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3. Zukunft

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Ist das nicht eine ernüchternde und, was die Zukunft angeht, eher ratlos stimmende Bilanz? Sie macht klar, dass es sich mit der Wiederherstellung der Einheit der Kirchen ebenso verhält wie mit der europäischen Einigung. Beide sind keineswegs selbstverständlich und ergeben sich nicht von selbst, sondern sie müssen gewollt werden, und man muss etwas dafür tun. Beide sind Schlussfolgerungen aus den negativen Erfahrungen zweier Weltkriege, wobei auch der zweite, der von einer verbrecherischen deutschen Regierung vom Zaun gebrochen wurde, an alte, nicht von den Nationalsozialisten erfundene, sondern nur ausgenutzte Feindbilder anknüpfen konnte. Solche Stereotypen sitzen tief und kommen, wie man gegenwärtig sehen kann, immer wieder hoch. Ähnliches gilt auch für das Verhältnis der Kirchen zueinander. Nicht nur im 16. Jahrhundert lässt sich bei der Auseinanderentwicklung der christlichen Konfessionen das aus der Evolutionsbiologie bekannte Phänomen der »Kontrastverstärkung« beobachten,54 sondern auch heute, wenn es einigen in den am ökumenischen Dialog beteiligten Kirchen zu schnell oder zu weit geht.55 In solchen Situationen droht das erfreulicherweise gewachsene Miteinander wieder in ein Nebeneinander, wenn nicht gar ins Gegeneinander umzuschlagen. Dass dies nicht geschieht, dafür ist das mittlerweile sowohl auf der Ebene der Kirchenleitungen als auch der Gemeinden gewachsene Vertrauen Garant. Vertrauen ist ein kostbares Gut, das gepflegt werden muss. Leute, die in verfahrenen Situationen mäßigend wirken, etwa indem sie Erklärungen der Glaubenskongregation im Gefüge lehramtlicher Äußerungen ihren durchaus nachrangigen Ort zuweisen, haben genug zu tun. Die Ökumene braucht solche ausdauernden und mutigen Leute, die sich engagieren, auch wenn die Obrigkeit ihnen dies zu verbieten sucht, weil sie von der Richtigkeit und Wichtigkeit einer Sache überzeugt sind. Bei der Beschäftigung mit dem II. Vaticanum kann man sehen, wieviel davon nur möglich war, weil Dinge vorgedacht und praktiziert wurden, als sie noch für denkunmöglich erklärt und verboten waren. Die Ökumene braucht Leute, die das immer noch vorhandene Kirchturmdenken überwinden. Die Herausforderungen, vor denen die Kirchen gegenwärtig stehen, der rapide Mitgliederschwund und der damit verbundene Verlust an öffentlichem Einfluss in den meisten Ländern Europas, lösen in den Kirchen unterschiedliche Reaktionen aus. Die einen halten frühere Formen kirchlicher Lehre und kirchlichen Lebens für zielführend, weil es damals ja noch ›besser‹ war, andere empfehlen völlig neue Antworten für neue Herausforderungen. Meist aber getrennt. Dies gilt sowohl für ›konservative‹ wie für ›progressive‹ Lösungen. Dass diese Herausforderungen die Kirchen näher zusammenrücken lassen, kommt weniger in den Blick. In solch einer Situation braucht es nicht zuletzt eine nüchterne Theologie, gerade auch eine ideologiekritische Kirchen- und Theologiegeschichte, die die Dinge immer wieder zurechtrückt, die Gründe für die Spaltung in der Vergangenheit und für das Festhalten daran in der Gegenwart nicht zuerst bei den anderen sucht, sondern in der eigenen Kirche. Solche Selbstbelastung entlastet und befreit für ein wirkliches Miteinander heute.

