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2. Die Gegenwartsgesellschaft (Gesellschaft der Neuzeit) als »Wissensgesellschaft«

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Sie als »Wissensgesellschaft« anzusprechen – ich komme zu meinem zweiten Vorschlag – kann also nicht meinen, dass erst sie als eine solche existiert. In jedem menschlichen Zusammenleben ist Unterhaltung des Stoffwechsels und Bewahrung vor störender Gewalt nur möglich durch Interaktionskoordination mittels kommunikativ gewonnenen gemeinsamen Wissens.19 So fragt sich zunächst: Was sind die universalen Form- und Inhaltsmerkmale solchen Wissens (2.1)? Und dann: Welche Gestalt haben sie in unserer Gegenwartsgesellschaft angenommen, und zwar auf der Ebene ihrer Gesamtordnung (2.2) und in ihrer Lebenswelt (2.3)?

2.1 Zunächst zu den universalen Formmerkmalen des für gemeinsames Wollen und Wirken erforderlichen gemeinsamen Wissens. Sie alle ergeben sich aus dem Faktum, dass für Menschen die Gegenwart ihres Zusammenlebens in sich selbst die unabweisbare Zumutung ihrer gemeinsamen Praxis ist, also die Zumutung, mit der jeweiligen Eigenbestimmtheit dieser Zusammenlebensgegenwart angemessen umzugehen durch realisierendes Ausgreifen auf die eigenen Möglichkeiten dieser Gegenwart (ihre noch ausstehenden möglichen Bestimmtheiten), diese also angemessen zu begreifen und sich daraufhin in dieser Gegenwart angemessen (d. h. in zielerreichungsdienlicher Weise) leibhaft-folgenreich zu bewegen. Somit sind die universalen Formmerkmale des dafür erforderlichen Wissens die folgenden fünf:

a) Die unauflösliche Wechselbezogenheit des Wissens vom Einzelnen und vom Allgemeinen.Wissen ist stets zugleich beides: einerseits Wissen um einzelne Lagen und ihr Gewordensein und zugleich andererseits Wissen um die bestimmte Allgemeinheit des Werdens und seiner Bedingungen, in dem alles Einzelne geworden ist und im Werden bleibt und das somit jedem Einzelnen mit seinesgleichen gemeinsam ist.

Das ist begründet im und entspricht der Form des uns und allen unseresgleichen zu-verstehen vorgegebenen Realen. Das ist nämlich keineswegs nur der Inbegriff von Umweltinstanzen, sondern das diese alle umgreifende Dauern (Währen) der realen Gegenwart-des-Zusammenlebens als einer Konstellation, die geworden ist und im Werden verbleibt, und eben mit dieser Dauer ihres Im-Werdenseins selbst die Bestimmtheit des Werdens manifestiert, aus dem sie ihrerseits stammt und in dem sie verbleibt, also desjenigen Werdens, das über die gewordene Konstellation hinausgreift und insofern das ihr und allen Früheren und Späteren Gemeinsame ist.20

b) Das zweite Formmerkmal gemeinsamen Wissens ist somit: sein Charakter als zuversichtliches Erwarten. Denn das zu-verstehen gegebene Reale, das Dauern der Gegenwart menschlichen Zusammenlebens, gibt in sich selbst zu-verstehen, dass die bestimmte Weise des Werdens, die das Gewordene hervorgebracht hat, über diesen seinen Effekt hinausreicht, womit auf uns zukommende Veränderungen des Gewordenen angezeigt, und d. h. objektiv verheißen werden. Das angemessene Erfassen dieser objektiven (zu-verstehen vorgegebenen) Verheißung aber kann nur deren Umsetzung in eine angemessene subjektive Erwartung sein, deren Angemessenheit nie vorweg garantiert ist und sich erst in ihrer Bewährung manifestiert, damit dann aber auch die Erwartung der Zuverlässigkeit dieses Erwartens schafft. Alles Wissen ist also formal: Erwarten der Zuverlässigkeit von Erwartungen aufgrund der erinnerten Zuverlässigkeit dieser Erwartungen, also »praktisch gewisses« Erwarten.21 Aufgrund dieser seiner auf Zukunft, auf das reale Ausstehen von real Möglichem, ausgreifenden Erwartungsform bleibt unser Wissen stets im Fluss; und nur aufgrund dieser Form besitzt es orientierende Kraft für unser gemeinsames Wollen und Wirken, also für unser gemeinsames Wählen von Zielen und Wegen als Ausgreifen auf die je spezifischen ausstehenden Möglichkeiten, also die Zukunft, unserer Zusammenlebensgegenwart.

