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1 Die Normalität der Krise oder die Krise der Normalität. Krisenpotenziale im globalisierten Netzwerkkapitalismus Heiner Keupp
ОглавлениеEine Welt im Krisenmodus ist normal geworden. Unsere Vorstellungen von Krise gehen von einer dramatischen Veränderung der psychischen und/oder gesellschaftlichen Bedingungen aus, die eine normale alltägliche Lebensführung gewährleistet haben. Sie gehen meist aber auch davon aus, dass die Krise bewältigt und ein Zustand an Normalität wiedergewonnen werden kann. Dieses Modell scheint seit Längerem nicht mehr zu funktionieren. Ob es um nationale oder globale Krisen geht, sie nehmen kein Ende: Finanzkrise, Flüchtlingskrise, populistische Massenbewegungen, Gewalt und Terror. Die Hoffnung, dass die politischen Institutionen die Lösungskompetenzen haben, solche Krisen dauerhaft zu bewältigen und eine Normalitätsordnung (wieder) sicherzustellen, ist bei vielen Menschen verloren gegangen. Wir erleben eine Welt in einem ausgeprägten Erschöpfungszustand.
Die Begriffe Normalität und Abweichung benennen ein Koordinatensystem, das im Alltag, aber auch in den entsprechenden professionellen Diskursen Grenzen für gesellschaftlich akzeptiertes Erleben und Verhalten zieht. Im Alltag sprechen wir problemlos davon, dass etwas »normal« sei. Jede Kultur hat ihre eigenen Vorstellungen von »Normalität« und »Abweichung«, und innerhalb einer Kultur lässt sich in historischer Perspektive zeigen, dass sich Normalitätsvorstellungen wandeln. Solche Vorstellungen sind für die Ordnung eines sozialen Systems unverzichtbar, und sie sind für die Individuen in einer Gesellschaft hoch bedeutsam. Sie liefern Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Welt, aber auch für den Ausschluss (die Soziologie spricht von »Inklusion« oder »Exklusion«).
Differenzierte moderne Gesellschaften haben Professionen, Institutionen und Dienstleistungssektoren geschaffen, die die Grenze von Normalität und Abweichung »bewachen« und kontrollieren bzw. Menschen durch Beratung und Therapie auf den »Pfad der Normalität« bringen sollen. Psychiatrie, Psychotherapie, Sozial- und Sonderpädagogik oder Kriminologie haben genau dadurch ihr Mandat erhalten. Sie haben differenzierte Klassifikationssysteme geschaffen, die das Abweichungsfeld ordnen, und sie haben ein diagnostisches Handwerkszeug entwickelt, das eine möglichst zuverlässige Zuordnung von Anzeichen für eine Devianz zu der spezifischen Ordnungskategorie leisten soll.