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3. Das Christentum in der Wissensgesellschaft der Neuzeit

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3.1 Zunächst: Welches Christentum ist gemeint? Jedenfalls das gelebte, das jeweils das Leben von Einzelnen-in-Gemeinschaft ist.54 Nämlich von Einzelnen, denen

– nach Begegnung mit der in der christlichen Glaubensgemeinschaft (gleich welcher konfessionellen Prägung und organisatorischen Gestalt) kommunizierten biblischen, im Evangelium seine Spitze besitzenden, Sicht auf die Gegenwart von Welt, Zeit und Geschichte

– durch Erschließung eines neuen, erweiterten und vertieften, Blicks auf die eigene Lebenswirklichkeit etwas vom Sinn und von der Wahrheit dieses Zeugnisse aufgegangen ist,55 so dass sie sich (und anderen) eingestehen können und müssen: »Eia, vere sic est!«,56

– die sich dadurch in die Glaubensgemeinschaft hineinversetzt finden

– und nun im Lichte dieser ihrer nun christlich gebildeten praktischen Welt- und Weltursprungs- und -ziel(also Gottes-)gewissheit ihre je besondere Aufgabe im Zusammenleben, also im gemeinsamen Wollen und Wirken mit Glaubenden und Nichtglaubenden, durch die undelegierbare Eigenverantwortlichkeit ihrer individuellen Ziel- und Wegewahlen gerecht zu werden suchen.

Wie zahlreich diese Einzelnen sind, bleibe dahingestellt. Ich gehe aber davon aus, dass es sie gibt (mit der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD).57

Ihre christlich gebildete Welt- und Gottesgewissheit macht diese Menschen zuerst und zuletzt zu Gliedern der weltweiten Gemeinschaft der Glaubenden. Das schließt ihre Gewissheit, Europäer und Deutsche, Polen, Ungarn, Franzosen etc. zu sein, nicht aus, relativiert aber diese nationale Zugehörigkeit auf die weltweite Gemeinschaft der christlichen Gewissheit.58 In dieser Selbst-, Welt- und Weltzielgewissheit sagt sich der Christ freilich nicht vom Gemeinwesen seines Heimatlandes los, sondern übt mit ihm kritische Solidarität: Zur Zeit und zur Unzeit nennt er handlungsleitende Sichtweisen des Menschen, seiner Welt und seiner Bestimmung, die er als unklar, abstrakt, unvollständig oder irrig durchschaut, als solche beim Namen, einschließlich aller darin eingeschlossenen Sichtschranken, wie vor allem der dominierenden Engführung des für das bestimmungsgemäße Zusammenleben leibhafter Personen erforderlichen handlungsleitenden Erwartungswissens auf Scienceprodukte. Im Kontext dieser dominierenden Fehlkonzeptionen der Gegenwartsgesellschaft als Wissensgesellschaft und gegen sie bekennt das gelebte Christentum in Wort und Tat seine konkrete Einsicht, dass die – nicht aus den Sciences stammende sondern ihnen vorgegebene – dauernde (währende) Gegenwart des Seins und Zusammenlebens von Menschen selber der Möglichkeitsgrund allen menschlichen Wissens (also gewissen Erwartens) ist, darunter auch des aus den sciences stammenden, und diesem seinen Platz im Zusammenhang des größeren Ganzen aller Gestalten des für Menschen möglichen und unverzichtbaren Wissens (gewissen Erwartens) zuweist (und es durch diese Platzanweisung »relativiert«).

Diese Stellung in der Wissensgesellschaft der Neuzeit behauptet das gelebte Christentum auf deren beiden Ebenen: auf der Makroebene (3.2) und auf der Mikroebene des Alltags (3.3) – und auf beiden Ebenen nicht ohne die Hilfe der Theologie und ihrer gewissheitsexplikativen Leistungen.

3.2 Auf der Makroebene ist die institutionelle Präsenz der Glaubensgemeinschaft in ihren unterschiedlichen Organisationsgestalten unverzichtbar. Stets kommt es darauf an, dass Verkündigung und Lehre der Gemeinschaft inhaltlich den Beitrag zu derjenigen fundamentalanthropologischen Debatte durchhalten, die mit dem Eintritt der biblischen Sicht von Ursprung und Bestimmung des Menschen und seiner Welt in Gottes Wollen und Wirken in die antike Wissensgesellschaft einsetzt, durch das altkirchliche Dogma ihre Konkretisierung und im Mittelalter ihre schulmäßige Entfaltung erfährt, deren für das nachmittelalterliche Europa maßgebende Neuauflage mit der Renaissance einsetzt und dann ein halbes Jahrhundert später durch die reformatorische Theologie intensiviert und zugespitzt wird, anschließend auch das faktische Zentrum des sich seit dem zweiten Drittel des 16. Jahrhunderts verselbständigenden Diskurses der Philosophie neben der Theologie bleibt und nach der am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden wechselseitigen Befruchtung zwischen Philosophie und Theologie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine dreifache Grundeinsicht zunehmend klar hatte hervortreten lassen:

– 1. Die kritische Einsicht, dass mit und in ihrem eigenen Sein (dem realen Dauern der Gegenwart des Zusammenlebens leibhaft-innerweltlicher Personen) den Menschen alles Reale gegeben ist, das ihnen überhaupt zu-verstehen (zu begreifen und mitzugestaltenden) gegeben ist; vorbei an dieser Grundgegebenheit ist ihnen gar nichts (zu-verstehen) gegeben.59

– 2. Der elaborierte Begriff dieser Vorgegebenheit (also der Begriff der dauernden Gegenwart des Zusammenlebens von Menschen als leibhaften Personen) erfasst somit diejenigen transzendentalen Bedingungen, die den Menschen ihr Sich-selbst-Verstehen ermöglichen und zugleich unabweisbar zumuten. Sie sind also allen möglichen Vollzügen menschlichen Sich-selbst-Verstehens vorgegeben als der Möglichkeitsraum, hinter den keiner zurück und über den keiner hinaus kann.

– 3. Diese Welt-des-Menschen (dieses Dauern der Gegenwart des Zusammenlebens von Menschen) ist kontingent, das reale Exemplar möglicher anderer Welten, verweist also selbst auf die weltübergreifende Sphäre, in der sie als diese bestimmte durch die Macht über ihren Ursprung verwirklicht und zielstrebig erhalten wird.

An dieser Debatte hat die Theologie, nicht zuletzt die reformatorische, teilgenommen und ihr Ergebnis durch systematische Entfaltung der biblischen Sicht unserer Welt als Geschöpf des Gemeinschafts- und Versöhnungswillens ihres Schöpfers durch zwei Hinweise ergänzt:

– Erstens: Das Bild des Menschseins in seiner ihm vorgegebenen Welt bleibt ambivalent, solange nicht die Qualität des Ursprungs und Ziels von Welt zum Inhalt praktischer Gewissheit geworden ist. Gewährt ist solche Gewissheit dem durch die Christusbegegnung geöffneten Blick auf die dauernde Gegenwart des menschlichen Zusammenlebens als Verwirklichung des Welt schaffenden und erhaltenden Gemeinschafts- und Versöhnungswillens Gottes, die also faktisch immer und überall auf das Kommen ihres Eschatons bezogen ist.60

– Zweitens: Diese faktische Zielstrebigkeit von Welt wird erst zu expliziter praktischer Gewissheit durch unverfügbare Erschließungsereignisse, die aber – unbeschadet ihrer Unverfügbarkeit – dennoch praktische Gewissheit schaffen.61

Nota bene: Auf dem variantenreichen Weg zu diesem Ergebnis hat es keinen Konflikt mit den in diese Zeit fallenden epochemachenden Anfängen der modernen Naturwissenschaft und des technologieorientierten Forschens gegeben. Die Kopernikus, Kepler, Galilei, Francis Bacon, Newton haben ihre wissenschaftlichen Einsichten nicht als Infragestellung des Vorgegebenseins der Weltdes-Menschen verstanden und betrieben, sondern als Ergreifung von Möglichkeiten des Erwerbs von Wissen über das menschliche Umweltverhältnis im Werden, seine Bedingungen und Wirkregeln, und als völlig legitime, ja gerade von der biblischen Sicht dieser Welt-des-Menschen freigegebene Steigerungen von Handlungsmacht, die als solche Möglichkeiten des Wissenserwerbs eben mit und in diesem Möglichkeitsraum des menschlichen Zusammenlebens vorgegeben sind.62

Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat eine andere Sicht des Menschseins zunehmend Maßgeblichkeit beansprucht und erlangt: die (schon angedeutete) aus den Sciences stammende Sicht.63 Für diese ist das Menschsein nicht ein solches, mit und in dem die Bedingungen allen möglichen menschlichen Wissens diesem immer schon zu-verstehen vorgegeben sind, sondern ein Sein, das dem Menschen erst durch Wissen gegeben wird, und zwar genau durch das Wissen der Sciences:64 eben sein Wesen als das einer biologischen Spezies, die durch die Entwicklung in nichtmenschlicher Umweltbezogenheit hervorgebracht ist und von anderen Spezies unterschieden durch überlegene Datenverarbeitungsfähigkeit und entsprechend überlegene Fähigkeit zu planvollem Wirken, das nun konsequent auch auf ihn (den Menschen) selber zielt als Optimierung seiner Lebensbedingungen, seiner biotischen mittels Gentechnik und seiner sozialen mittels elektronischer Datenverarbeitung. Dass dieser Weg dem so verstandenen Sein des Menschen widersprechen könnte, ist für diese Sicht ausgeschlossen, weil für sie dieser Weg selbst Ausdruck des Wesens des Menschen als des intelligentestes Tieres ist; und für diese Sicht ebenfalls ausgeschlossen ist, dass dieser Weg das Ziel des Menschseins verfehlen könnte, weil er selbst das Ziel ist.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari konstatiert in seinen beiden Bestsellern »Sapiens. A Brief History of mankind« (2011) und »Homo Deus. A short history of tomorrow« (2016) als die Signatur der Gegenwart die Verabschiedung der neuzeitlichen »Religion des Humanismus«.65 Das ist nicht revolutionär, sondern nur konsequent für eine Sicht des Menschen, die diesen als Produkt der Evolution von nichtmenschlichem Sein im Blick hat.66 Denn – wie von Darwin betont wird – »Der Mensch macht in der Evolution der nichtmenschlichen Natur keine Ausnahme.«67

Demgegenüber hält die christliche Gemeinschaft fest an der christlich präzisierten Version der alteuropäischen Sicht (soweit diese keine andere ist als die systematisch entfaltete Gestalt der biblischen Sicht)68 und behauptet: Die Naturwissenschaft macht keine Ausnahme; sie ist eine Hervorbringung menschlicher Kultur wie alle anderen und steht unter denselben Möglichkeitsbedingungenwie diese alle.69

Das kann die christliche Gemeinde nur mit Hilfe von Theologie, die den nicht sinnlich manifesten (als Datum oder Datenmenge aufzeichenbaren), wohl aber erlebbaren Gegenstand des fixen Textes der gottesdienstlichen Leseschriften und der regula fidei kommunikativ aufzeigt, ihm »zu sehen« gibt und beschreibt.70 Dieser Gegenstand der Texte, ihre res, ist nun aber nichts anderes als eine hinsichtlich ihres Zustandegekommenseins und ihres Inhalts unverwechselbare Gestalt menschlicher Gewissheit über die Verfassung unserer Welt, ihren Ursprung und ihre ursprüngliche Bestimmung. Diese bezeugte Gewissheit wird von der Theologie nicht argumentativ hervorgebracht, sondern expliziert: beschrieben und entfaltet. Insofern arbeitet Theologie gewissheitsexplikativ.

Diese Explikationsaufgabe kann sie freilich nur lösen, indem sie die in den festen Texten des Kanons der Überlieferung71 bezeugte Gewissheit, ihr Zustandekommen und ihren Inhalt, in permanent neuen Situationen und unter wechselnden kommunikativen Umständen beschreibt und damit als eine solche, deren Grund und Gegenstand so beschaffen ist, dass er immer neuen Situationsbedingungen gerecht wird. Die von Theologie verlangte gewissheitsexplikative Leistung kann also nie abschließend erbracht werden, sondern nur in dauernder situationsbezogener Wiederholung und Variation. Was nichts anderes heißt, als dass die gewissheitsexplikative Leistung der Theologie selbst in den Fortgang der Wirkungsgeschichte des zu explizierenden Gewissheitszeugnisses als eine unverzichtbare Bedingung ihres Fortgangs mit hineingehört. Dadurch kommt ihr unvermeidlich auch eine die Gewissheitsexplikation zunehmend konkretisierende Funktion zu – die jedoch nie selbst gewissheitskonstituierend wird: Die Wirkung der theologischen Gewissheitsexplikation bei ihren Adressaten bleibt, auch wenn sie zunehmend konkret wird, immer unverfügbar und an Evidenzereignisse gebunden, die den einzelnen Adressaten des Evangeliums durch ihr alltägliches Sich-selbst-Erleben-im-Zusammensein mit anderen zugespielt (oder eben vorenthalten) werden.