Wenn ich von »Gewissheit« spreche ist stets diese praktische Gewissheit gemeint und nichts sonst.22

Freilich: Gemeinsame praktische Gewissheit herrscht nur, soweit alle relevanten Interaktionspartner der Verlässlichkeit bestimmter Erwartungen inne sind (sie selbst erlebt haben und erinnern).

d) Dazu kommt es nur – viertes Formmerkmal – durch Kommunikation – durch Kommunikation von Erwartungen (schon bewährter Erwartungen und noch zu bewährender).23

e) Fünftes, oft übersehenes, Formmerkmal: Diese reproduktive und produktive Kommunikation von geteilter praktischer Gewissheit vollzieht sich regelmäßig auf zwei, in asymmetrischer Wechselwirkung stehenden Ebenen: grundlegend im Alltag der Lebenswelt und dann auf dem Boden von deren Ergebnissen auch in bereichsspezifisch-elaborierten Gestalten. Heute ist – insbesondere im Kreis der akademisch ausgebildeten Elite – die Ansicht verbreitet, dass »Bildung« durch die Kommunikation der elaborierten Gestalten von praktischer Gewissheit, also »durch Wissenschaft« erfolge.24 Auf welches Lebensphänomen verweist hier die Rede von »Bildung«? Bestenfalls auf den Gesamtbestand an handlungsleitenden (praktischen) Gewissheiten, die einem Menschen im Laufe seiner Bildungsgeschichte zuteil geworden sind und ihn fähig machen zu eigenverantwortlicher Teilnahme am Zusammenwollen und Zusammenwirken unter und mit anderen in seiner jeweiligen Lebens- und Handlungsgegenwart.25 Dann aber kann und darf die Rede von »Bildung durch Wissenschaft« keineswegs so verstanden werden, als würde Menschen überhaupt erst durch Wissenschaft (im Sinne einer bereichsspezifisch-elaborierten Kommunikation von handlungsleitender Erwartungsgewissheit) diejenige Bildung zuteil, die seine Interaktionsfähigkeit begründet. Vielmehr wird jedem Menschen dieser Bestand an interaktionsermöglichendem Erwarten der Zuverlässigkeit von Erwartungen im Laufe seiner Sozialisation durch die Teilnahme am Alltag seiner Lebenswelt zugespielt. Erst diese vorwissenschaftlich konstituierte handlungsleitende Selbst-, Lebens- und Weltgewissheit ist es, die ihrerseits die Bemühungen um bereichsspezifisch-elaborierte, also wissenschaftliche Präzisierung und Erweiterung solcher vorwissenschaftlich-lebensweltlich konstituierten Erwartungsgewissheit zu motivieren und zu orientieren vermag. Alle bereichsspezifischelaborierte, also »wissenschaftliche« Gewissheitserweiterungsbemühung verbleibt ihrerseits auf dem Boden dieses Motiviert- und Orientiertseins durch vorwissenschaftlich konstituierte praktische Selbst-, Lebens- und Weltgewissheit, von dem sie sich nie zu emanzipieren vermag. Menschen werden nicht erst durch Wissenschaft mit sich selbst und ihrer Welt vertraut, sondern betreiben Wissenschaft nur als solche, die immer schon durch ihr Sich-selbst-als-Teilnehmer-von-Alltagsinteraktion-Erleben mit sich selbst und ihrer Welt bekannt sind.26 Das allerdings schließt nicht aus, dass die Ergebnisse von »Wissenschaft« dann ihrerseits den lebensweltlichen Alltag so prägen, dass das auf den Inhalt der vorwissenschaftlichen Selbst- und Weltgewissheit der Menschen zurückwirkt – im Extremfall bis dahin, dass der lebensweltliche Alltag seinen Teilnehmern schon die Wahrnehmung der durchgehenden Abhängigkeit des gesamten Betriebs von Wissenschaft von vorwissenschaftlichen handlungsleitenden Erwartungen verstellt und statt dessen den – nota bene: selbst vorwissenschaftlichen – Eindruck erweckt, erst durch Wissenschaft (nämlich Physik und Biologie) mit Welt, Leben und Menschsein bekannt geworden zu sein.27

