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1.1 Wächter der Normalität

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Gibt es objektivierbare Kriterien für Normalität und Abweichung? Den Anspruch für solche Differenzkriterien hatte lange die Psychiatrie und in ihrem Gefolge auch die klinische Psychologie. Bis in die Gegenwart dieser Disziplinen wird deutlich, mit welcher Selbstverständlichkeit, aber auch mit welchen teilweise fatalen Konsequenzen dieser Anspruch vertreten wurde. Dass sich die Psycho-Expert*innen schon immer als aktive Produzent*innen und Wächter*innen von Normalitäten verstanden und dabei jeweils aus den dominanten Selbstverständnis- und Normalitätsbeständen ihrer Kultur, Klasse und Gesellschaftsformation geschöpft haben, wird in einem historischen Streifzug schnell deutlich.

Gesundheitsexpert*innen haben sich schon immer nicht nur auf das Kurieren von Krankheiten beschränkt, sondern sich auch Gedanken über Lebensformen und ihre Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheit gemacht. Sie haben sich häufig ihre eigenen Gesellschaftstheorien entworfen, innerhalb derer sie die speziellen gesellschaftsinterventionistischen Handlungsimperative für Ärzt*innen bestimmen konnten.

Hierbei hat es fatale Fehlbewertungen gegeben. Als Beispiel wäre Kurt Hildebrandt (1923) zu nennen, Psychiater und Mitglied des Stefan-George-Kreises, der in seinem Buch »Norm und Entartung des Menschen« ein Koordinatensystem bestimmt, bei dem Abweichungen als Entartung bezeichnet werden. Bei Emil Kraepelin und Ernst Rüdin ausgebildet, beteiligte er sich auch an der Psychiatrisierung von Akteur*innen der Räterepublik, denn Personen, die sich an einer Revolution beteiligen, können nur außerhalb der Normalität angesiedelt sein (Hildebrandt, 1920). Hildebrandt war auch ein früher Vertreter der Rassenpsychologie, die seinem Denken eine biologische Grundlage lieferte, und es überrascht keineswegs, dass er auch ein offensiver Vertreter der eugenischen Bewegung war. Ob er auch an Euthanasieprogrammen beteiligt war, ist nicht belegt.

Aber auf der Basis dieses eliminatorischen Koordinatensystems konnte sich im nationalsozialistischen Staat eine mörderische Selektionspraxis entwickeln, die in den Euthanasieprogrammen hunderttausende von Menschen das Leben gekostet hat. Hier wurde die diagnostizierte Abweichung von der Norm zu einem Todesurteil oder führte zu einer Zwangssterilisierung. 1935 hat z. B. Werner Villinger, ein Kinder- und Jugendpsychiater, in einem Vortrag Aussagen getroffen, die ihn als Euthanasiearzt prädestinierten:

»Mit Schaudern denken wir an die Jahre nach dem Krieg zurück […]. Fortschrittsglaube, Freihandel, Frauenemanzipation, Pazifismus, Koedukation, Gleichheit aller Menschen, Aufklärung, Nacktkultur, vor allem aber ›Freiheit‹, und diese wieder am uneingeschränktesten auf dem Gebiete der ›Liebe‹, – wir kennen alle diese Schlagwörter und Bestrebungen, die in jener Zeit die Köpfe […] verwirrten […]. Bis endlich der langersehnte Umschwung kam und mit ihm biologisch fundiertes Denken und Handeln beim Staat und von da aus auch bei unserem ganzen Volk seinen Einzug hielt.« (Villinger, 1935, S. 247)

Bemerkenswert ist, dass Villinger, der als Begründer der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie gilt, von 1934 – 1940 Direktor in Bethel war, von 1951 – 1953 Präsident der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater und 1955/56 auch noch Rektor der Universität Marburg. Er ist außerdem (Mit-)Begründer der Lebenshilfe. Aufgegeben hat er sein Fadenkreuz von Normalität und Abweichung nie. So ließ er noch 1950 keinen Zweifel daran, wer die Deutungshoheit über Normalität und Abweichung hat: »Die Unterscheidung zwischen ›normal‹ und ›abnorm‹ kann nur der Psychiater treffen« (Villinger, 1950, S. 55).

Diese Deutungsdominanz war bis in die 1960er Jahre der kaum infrage gestellte Mainstream der Psychopathologie. Aber mit der kritischen Debatte über die katastrophalen Zustände in der Anstaltspsychiatrie, der 1969 in Auftrag gegebenen Psychiatrie-Enquête und mit der allmählichen Aufarbeitung der Beteiligung führender Vertreter der Psychiatrie an den Euthanasieprogrammen erhielt auch eine kritische Debatte zur soziokulturellen Konstruktion von Normalität und Abweichung erheblichen Aufwind. Sie ist engstens mit der sozialpsychiatrischen Reformbewegung der 1960er und 1970er Jahre verknüpft. Das »medizinische Modell« wurde radikal dekonstruiert.

Praxis Krisenintervention

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