die beiden und auf Jim. Auch Debré schien mit der Spannung eines Zuschauers abzuwarten, was geschehen sollte.

Die beiden blieben zwei Schritte vor Jim stehen. Auch jetzt war es wie vorhin auf der Straße. Nur mit dem Unterschied, dass diese beiden Schläger unbewaffnet waren. Sicher nicht ohne Absicht. Sie hielten keine Ansprachen, reizten nicht, wie das sonst in solchen Fällen geschah. Sie standen nur da, sahen Jim lauernd an, und plötzlich stieß der Blonde seinen bulligen Partner an und sagte: „Los, Kanab!“

Kanab nickte, und mit einem Male verwandelte sich dieser schwere Mann in eine Furie. Er sprang auf Jim zu. Gleichzeitig machte der Blonde einen Satz an Jim vorbei, um ihm offenbar in die Flanke zu kommen.

Jim wusste, dass sie jetzt damit rechneten, er würde ausweichen. Aber den Gefallen wollte er ihnen nicht tun. Als Kanab sprang, warf sich Jim ihm entgegen, wischte wie mit einem Windmühlenflügel die vorgestreckten Fäuste Kanabs beiseite, riss sein Knie hoch und rammte es Kanab in den Unterleib.

Kanab schrie auf, wurde herumgerissen, und dann packte Jim ihn an den Schultern, schleuderte ihn dem Blonden entgegen. Der Blonde wich aus, und Kanab flog haltlos bis an einen der Tische, krachte mit voller Wucht mit dem Rücken dagegen und brach mit einem gellenden Schrei zusammen.

Jim konnte sich keine Zeit lassen. Jetzt war der Blonde heran, schlug mit der Linken zuerst, aber er streifte nur Jims Kopf. Jim spürte nur ein Brennen an der rechten Wange, dann schlug er selbst zu.

Er traf den Blonden am Hals, feuerte noch einen Schlag auf dessen Gürtellinie, und mehr konnte dieser stämmige Mann im Augenblick nicht schlucken. Er taumelte rückwärts und blieb erst an der Wand stehen.

In diesem Augenblick war Kanab wieder hoch. Mit heiserer Stimme schrie er: „Stehenbleiben, Shiprock!“ Gleichzeitig schleuderte er eine Flasche nach Jim.

Jim duckte sich, und die Flasche raste über ihn hinweg, um mit einem Knall unweit von Debré an der Wand zu zerschellen.

Debré sprang auf, um aus der Kampflinie zu kommen. Da war Kanab schon wieder da. Er hatte noch eine Flasche, schlug den Boden ab und kam mit dem mehrspitzigen Scherbenstück in der Hand auf Jim zu. Er ging geduckt wie ein angreifender Puma.

Jim ergriff den Stuhl, der neben ihm Stand, riss ihn hoch und stieß ihn in dem Augenblick nach Kanab, als der mit einem Sprung auf Jim losstürzen wollte.

Das Stuhlbein traf Kanab an der Stirn und fällte ihn wie einen Stier, den ein Schuss aus einer Sharps erwischt hatte. Mit einem donnernden Schlag fiel der schwergewichtige Mann auf die Bohlen des Saloons.

Indessen war Shiprock, der Blonde, wieder fit. Er hatte ein Messer gezogen, und seine Mordlust stand ihm in den Augen geschrieben. Er schrie schrill, als wollte er sich selbst Mut machen, dann jagte er auf Jim zu.

Jim wartete, bis Shiprock nahe genug heran war, dann tat er das, womit der Schläger bestimmt nicht gerechnet hatte. Er warf sich ihm entgegen, packte blitzschnell mit beiden Händen nach dem vorgestreckten Handgelenk des Blonden, drehte sich sofort danach um, bückte sich und riss Shiprock über sich hinweg, ohne dessen Handgelenk loszulassen.

Shiprock kreischte vor Schmerz, als sein Handgelenk brach, dann schlug er mit dem flachen Rücken über einen umgestürzten Stuhl. Das Messer fiel unweit von ihm zu Boden.

Jim ließ die Hand des Mannes los und blickte zu Kanab hinüber, doch der rührte sich nicht. Aus seiner Stirn floss Blut, gleichzeitig schwoll die getroffene Stelle an. Shiprock hingegen lag wie ein geprellter Frosch neben dem Stuhl, der nun nochmals mit ihm umgefallen war. Dabei kamen gurgelnde Töne aus dem Mund des Gestürzten.

Jim hob das Messer auf, sah es an und schleuderte es dann nach der Holztäfelung an der Wand, wo es schwingend steckenblieb.

Debré lächelte, als Jim ihn ansah. „Sie haben sich in dieser Stadt schon eine Menge guter Freunde geschaffen, Short.''

„Es werden noch ein paar hinzukommen, Debré“, versicherte ihm Jim trocken.

Coltpoker der Gnadenlosen: Western Sammelband 4 Romane

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