Wissen, das gemeinsames Handeln leitet, hat also stets und überall die formale Gestalt von geteilter praktischer Gewissheit, die in den dafür erforderlichen Institutionen ihrer alltagsweltlichen und bereichsspezifisch-elaborierten Kommunikation zustandekommt, erhalten und fortgeschrieben wird.

Nun seine universalen Inhaltsmerkmale: Auch sie ergeben sich aus einer unabweisbaren Zumutung des zu-verstehen vorgegebenen Realen (der dauernden Gegenwart des Zusammenlebens selbst), nämlich aus der Zumutung, das Zusammenleben in den vier gleichursprünglichen Beziehungsdimensionen des Selbst-, Umwelt-, Welt- und Weltursprungsverhältnisses vollziehen zu müssen. Aufgrund dessen existiert das für gemeinsames Handeln erforderliche gemeinsame Erwartungswissen (Erwartender Zuverlässigkeit von Erwartungen) stets in drei gleichursprünglichen Gestalten mit einer je unterschiedlichen Art von Inhalt:28

Erste Gestalt: Wissen über die realen Wirkregeln im Werden unserer Umwelt29

– und zwar einerseits unserer menschlichen Umwelt, die in das sie bedingende Im-werden-Sein der nichtmenschlichen Umwelt eingebettet ist, das heißt Wissen über die Regeln des menschlichen Zusammenlebens, also über Kultur und ihre Geschichte; und stets auch zugleich

– andererseits Wissen über unsere nichtmenschliche Umwelt im Werden, die nur vermittelst der personalen für uns zugänglich ist, also Wissen über die nichtmenschliche Natur und ihre »Geschichte«.30

Zweite Gestalt: Wissen über die Bedingungen des Im-werden-Seins aller überhaupt möglichen realen Gestalten menschlicher Umweltbeziehungen, also Wissen über diese unsere Welt, d. h. über den Möglichkeitsraum allen innerweltlichen Werdens in der asymmetrischen Wechselbeziehung von menschlicher Kultur und nichtmenschlicher Natur.

Dritte Gestalt: Wissen um die Kontingenz des Realseins dieser unserer Welt im Unterschied zu möglichen anderen,31 ein Wissen also, das stets Annahmen über den Grund des Realseins dieser Welt, den Ursprung und das Ziel ihres Realseins, einschließt; und zwar Annahmen die entweder diesen Grund von der durch ihn begründeten Welt unterscheiden oder nicht (und somit das Kontingentsein dieser Welt ignorieren und sie damit de facto [u. U. unbewusst] absolut setzen). Das Aufschieben oder Vermeiden einer expliziten Entscheidung dieser Alternative ändert am Realsein der Alternative gar nichts.