Aber nicht nur der spezifische, unverwechselbare Charakter der in Kanon und Glaubensbekenntnis bezeugten christlichen Welt-, Weltursprungs- und Weltzielgewissheit ist von Theologie zu explizieren, sondern zugleich auch deren exemplarischer Charakter: als spezifische Ausprägung eines gewissen Erwartens – gerichtet auf die Welt und ihr Eschaton –, ohne das das menschliche Zusammenleben überhaupt nicht möglich ist, weil diesem mit seiner dauernden Gegenwart sein eigenes Sein zu-verstehen vor- und aufgegeben ist als Zusammenleben in der Gleichursprünglichkeit von personalem Selbst-, Umwelt-, Welt- und Ursprungsverhältnis, so dass dieses Zusammenleben daher stets ein bewährtes gemeinsames Erwartungswissen (praktische Gewissheit) in der beschriebenen dreifachen Gestalt verlangt, das

– als gemeinsame praktische Weltgewissheit gemeinsame Identifikationen ermöglicht, sowie

– als gemeinsame Letztzielgewissheit Zielwahlen und

– als aus den sciences stammende Regelgewissheit über das Umweltverhältnisim-Werden Wegewahlen leitet.72

So insistiert Theologie, indem sie den exemplarischen Charakter der christlichen Welt- und Weltzielgewissheit deutlich macht, darauf, dass es überhaupt keine Interaktion von menschlichen, leibhaft-innerweltlicher Personen gibt ohne eine solche zielwahlleitende praktische Gewissheit und darum auch nicht außerhalb eines jeweils durch eine solche fundierten Ethos: keine politische Interaktion, keine wirtschaftliche Interaktion und keine Interaktion, die dem Erwerb und der der Kommunikation von gemeinsamen handlungsleitenden praktischen Gewissheiten – seien sie wegewahlleitend oder zielwahlleitend – dient. Alles dies vollzieht sich zwischen Menschen – immer und überall – innerhalb des jeweiligen »Ethos«, das für sie aufgrund ihrer Bildungsgeschichte herrschend geworden ist.73

Und indem Theologie zugleich die unverwechselbare Spezifität der christlichen Welt- und Gottesgewissheit (also Weltzielgewissheit) expliziert, expliziert sie das Fundament des christlichen Ethos, das die Interaktion von Christen mit Christen und Nichtchristen in allen Grundfunktionsbereichen leitet, also

– christliches Zielwählen in Politik, Gesetzgebung und Rechtswaltung,

– christliches Zielwählen im Bereich des Wirtschaftens,

– christliches Zielwählen im Betrieb von sciences (»Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang«)

– christliches Zielwählen im Diskurs der christlichen mit anderen Weltanschauungs- und Ethosgemeinschaften.74

Als eine solche Ethosgemeinschaft setzt sich die Glaubensgemeinschaft nicht mit dem Gemeinwesen gleich, macht aber darauf exemplarisch aufmerksam, dass es überhaupt keine Interaktion außerhalb eines bestimmten Ethos gibt, und fragt damit alle Nichtchristen nach ihrem Ethos und dessen Fundamenten und tritt heute ein für ein Gemeinwesen mit unrestringiertem Pluralismus:75

Die Devise »Von der Konkurrenz zur Kooperation« gilt für das Verhältnis von Christentum und Sciences nur, solange Selbstmissverständnisse auf beiden Seiten herrschen. In Wahrheit gilt diese Devise ausschließlich für das Verhältnis zu anderen Weltanschauungs- und Ethosgemeinschaften und den Institutionen ihrer Gewissheitskommunikation und -explikation (innerhalb deren sich – wiederum das Vermiedensein von Missverständnissen vorausgesetzt – dieselbe Nichtkonkurrenz zwischen ethosfundierender, nämlich zielwahlleitender Weltursprungs- und Weltzielgewissheit und wegen bleibender Regelgewissheit wiederholt) – jedenfalls sofern diese anderen Weltanschauungs- und Ethosgemeinschaften selbst pluralismusfähig sind, indem sie ihre besondere perspektivische Sicht der universalen Bedingungen des Menschseins von deren uneinholbarem, alle umfassendem Vorgegebensein und zu-verstehen-Gegebensein für sie und alle anderen Positionen unterscheidet.

3.3 Soweit zur Präsenz der christlichen Ethosgemeinschaft und ihrer Gewissheitskommunikation auf der Ebene der gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Sie ist aber auch im Alltag präsent.

