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I. Zur Themenkonstellation: Christlicher Glaube – Theologie – Naturwissenschaften. Fünf Gründe für die Komplexität des interdisziplinären Gesprächs

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Die Relation von christlichem Glauben, Theologie und Naturwissenschaften enthält mindestens drei, mehrfach variierbare Konstellationen, deren Komplexität sich im Falle des interdisziplinären Gesprächs mindestens durch die im Folgenden genannten fünf Aspekte multipliziert. Manche von ihnen erscheinen beim Lesen als so banal, dass sie anscheinend kaum der Erwähnung bedürfen, erweisen sich in der interdisziplinären Kooperation aber regelmäßig als Stolpersteine der gemeinsamen Forschungspraxis, deren Chancen und Risiken zu erörtern ich für diesen Beitrag gebeten worden bin: Der erste Grund für die Komplexität solcher Kooperationen liegt in der internen Vielfalt der christlichen Glaubensgemeinschaften und der auf diese respondierenden Theologie. Unsere positionelle Vielfalt lässt sich ob der konstitutiven Vorgängigkeit christlicher Glaubensvorstellungen, -akte und -ansprüche und deren methodisch geschulter, kritischer Deutungsbedürftigkeit in keine normative Einheitsfigur aufheben. Denn, so lässt sich mit Christoph Schwöbels umfassender Darstellung des Wissenschaftsbegriffs der Theologie argumentieren, christliche Theologie hat es nicht nur mit der Reflexion tradierter Glaubensvorstellungen und -praxen zu tun, sondern ebenso maßgeblich mit der Reflexion von Wirklichkeitsdeutungen, die sie in Differenz zur praktizierten Frömmigkeit und dennoch aus der Perspektive des christlichen Glaubens ausführt.2 Diese Vielfalt christlicher Wirklichkeitsdeutungen ist darüber hinaus ihrerseits Teil einer epistemologischen Vielfalt, die gegenläufige, polyvalente und kontradiktorische Momente in sich trägt und sich einer einlinigen Systematik entzieht: Religiöse Deutungsprozesse vollziehen sich multiperspektivisch und selbstwidersprüchlich bei postulierter gleichzeitiger und gleichwertiger Geltung und theologische Deutungsmuster bedienen sich einer Vielfalt methodischer Zugriffsweisen, die allein in der Systematischen Theologie mindestens das weite Spektrum von transzendentalphilosophischen, hermeneutischen, phänomenologischen oder analytischen Aspekten und deren jeweiligen Untergruppierungen umfasst. Insofern gilt mit Walter Sparn: Die »institutionellen Akteure, konfessionellen Kirchen [d. h. in diesem Fall: auch die Theologie, CR] verkörpern nicht als solche ›das‹ Christentum, auch nicht ›die‹ christliche Wissenskultur«, sondern bringen unterschiedlichste Perspektiven ins Gespräch ein.3

Der zweite Grund liegt darin, dass sich diese Konstellation unter den Bedingungen des interreligiösen Pluralismus nochmals multipliziert und sich zudem keine religiöse oder sonstige Strömung frei machen kann von ihrem historischkulturellen, weltanschaulichen Kontext. Im Ergebnis haben wir es daher mit einem bunten, zum Großteil unbewusst formulierten und gestalteten Panoptikum zu tun, dessen Dechiffrierung das gesamte Instrumentarium hermeneutischer Deutungskompetenz sowie sozialer und politischer Gestaltungskraft erfordert. Dass diese Dechiffrierung eine unverzichtbare Aufgabe der Theologie für die Gesellschaft ist, das hat uns Peter Strohschneider 2011 in seiner Kommentierung der Empfehlungen des Wissenschaftsrates ausdrücklich ins Stammbuch geschrieben, und zwar als Aufgabe der »Theologien im Plural« mit dringendem Bewusstsein für den veränderten »›Sitz im Leben‹ der Theologien«.4

Drittens ist die Theologie zwar im deutschsprachigen Raum trotz ihrer positionellen Vielfalt noch vergleichsweise homogen institutionalisiert an die Universitäten gebunden. Im europäischen Kontext war bzw. ist die Theologie jedoch oft nur gegen politischen Widerstand durchsetzbar wie z. B. in Polen, in Tschechien oder in Rumänien.5 Oder sie ist längst zersplittert in Religious Studies, die einem nicht klar definierten Profil religiöser Gemeinschaften nahestehen, wie z. B. in den Niederlanden und mehreren Universitäten im englischsprachigen Raum.6 In den skandinavischen Ländern ist sie auf wenige große Fakultäten beschränkt und verteilt sich ansonsten auf eine breite, durchwegs diakonisch und katechetisch ausgerichtete Gemeindeperspektive.7 In Südeuropa und in Frankreich tritt die Theologie katholisch oder marginalisiert auf, so dass die entsprechenden interdisziplinären Kooperationen vor Ort von vornherein schwierig sind und das Heil in den großen europäischen Forschungsprogrammen gesucht werden muss.8 Dass wir in dieser Hinsicht in Österreich, Deutschland und der Schweiz geradezu auf einer »Insel der Seligen« arbeiten dürfen, ist ein hohes Gut.