In jeder dieser inhaltlichen Bestimmtheiten wahrt das gemeinsame Wissen seine einheitliche Form als zuversichtliches Erwarten aufgrund erinnerten Bewährtseins von Erwartungen: also als praktische Gewissheit, die das gemeinsame Wollen und Wirken der Menschen, ihren gemeinsamen Ausgriff auf ihre ausstehenden Möglichkeiten, orientiert und motiviert; und dies stets in allen drei materialen Bestimmtheitsgestalten zugleich und in gegenseitiger Wechselbedingung:

– Praktische Weltgewissheit ermöglicht dem realen Zusammenleben von Menschen die Erkenntnis seiner innerweltlichen Identität, d. h. seines unverwechselbaren Ortes in der Welt, im währenden Für-es-selbst-Gegenwärtigsein des Gewordenseins-und-im-werden-Bleibens des Menschseins, also in der »Geschichte« von menschlicher Kultur und nichtmenschlicher Natur.32

– Praktische Gewissheit über das Umweltverhältnis-im-Werden (in der Einheit der Wechselbedingung zwischen menschlicher und außermenschlicher Umwelt) orientiert und motiviert die Wahl von Wegen (oder: »Pfaden«) des Zusammenlebens zu gewählten Zielen.

– Praktische Gewissheit der Kontingenz des Realseins unserer Welt samt den darin eingeschlossenen verschiedenen möglichen Annahmen über seinen Ursprung und sein Ziel, also über seine reale Bestimmung (Destination), orientiert und motiviert die Zielwahl. Wobei gilt: »Ziel« ist erst derjenige Zustand menschlichen Lebens, der nicht um eines anderen, sondern um seiner selbst willen angestrebt wird, das reale non plus ultra, der unüberholbare Letztzustand menschlichen Seins, sein Eschaton. Und dessen Erwartung hängt ab von der Alternative, unter der die Annahmen über Ursprung und Ziel des Imwerden-Seins unserer Welt stehen: entweder zwischen dieser Welt und der Bedingung ihres Ursprungs zu unterscheiden oder darauf zu verzichten (also die Kontingenz dieser Welt nicht zu begreifen oder faktisch zu verleugnen). Im erstgenannten Fall kann das Eschaton nicht in dieser Welt, im zweiten nur in ihr erwartet werden.

Soviel zu den allgemeinen Form- und Inhaltsmerkmalen des für alles menschliche Zusammenleben erforderlichen gemeinsamen Wissens. Nun zur Manifestation und Thematisierung solchen Wissens in unserer Gegenwartsgesellschaft.

2.2 Diese Gesellschaft weist – nach dem Übergang aus der Statik einer agrarischen Ordnung zur Dynamik einer städtisch-bürgerlichen – vier Grundzüge auf:

– Ausdifferenzierung aller Grundfunktionsbereiche gegeneinander und intern,

– damit verbunden: zunehmende Freisetzung der Individuen,

– radikale Ersetzung jeder (quasi)ständischen Statussicherung durch uneingeschränkte Statuskonkurrenz (Konkurrenz um Gestaltungsmacht, Ansehen, Lebensstandard), die ihrerseits viertens

– keineswegs ausschließt, sondern gerade hervorbringt: große Ungleichverteilungen von Entscheidungsmacht, die aber nur in Konkurrenz behauptet werden kann.33

Diese Gestalt der Ordnung des Zusammenlebens ist in den westeuropäischen Ländern sowie den Ländern Nordamerikas und Australiens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreicht; alle seitherigen Weiterentwicklungen – bedingt durch die Resultate des gewaltsamen Austrags der imperialistischen Konkurrenz in zwei Weltkriegen, enorme technologische Fortschritte und den Aufstieg von »Wissenschaft« zu Weltanschauung – bewegen sich auf dem Grundriss dieser (notabene: selbst geschichtlich gewordenen) Ordnungsgestalt und variieren sie.34

Als Exemplar dieser Gesellschaft habe ich diejenige der BRD vor Augen, den meisten von uns als unsere eigene Gegenwartsgesellschaft vertraut. Als Exemplar weist sie Züge auf, die in ähnlicher Weise auch andere westliche Gesellschaften aufweisen (aber soweit ich sehe nicht alle europäischen Gesellschaften im geographischen Sinne, nämlich wohl zumindest nicht die russische, in der die Erfahrung und Verarbeitung einer bürgerlichen Revolution fehlt).35

Was wird nun in dieser Gegenwartsgesellschaft als »Wissen« thematisiert und kommuniziert?