Es ist nicht nur dogmatisch,76 sondern auch empirisch falsch,77 dass individuelles christliches Leben im Gegensatz zum Leben der Glaubensgemeinschaft oder gar unabhängig von ihm real sein könnte oder wäre. Vielmehr orientieren die Einzelnen die eigene Wahl ihrer individuellen Lebenswege jeweils an ihrer eigenen individuellen Aneignungsgestalt derjenigen Sicht der Welt und ihres Ziels, die ihnen in der Glaubensgemeinschaft als die gemeinsame zu verstehen gegeben wird. Und das geschieht vor Ort: nämlich fundamental, umfassend und auf Dauer im örtlichen Gottesdienst im Kirchenjahr:

Von Advent bis Trinitatis bezeugt der die Wahrheit des Lebenszeugnisses Jesu für das Dauern der Gegenwart unseres Zusammenlebens als die in Selbstverwirklichung begriffene Herrschaft Gottes über seine Schöpfung; und er feiert das Aufgehen der Wahrheit dieses Evangeliums als das Licht auf dem Weg, den jeder Einzelne zu gehen hat. Art und Ziel dieses Weges bedenkt die zweite Hälfte des Kirchenjahrs: seine Eigenart als des Weges, der zuerst und zuletzt Gottes eigener Weg ist, auf dem dieser selbst noch unterwegs und im Kommen ist zu seinem Ziel: der Vollendung der geschaffenen Welt-seines-Ebenbildes, ihrem Ganz- und Fertiggewordensein. Weil auf dieses Ziel gerichtet (nämlich das Ziel des geschaffenen Ebenbildes Gottes), ist der Weg Gottes ipso facto der Weg, den jeder Mensch eigenverantwortlich mitzugehen hat: und zwar dem Ziel Gottes entgegen, das auch das objektive Ziel jedes Menschen ist: die Hineingeburt seines im Mutterschoß dieser Welt ganz- und fertiggewordenen Lebens in die Allgegenwart von Gottes ewigem Leben.78 Die befreiende Gewissheit dieses Zusammenfallens des Zieles von Welt und Mensch mit dem Ziel Gottes wird am Ewigkeitssonntag bekannt, auf den die Feier und Verkündigung des Evangeliums im Kirchenjahr zuläuft.

Diese Teilnahme vermittelt den teilnehmenden Einzelnen ihre je individuelle Teilhabe an der praktischen Gewissheit des christlichen Glaubens und setzt sie instand, im Licht dieser Gewissheit die Wege ihres Lebens als das Erfüllen ihrer Bestimmung zu wählen und zu gehen und sie dann zu erinnern als das Erfülltsein ihrer Bestimmung. Sie können erfahren: »Dienst macht frei« in einer nicht an soziohistorische Konstellationen gebundenen Weise, und erbitten, was sie erhoffen: »zur Abendzeit« »erwünschten Lohn« zu empfangen (EG 494,6), nämlich das Urteil: »Ei, du frommer und getreuer Knecht […] geh ein zu deines Herren Freude« (Mt 25,21).

Der Gottesdienst ist aber auch cultus publicus, öffentlich präsent und für unterschiedliche Weisen teilnehmender Erfahrung zugänglich. Auch in der Gegenwartsgesellschaft artikuliert er also auf deren »agora« und an die Adresse von deren Meinungsführern die biblische Sicht des Menschseins in ihrer christlich präzisierten alteuropäischen Gestalt und bezeugt in der Öffentlichkeit assertorisch,79

– dass zu unserem gemeinsamen Erwartungswissen über technisch-orientierende, wegewahlleitende Scienceprodukte hinaus auch eine praktisch gewisse zielwahlleitende Sicht der Welt und ihres Eschatons hinzugehört,

– dass also der Weg das Ziel nicht ist, sondern ein Ziel hat – eines, das nicht in der Welt, sondern von ihr erreicht wird, somit (metaphorisch geredet) nicht »vorne«, sondern »oben« liegt,

– dass der nachhaltige Umgang mit unserem Zusammenleben, der es nicht unnötig verkürzt, erst durch Orientierung an dieser vorgegebenen Bestimmung von Welt und Leben erreicht wird,80 und

– dass also auch die Wissensgesellschaft der Gegenwart, wie jede frühere und spätere, Aufklärung nie hinter, sondern stets vor sich hat – Aufklärung über ihre Bestimmung.

Soweit meine angekündigten Vorschläge. Ob sie akzeptabel sind oder nicht, ist zu prüfen. Die dafür erforderliche Diskussion braucht ihre Zeit und beteiligt alle Fächer der Theologie. Sollte sich ergeben, dass die Dinge anders liegen als skizziert – vielleicht sogar günstiger –, sage ich nur: »Um so besser!«81

Christentum und Europa

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