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V. Theologie als religionskulturelle und situativ-existentielle Intelligenz – ein Vorschlag im Anschluss an Walter Sparn

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Walter Sparn bestimmt das Christentum als »religionskulturelles Gedächtnis Europas«, mahnt zur nötigen Arbeit an den darin implizierten Ambivalenzen und erörtert diese an den Figuren einer »ökumenischen Intelligenz« und einer »religionskulturellen Intelligenz«.33 Diese Figuren möchte ich gerne aufnehmen und im Blick auf das Gespräch mit den Naturwissenschaften erweitern um die im Christentum entwickelte Figur der »situativen Intelligenz« bzw. »situativ-existentiellen Glaubensreflexion«. Zu solch einer »situativen Intelligenz« gehört nicht nur die auch bei Sparn thematisierte Verhältnisbestimmung von subjektiver und objektiver, individueller und gemeinschaftlicher, positioneller und konsensmäßiger theologischer Urteilsbildung. Es gehört auch hinzu der Konstitutions- und Verstehensprozess, der sich im Aufbau der religiösen Biographie in der Rezeption und im Durcharbeiten verschiedener Gottesbilder bzw. der weitläufigen Sprachwelt des Christentums vollzieht. Vor allem gehört dazu, dass diese vielfältige Sprach- und Bildwelt christlich-religiöser Explikations- und Deutungsleistung in biographischer Hinsicht stets in einer bestimmten situativen Verfasstheit rezipiert und bearbeitet wird und auf diese Weise für die Erschließung der Gehalte sowie für ihre Geltung relevant ist.

Das Instrumentarium für die Wahrnehmung dieser situativen Verfasstheit ist in der Praktischen Theologie längst ausgearbeitet, v. a. in den Bereichen der Poimenik, in religionspsychologischen und religionssoziologischen Studien oder in der Biographieforschung. Dass Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen unterschiedlich wahrnehmungsfähig, ansprechbar, ausdrucks- und handlungsfähig sind, versteht sich dort von selbst. In der Systematischen Theologie geht die Aufnahme dieser Perspektiven freilich oft mit dem Vorwurf einer »bloß« anthropologischen, gar – horribile dictu – psychologisierenden Theologie einher, in der die eigentliche Sache der Theologie, Gott, nicht mehr zur Sprache komme. Obwohl Albrecht Beutel doch in der Eröffnungsrede zu diesem Kongress gesagt hat: »Wenn wir in unserem Denken bei der Sache sind, dann sind wir – in der Theologie – bei uns selbst.«34

Entsprechend hat die konstitutive Bedeutung der situativen Verfasstheit in der Systematik bisher wenig Beachtung gefunden, und zwar v. a. in der Dogmatik, was selbstverständlich mit deren Aufgabe zusammenhängt, die für die christliche Kirche protestantischer Provenienz zu einem bestimmten Zeitpunkt geltende Lehre im Zusammenhange und d. h. allgemein diskursiv darzustellen. Ohne die bleibende Notwendigkeit dieser Aufgabe bestreiten zu wollen, führt sie im Ergebnis doch zu einem Problem: Unsere dogmatischen Überlegungen sind zwangsläufig lebensübergreifend geschrieben in der Annahme, dass sie sich für Gemeindepraxis und Ethik in einzelne Konkretionen hermeneutisch umsetzen lassen. Das gelingt, aber es gelingt nicht immer und erklärt manche Entfremdung zwischen Systematischer Theologie und kirchlicher Praxis. Es ist daher etwas anderes – und darauf wird es künftig ankommen, die dogmatischen Themenkonstellationen selbst aus der situativen Polyvalenz menschlicher Lebenserfahrung mit und vor Gott zu entwickeln. Nicht nur für die Ethik und nicht nur in der kirchlichen Praxis, sondern auch für unsere gesamte Glaubensreflexion sind wir an die lebenspraktische, alltägliche und existentielle Elementarität verwiesen, die sich nur in ihrer situativen Polyvalenz, d. h. in der gleichzeitigen und gleich gültigen Mehrdimensionalität situationsbezogener Erfahrung, verstehen lässt und von der aus die thematische oder unthematische Glaubensreflexion und ethische Orientierung bestimmt sind: Dazu gehören z. B. Angst und Furcht, Aggression, Depression und andere Formen der Autoaggression, Selbstverlust und Trauer, aber auch Demut, Vertrauen, Hoffnung, Freundschaft oder Verantwortlichkeit.35 Bewusst sind hier nicht nur negativ-konnotierte Lebenserfahrungen genannt, denn das würde zu kurz greifen. Dass die Frage des Glaubens, wie bei Volker Gerhardt ebenfalls angeklungen,36 aber besonders in jenen existentiellen Lebenssituationen aufbricht, in denen es um schöne wie ernste Momente der Entgrenzung, des Exponiertseins oder der völligen Hingabe geht – »Dein Wille geschehe« –, das scheint mir eindeutig zu sein. Traugott Koch hat das bis heute unüberboten gezeigt für die Relation von Zweifel und Gottvertrauen;37 Jörg Lauster hat es für die Zugänglichkeit des Schöpfungsbegriffs und der Christologie gezeigt,38 und es lässt sich ebenso zeigen für die Rezeption des Begriffs der Allmacht in existentiell bedrohlichen Gebetssituationen.39