Für das Gespräch zwischen der Theologie und den Naturwissenschaften kommt viertens hinzu die international unterschiedlich gehandhabte, disziplinspezifische methodische Logik, mit der die nicht-theologischen Disziplinen die genannten multiplen Konstellationen in Christentum und Theologie, Philosophie und Ethik wahrnehmen und mit ihren eigenen Geltungsansprüchen verbinden. In den mir etwas näher vertrauten Disziplinen der Medizin, der Psychosomatik, Psychiatrie und Psychotherapie zeigen sich diese Divergenzen z. B. im Grad der Bereitschaft zur Einbindung der Geisteswissenschaften in die Entscheidung zwischen konservativer oder chirurgischer Therapie, ambulanter oder stationärer Psychiatrie, zur Gestaltung therapeutischer und palliativer Zentren, zur personellen Zusammensetzung der Behandlungsteams oder in den Entscheidungen der Ethik-Konsile.

Fünftens gilt zugleich, dass sich die Frage von Konkurrenz oder Kooperation nicht zwangsläufig anhand institutioneller, disziplinärer und methodischer Grenzen entscheidet: In historischer Hinsicht hat Ludger Honnefelder mehrfach die Bedeutung der Theologie für die Idee der Universität und die Wechselwirkung zwischen Theologie und sogenannten Naturwissenschaften demonstriert;9 exemplarisch lässt sich dies anhand der historischen Rekonstruktion des Prozesses Galileo Galileis nachvollziehen, dessen Ursache laut Christian Schwarke nicht in seinen naturwissenschaftlichen Forschungen lag, sondern in den damit verbundenen Ansprüchen samt den daraus resultierenden popularisierten Deutungsmachtkonflikten zwischen Kirche und Wissenschaft.10 In der jüngeren Forschungslage wird man sogar von einer wechselseitigen Faszination ausgehen dürfen: Christian Schwarke hat darauf hingewiesen, dass es nicht nur in der Philosophie, sondern auch von der Physik bis zu den Neurowissenschaften seit den 1990er Jahren auffällig viele Publikationen gibt, die den Gottesbezug im Titel tragen, und Michael Bergunder hat auf einem der früheren Kongresse das Verhältnis moderner Wissenschaft zur Esoterik nachgezeichnet.11 Besonders Forschungsfelder in der Theoretischen Physik wie z. B. die String-Theory / High Energy Physics zeigen eine hohe Nähe zu metaphysischen und spekulativen Denkmodellen und setzen sich explizit mit kosmologischen Fragestellungen auseinander.12 An dritter Stelle sei auf den Beitrag von Dirk Evers verwiesen, der erläutert, inwiefern die in den Naturwissenschaften ihrerseits artikulierten Irritationen über deren eigene Fachkonstellationen geradezu mit der Bitte um Hilfestellung für eine wissenschaftstheoretische und hermeneutische Selbstdeutung einhergehen.13

Ein Grund für die wechselseitige Attraktion dürfte darin liegen, dass die einst die Forschungsfelder definierenden Disziplinen inzwischen abgelöst sind durch Forschungskonstellationen, die sich an fächerübergreifenden Sachinteressen (Clusterbildung) einerseits, aber andererseits auch an Denktypen und (nur undeutlich bzw. implizit artikulierbaren) Vergewisserungssehnsüchten ausrichten: Dass sich historische, analytische, hermeneutische, ontologische oder empirische Denktypen innerhalb der Theologie jeweils vergleichsweise problemlos auf internationaler Ebene treffen, wissen wir seit Langem; es gilt ebenso für die interdisziplinären Konstellationen samt der zugehörigen Förderinstitutionen, wie z. B. der Templeton Foundation und ihrer Vorliebe für Projekte, die mit ontologischen oder empirischen Fragen das Realismusproblem bearbeiten; in der aktuellen Bioethik zeigt es sich z. B. an den differenten und konfliktanfälligen Positionierungen im Deutschen Ethikrat oder in kleinteiligeren Ethik-Konsilen, in denen sowohl im Blick auf neue Forschungs- und Therapieprozesse als auch auf Einzelfall-Entscheidungen zwar hochgradig differente Positionierungen durchgearbeitet werden müssen, genau dies aber die Notwendigkeit der Kooperation erst hervorhebt. Denn Deutungsmachtkonflikte im Sinne eines oppositionellen Konfliktes entstehen primär dort, wo die Deutungszuständigkeit ungeklärt oder strittig ist.14 Deutungskooperationen hingegen entstehen dort, wo die jeweils spezifische Deutungszuständigkeit anerkannt ist, aber die der Sachfrage geschuldete Intersektionalität der Deutungsperspektiven bewusst ist; Markus Mühling meint in diesem Zusammenhang sogar mit dem Toleranzbegriff arbeiten zu sollen und unterscheidet zwischen totalitären und nicht-totalitären Wirklichkeitsverständnissen bzw. Ideologien, weil es ihm um den Gedanken letzter Unverfügbarkeit von Überzeugungen bzw. (mit Eilert Herms) von Gewissheiten geht.15 Ungeachtet der asymmetrischen Problematik des Toleranzbegriffs lässt sich für die Frage nach den Gründen der Anziehungskraft zwischen Theologie und Naturwissenschaften diese Akzentuierung von Gewissheit und Vergewisserung aufnehmen und mit Christian Schwarke ergänzend als eine »Art ›Hintergrundstrahlung‹« erklären,

»die alle Beschäftigung mit dem Thema [der Kosmologie; CR] durchzieht: Es geht um die Freiheit. Sich ihrer zu vergewissern im Blick auf die eigene Existenz, die Wissenschaft und den Glauben, [dem] dient der Rekurs auf Gott. Denn beide, Physik und Kosmologie, folgen der Intuition, dass das Ganze auch das Wahre sei. Es zu kennen oder zumindest zu wissen, wie man es erkennen könne, bedeutet danach jene Freiheit, die das Individuum beim Blick in die Unendlichkeit nicht zu sehen bekommt.«16

Christentum und Europa

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