Jedenfalls – in der überwiegenden und maßgeblichen Mehrheit – nicht mehr das Ganze der soeben beschriebenen Triade von praktischer Gewissheit mit artverschiedenem Gegenstand und Inhalt.

Vielmehr manifestiert schon Kants einflussreiche, weitwirkende Unterscheidung der Frage nach dem möglichen Wissen von der nach dem gebotenen Tun und der nach dem erlaubten Hoffen36 eine Engführung der Rede von »Wissen« auf nur noch ein Element jener Triade, nämlich auf das gewisse Erwarten bezüglich unseres Umweltverhältnisses-im-Werden; und diese Engführung ist heute zu einer in der Öffentlichkeit dominanten Selbstverständlichkeit geworden. Sogar in verschärfter Form: Denn erstens kommt schon das Erwartungswissen über die Regelmäßigkeiten im Werden unseres Umweltverhältnisses überhaupt nur noch zur Hälfte unstrittig als »Wissen« in Betracht, nämlich vollkommen unstrittig nur noch als das die nichtmenschliche Natur betreffende »natur«-wissenschaftliche Wissen – dann freilich auch als Beschreibung unserer menschlichen Mitwelt im Werden, also »kultur«-wissenschaftliches (oder: »geistes«-wissenschaftliches) Wissen, aber dies eben als »Wissen« nur, sofern auch hier dem naturwissenschaftlichen Vorbild des Datensammelns und Bildens von erklärungs- und prognosekräftigen Modellen gefolgt wird (Wirtschaftswissenschaft, Politologie, Pädagogik, Psychologie)37 oder ihm zugearbeitet (Geschichtswissenschaft).38 Auch die sogenannten »Geistes«-wissenschaften, die reflexiv das Zusammenleben von menschlichen, leibhaft-innerweltlichen Personen, seine durch kommuniziertes Gewisssein gesteuerten Ordnungsgestalten und Hervorbringungen, auf den ihnen konstitutiv zu eigenen »Sinn« hin befragen, vermochten ihren Status als Wissenschaften seit Eröffnung dieser Debatte durch Dilthey39 und Wortführer des südwestdeutschen Neukantianismus40 nur dadurch zur Anerkennung zu bringen, dass sie auch sich selbst als »Erfahrungs«-wissenschaften zu beschreiben und zu betreiben suchten. Freilich, ohne dass sie dabei zu einer unmissverständlichen Kritik und Überwindung des enggeführten Kantschen Verständnisses von »Erfahrung« zu gelangen vermochten.41

Jedenfalls ist in unserer Öffentlichkeit gegenwärtig das Erheben von Wahrheitsansprüchen nur noch für Handlungseffektivität sicherndes Erwartungswissen, das aus den Sciences stammt, unbestritten und uneingeschränkt zulässig. Beide darüber hinausgehende Gestalten praxisleitenden Erwartungswissens gelten, eben weil sie über das von den Sciences gebotene handlungsmachtsteigernde Erwartungswissen hinausgehen, als nicht wahrheitsfähig und in der Öffentlichkeit als private Ansichts- und Meinungssache: So schon alle Annahmen über Welt als den realen Möglichkeitsraum der asymmetrischen Wechselwirkung zwischen Kultur und außermenschlicher Natur, die für die Selbsterfassung der Identität von Interaktanten – Gemeinschaften und Einzelnen – unerlässlich sind,42 und erst recht alle praktischen Gewissheiten über Letztziel und Bestimmung von Welt und Mensch, also alle zielwahlleitenden Überzeugungen. Deren Realität und Wirksamkeit wird als eine rein subjektive (also psychologisch und sozialpsychologisch zu beschreibende) angesehen und ihre inhaltliche Bestimmtheit als das Resultat von (ebenfalls subjektiven) »Deutungen«.