Für das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaften schafft dies z. B. die Möglichkeit, Phänomene der (Psycho-)Pathologie wie der Resilienz mit erklären zu können, und zwar in allen Bereichen der Ethik von der Sozial- bis zur Bio- und Technikethik. Der Blick richtet sich also auf Affekte und Emotionen, Intuitionen, Imaginationen, prozessuale Vollzüge und anderes mehr und macht die Dogmatik selbst damit auf andere Weise anschlussfähig an Phänomene, Krisen und Konflikte situativer Existentialität, die sich ebenso in Medizin, Psychologie etc. finden. Um es mit Volker Gerhardt zu sagen: Es gibt disziplinfremde Kolleginnen und Kollegen, aber sie müssen deshalb nicht »fachfremd« oder gar »sachfremd« sein.40 Oder, um Ulrich Körtner frei zu variieren: Die Dürftigkeit menschlichen Lebens steht ja gerade nicht nur den Christenmenschen vor Augen, sondern ebenso jenen, die sich nach Ruhe, Vertrauen und Aufgehobensein sehnen, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden können.41 Es gehört zu den größtmöglichen Stärken unserer christlichen Tradition und der Theologie, in diese Situationen hinein die Rede von Gott narrativ, erinnernd und vor allem reflexiv laut werden zu lassen.42 Und zwar deshalb, weil unsere Tradition von den biblischen Texten bis in die paradigmatischen Dogmatiken hinein die Rede von Gott auf stets neue Weise im menschlichen Leben zum Ausdruck zu bringen versucht. Das gelingt nicht immer, weshalb die Texte für manche Menschen in der Tat »stumme Zeugen« sind,43 aber es gelingt noch am ehesten dort, wo wir uns den existentiellen Fragen zuwenden, statt an den herkömmlichen Antworten kleben zu bleiben.44

In diesem Sinne ist vielleicht nicht alle theologische Reflexion, aber mindestens jede ordentliche Dogmatik auch Erfahrungswissenschaft in einem weiteren und umfassenderen Sinne als es der naturwissenschaftliche Erfahrungsbegriff nahelegt – daran halte ich mit Albrecht Beutel oder Dietz Lange fest,45 auch wenn mit Dirk Evers dafür zu plädieren ist, den Erfahrungsbegriff seinerseits aus der folgenden unfruchtbaren Opposition zu befreien: der Opposition zwischen (a) einer bloßen Verlängerung des strikt empirischen Erfahrungsbegriffs, der auf die Kombination von sinnlicher Wahrnehmung und Begriff reduziert ist, und (b) einer dem empirischen Begriff entgegensetzten, im engen Sinne subjektivitätstheoretischen Konzeption. Stattdessen wäre mit dem nötigen Selbstbewusstsein (c) ein hermeneutischer Erfahrungsbegriff zu wählen, der lebenspraktische Vollzüge mitsamt ihren religiösen und sonstigen Sinndeutungen konstitutiv mit einbezieht: Transzendenzerfahrung als Transzendenzdeutung, weil es uns – nochmals ganz einig mit Dirk Evers – in der »Theologie wesentlich um eine Orientierung im Relativen und Vorletzten unter der Perspektive des Unbedingten geht.«46 Ob man solch eine Theologie dann als »Realistischere Theologie« bezeichnet wie Dirk Evers oder die Theologie mit Jörg Lauster als Lebenshermeneutik47 konzipiert wie im vorliegenden Beitrag, das ist vermutlich eher eine Frage der Terminologie.

Bezieht man diese Erfahrungsdimension jedenfalls konstitutiv mit ein, dann besteht im Blick auf das Passungsverhältnis von christlichem Glauben und menschlichem Leben die methodische Herausforderung darin, dogmatische Glaubensreflexion, existentielle Anthropologie und Ethik mit den Methoden, Standards und best practice-Vorschlägen der medizinisch-naturwissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen so ins Verhältnis zu setzen, dass sich die situative Polyvalenz der Lebensphänomene in der Glaubensreflexion zu spiegeln vermag bzw. darin einen Resonanzraum findet.48 Das bedeutet nicht, dass nur solche Glaubenseinsichten wichtig werden könnten, die die momentane Erfahrung affirmierend bestätigen, sondern es umfasst auch und vor allem deren kontrastierende Widerständigkeit oder eine Konfrontation des Glaubens – wichtig ist allein, dass sich schon die Glaubensreflexion selbst als in die Elementaria der Lebenserfahrung eingelassen versteht.

Besonders vielversprechend scheint mir solch eine Zugangsweise im Blick auf unsere europäische Perspektive zu sein: Schlicht, weil sich das Forschungsgespräch über Phänomene situativer Existentialität ob ihrer anthropologischen Elementarität sehr viel leichter über nationale, kulturelle, disziplinspezifische und schulmäßige Grenzen hinweg führen lässt. Das gilt, auch wenn die damit verbundenen deskriptiv-hermeneutischen Analysekategorien, die methodischen Vorgehensweisen und Untersuchungsstandards sowie die zugehörigen Theorien, Therapien und Ergebniserwartungen in höchstem Maße divergent sein dürften. Denn um deren Klärung willen treten wir in der Theologie ja erst ein in das mindestens europaweite Gespräch mit Medizin und Naturwissenschaften.

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