Konsens im Sinne der Konsensökumene muss am Ende nicht heißen, dass alle genau dasselbe sagen. Das hat es, wie schon der Kanon des Neuen Testamentes zeigt und worauf Ernst Käsemann zu Recht hingewiesen hat, in der Christenheit nie gegeben.56 Der Konsens kann und muss vielmehr darin bestehen, dass die beteiligten Kirchen mit Gründen sagen, warum sie einander anerkennen und Abendmahls- und Kanzelgemeinschaft miteinander haben, auch wenn sie nicht in allen Punkten übereinstimmen. Die Differenzen dürfen nicht als derart empfunden werden, dass sie den Konsens in Frage stellen. Sie dürfen nicht kirchentrennend sein. Harding Meyer hat für einen solchen »differenzierten Konsens«57 die glückliche Formulierung geprägt »Einheit in versöhnter Verschiedenheit«58. Oft wird diese Formulierung ohne das erste Substantiv unvollständig wiedergegeben und dadurch lediglich für ein ökumenisches Nebeneinander in Anspruch genommen. Es geht jedoch um mehr: echtes Miteinander, »sichtbare Gemeinschaft bzw. Einheit«59. Auch die Leuenberger Konkordie, der von römisch-katholischer Seite oft unterstellt wird, eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu sein, die den Status quo zementiere und deshalb als Zielvorstellung nicht tauge, ist auf Vertiefung der Kirchengemeinschaft hin angelegt. Sie hat wie die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre »antizipatorische Struktur«60. Sie sind Ansporn »dafür, die Überzeugung von der gebotenen und zugesagten Einheit der Kirche und von der bereits jetzt unwiderruflichen gegenseitigen Verbundenheit in konkreten Schritten wirksam werden« und »das Sicherheitsdenken, das Schritte nur aufgrund von schon erreichten und allseits geprüften Gemeinsamkeiten für möglich hält«61, hinter sich zu lassen.

Es ist zu hoffen, dass es der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre und der Charta oecumenica nicht so ergeht wie der Unionsbulle Laetentur caeli, die am 6. Juli 1439 in Florenz während des dort abgehaltenen Konzils von den Repräsentanten der römischen und der neurömischen Kirche unterzeichnet wurde. In der Mannheimer Ausstellung Die Päpste und die Einheit der lateinischen Welt war das in lateinischer und griechischer Sprache abgefasste Original dieser Bulle mit allen Unterschriften zu sehen, das heute noch in Florenz aufbewahrt wird.62 Diese Bulle blieb wirkungslos, weil die weltgeschichtlichen Ereignisse darüber hinweggegangen sind. Nach 1453 hatte man sowohl in Konstantinopel als auch in Rom andere Sorgen. Wirkungslos blieb diese Bulle aber auch, weil die Einheit an der Basis nicht vorbereitet war. Für die in der Unionsbulle am Beispiel des zwischen der lateinischen und der orthodoxen Kirche umstrittenen »Filioque« entwickelte Verständigungsmöglichkeit, dass man nämlich ein und dieselbe Einsicht in unterschiedlichen, auf den ersten Blick sogar widersprüchlich erscheinenden Formulierungen sagen könne, war die Zeit noch nicht reif.63 Die Studie des Ökumenischen Arbeitskreises zu den Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts, die die Basis für die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre bildet, basiert auf dieser hermeneutischen Voraussetzung.64 Diese wird aber auch heute keineswegs von allen geteilt, wie die Widerstände gegen diese Erklärung zeigen. In einem Punkt jedoch scheint die heutige Situation gegenüber der des 15. Jahrhunderts verändert zu sein. Ökumene ist nicht mehr nur das Herzensanliegen einiger weniger in kirchenleitenden Ämtern und theologischen Fakultäten, sondern vieler Gemeindeglieder, die nicht verstehen können, warum es mit der Ökumene so zögerlich vorangeht, und die immer weniger bereit sind, sich mit den Bedenken zu belasten, die gegen ein intensiveres Miteinander der Kirchen vorgebracht werden. Wenn die Bedenkenträger in der breiten Zustimmung zur Ökumene ein Zeichen des Wirkens des Heiligen Geistes zu erkennen vermögen, dürfen auch sie sich entlastet fühlen. Ich hoffe gezeigt zu haben, warum ich im Titel die Abweichung von der alphabetischen Reihenfolge für gerechtfertigt halte, auch wenn mein Computer die Datei unter »Gegeneinander« gespeichert hat.

Christentum und Europa

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