Gerade sie aber, diese inhaltlich bestimmten, zielwahlleitenden praktischen Gewissheiten über Letztziel und Bestimmung von Welt und Mensch, und keineswegs allein formale Regeln für die Respektierung der Willkür des einen durch die Willkür des anderen, fundieren – wie auch Kant schon wusste43 – den qualitativen Charakter des menschlichen Zusammenlebens, also sein materiales Ethos – und somit sind es genau diese Fundamente des materialen Ethos, deren Wahrheitsfähigkeit in unserer Gegenwartsgesellschaft zumindest zweifelhaft sind und die deshalb weithin einem öffentlich nicht mehr auskunftsfähigen und auskunftspflichtigen Belieben ausgeliefert bleiben.

Dieser Engführung der Vorstellung von »Wissen« entsprechen auch die verschiedenen Weisen, wie in den Institutionen der Gegenwartsgesellschaft der Anspruch erhoben und realisiert wird, dass die Gegenwartsgesellschaft eine »Wissensgesellschaft« sei.44 Dafür vier Beispiele auf der Makroebene, jeweils aus der Perspektive verschiedener Grundfunktionsbereiche:

Beispiel 1: Aus der Perspektive der Wirtschaft – These: Wir leben im Übergang »von der Industrie- zur Wissensgesellschaft«.45 Gemeint ist der Übergang zur Hervorbringung und Vermarktung industrieller Produkte unter Einbeziehung und Ausnutzung aller Möglichkeiten der Digitalisierung (Automatisierung, Datenspeicherung und -auswertung). Das wird in der Tat gesellschaftliche Veränderungen bewirken, setzt aber einfach die schon fast 200 Jahre alte Gewohnheit fort, »Wissen« nur als Produktionsmittel zur Steigerung der Effizienz und gesellschaftlichen Dominanz des Wirtschaftens anzusehen und zu fördern (dazu ist zu vergleichen der »BuFI«: BMFB [Hg.], Bundesbericht Forschung und Innovation, 2 Bde. 2016 [nach Auskunft dieses Ministeriums »das Standardwerk zur Forschungs- und Innovationspolitik Deutschlands«]).

Beispiel 2: Die Gegenwartsgesellschaft wird aus der Perspektive der Sciences im Bunde mit Politik als »Wissensgesellschaft« proklamiert: – Für das 2011 vorgelegte Hauptgutachten des »Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen« (WBGU) ist die Gegenwartsgesellschaft insofern »Wissensgesellschaft«,46 als sie von umweltunverträglichen auf nachhaltige Pfade umschwenkt durch eine große Gesamttransformation, die von einschlägigen Sciences inspiriert und gesteuert wird, durchgesetzt jedoch durch eine den Maßgaben dieser Sciences folgende Gesetzgebung des »gestaltenden Staates«, der auch über die Instrumente der Meinungsbildung, insbesondere Schulen und Hochschulen, verfügt, die »den Menschen« (gemeint sind immer die Rechtsunterworfenen) die nötige Einsicht und Zustimmung ermöglichen. Auch der Weg, auf dem dies Ziel zu erreichen ist, zeichnet sich immer klarer ab: die Abstützung des Unterrichts an den staatlichen Schulen auf das Benutzen einer zentral verwalteten Schul-Cloud, das für den »gestaltenden Staat« zwei Leistungen auf einen Schlag erbringt, nämlich die zentrale Festlegung aller Lerninhalte (also auch des Unterschieds zwischen dem zentral für relativ wichtig und dem für relativ unwichtig Gehaltenen) und zugleich die lückenlose zentrale Beobachtung (und damit auch die faktische zentrale Kontrolle) des unterrichtlichen Umgangs von Schülern und Lehrer mit diesen Inhalten.47

Beispiel 3: Die Gegenwartsgesellschaft als Wissensgesellschaft aus der Perspektive von Science im Bunde mit Technik – Hier wird die für die »Wissensgesellschaft« konstitutive Abhängigkeit von handlungsmachtsteigerndem Wissen aus den Sciences noch gesteigert vorgestellt: Die durch Scienceerfolge hervorgebrachten Techniken des Eingriffs in die genetische Ausstattung von Organismen und der Speicherung und Verarbeitung großer Datenmengen bringen eine Gestalt des Zusammenlebens hervor, in der dessen evolutionär gewachsenen organischen und kulturellen Bedingungen durch technisch erzeugte, künstliche Bedingungen aus dem Zusammenspiel von Gentechnik und Datenverarbeitungstechnik zunehmend ersetzt, die Menschen also biochemisch optimiert und kulturell von vielen anstrengenden Intelligenzleistungen (genau Datenerfassungs-, -speicherungs- und -verarbeitungsleistungen) entlastet werden.48

Beispiel 4: Auch hinsichtlich der in ihr stattfindenden Lebenssinnkommunikation wird die Gegenwartsgesellschaft als »Wissensgesellschaft« proklamiert: Nicht bestritten wird zwar, dass es (aus religiös-theologischen und weltanschaulich-philosophischen Traditionen stammende) Annahmen über den Möglichkeitsraum »Welt« und sein Eschaton gibt, die nicht aus den Sciences stammen und eine lebenspraktische Rolle spielen, aber »Wahrheit« ist im Blick auf solche Annahmen nur durch ihre scientifische Betrachtung aus der Perspektive empirischer Psychologie und Soziologie oder auch der Hirnphysiologie zu gewinnen, die nach der psychischen und sozialen und neuronalen Funktion solcher Annahmen fragt. – Darüber hinaus wird aber auch behauptet – nicht unwidersprochen, aber doch mit großer Resonanz –, dass die Science und ihre Ergebnisse selbst schon die Wahrheit über unsere Welt und ihr Eschaton bieten. »Wissensgesellschaft« ist die moderne Gesellschaft damit auch insofern, als hier alle Selbstidentifikationen und Zielwahlen durch eine »wissenschaftliche Weltanschauung« (und Eschatologie) geleitet werden.49

2.3 Diese Verhältnisse auf der Makroebene prägen auch die Mikroebene, den lebensweltlichen Alltag:

In der Teilnahme am wirtschaftlichen und politischen Leben dominiert effektivitätssicherndes Fakten- und Regelwissen. Auch im persönlichen Verkehr, in Familie, Freundschaft und Bekanntschaft, kommt als »Wissen« nur solches Fakten- und Regelwissen in Betracht – wenngleich es in diesen Beziehungen auch immer wieder zurücktritt gegenüber dem Austausch von Befindlichkeiten aus dem Selbsterleben und Erleben von Beziehungen, freilich stets nur unter dem Titel von subjektivem »Eindruck«, »Gefühl« und »Meinung«. Erst Konstellationen des Selbsterlebens, die als Problem empfunden werden, sollen Inhalt eines handlungsleitenden Wissens, einer praktischen Gewissheit werden; dies dann aber wiederum unter Rückgriff auf Scienceprodukte: nämlich die Diagnose- und Hilfsangebote von Pädagogik, Psychologie und (sofern »sicher« wirkende Lösungen erstrebt werden) der Medizin.50

Für das in den einschlägigen Gemeinschaften (exemplarisch der christlichen) überlieferte Gewissheitszeugnis über Ursprung, Verfassung und Ziel des Möglichkeitsraums menschlichen Lebens, der Welt-des-Menschen, wird der Status als unverzichtbarer Teil handlungsleitenden Erwartungswissens und der damit verbundene Wahrheitsanspruch außerhalb der Binnenöffentlichkeit dieser Gemeinschaften gar nicht mehr vertreten und weithin nicht einmal mehr innerhalb ihrer – entweder in zustimmender Übernahme der modernen Reduktion von praktischer Gewissheit auf Scienceprodukte, oder aus Furcht vor dem Vorwurf, unaufgeklärt, grundlos und friedensstörend einen Wahrheitsanspruch für Überzeugungen zu erheben, die nicht durch »Wissenschaft« (science) erzeugt sind.

Fazit: Auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Gegenwartsgesellschaft werden als »Wissen« so gut wie ausschließlich Produkte der Science thematisiert. Und diese auch nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Begründung und Ausweitung von auf Kultur und Natur zugleich zielender Kontroll- und Gestaltungsmacht, die ihrerseits das Fundament von Ansehen, Autorität und Führungsmacht ist. »Wissensgesellschaft« ist die Gegenwartsgesellschaft nicht in dem Sinne, dass sie auf Wissen und Wahrheit als Ziel (als Selbstzweck) gerichtet wäre, sondern in dem Sinne, dass es ihr um Wissen und Wahrheit als Fundament und Instrument von Macht geht, die in Konkurrenz obsiegt.

Und zwar nicht nur innerhalb der Gesellschaften und zwischen ihnen, sondern ebenso im universalen Konkurrenzkampf der Evolution. Denn zufolge dessen was die Sciences seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute über den Menschen sagen, ist dieser Gewinner der Evolution, weil er das Tier mit überlegener Fähigkeit zu zielsicherem Wirken aufgrund entsprechenden »Wissens« ist.

Aktuell verlangt zwar die scientific community selber, dass die »rote Linie« für die Steigerung von Handlungsmacht eröffnendem Wissen oder zumindest für seine Anwendung bestimmt werde.51 Aber soweit gilt, dass diese Linie nur im Horizont der aus den Sciences selbst stammenden Sicht des Menschen als des durch die Evolution zur Selbstoptimierung seiner Biochemie und Rechenleistungen befähigten Tiers zu finden ist, läuft dieser Ruf faktisch auf den Appell hinaus, endlich wissenschaftliche Forschung und die durch sie eröffneten Optimierungstechniken von rechtlichen Beschränkungen zu befreien.52

Etwas anderes wäre nur im Horizont eines Verständnisses des Menschseins, seiner Eigenart und Würde, möglich, das nicht aus den Sciences stammt, sondern umgekehrt das Menschsein, seine Eigenart und Würde, als den Sciences vorgegebene Bedingung der Möglichkeit von deren Betrieb beschreibt, hinter die die Forschung und die Anwendung ihrer Ergebnisse nicht zurück und über die sie nicht hinauskommen, die sie vielmehr als diese ihre eigene Möglichkeitsbedingung nur entweder achten oder missachten können. Auch solches Wissen über die universalen Bedingungen des Seins und Zusammenlebens von Menschen werden in unserer Gegenwartsgesellschaft kommuniziert – nämlich in Gestalt der aus dem Sich-selbst-Erleben-im-Zusammensein-mit-anderen im lebensweltlichen Alltag stammenden vorwissenschaftlichen Welt- und Lebensgewissheit der Menschen und dann (in meinen Augen besonders eindrucksvoll) in den reflexiv-philosophischen Beschreibungen der menschlichen Grundsituation in Phänomenologie und Pragmatismus (sowie in der ihnen methodisch folgenden theologischen Fundamentalanthropologie). Hier überall kommt das Menschsein als währendes Existieren (Ihm-selbst-gegenwärtig-Sein) von leibhaft-innerweltlichen Personen in der ursprünglichen Einheit des personkonstitutiven asymmetrischen Gefüges von Selbst-, Umwelt-, Welt- und Ursprungsbezogenheit in den Blick, so dass die Herausforderungen und Möglichkeiten der Menschen, sich im Umweltverhältnis zu verstehen, realistisch, also entsprechend ihrem relativen Ort im Gesamtgefüge, wahrgenommen werden könnten. Aber diese Einsichten sind nie gemeint, wenn von unserer Gegenwartsgesellschaft als »Wissensgesellschaft« die Rede ist. Und das nicht von ungefähr, denn für ein solches Wissen vom Sein und Zusammenleben, also der Welt, leibhafter Personen als der Möglichkeitsbedingung für die Arbeit der sciences, kann eben nicht Wahrheit im Sinne von »wissenschaftlicher« Wahrheit, im Sinne von Wahrheit-aus-densciences, behauptet werden. Und genau deshalb hat dieses Element der praktischen Gewissheit in der »Wissensgesellschaft der Neuzeit«, weil und insofern diese sich als eine allein an Wahrheit-aus-den-Sciences orientiert, einen prekären Stand.53

Den teilt das Christentum.

Christentum und Europa

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