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1. Wissen, Verstehen, Bildung
ОглавлениеDas heutige Motto, »Das Christentum in der europäischen Wissenskultur«, spannt unseren Fragehorizont ebenso weit auf wie die bisherigen Titel, ist doch nicht nur von der modernen Wissenschaftskultur, sondern von der europäischen Wissenskultur die Rede. Der Ausdruck »Wissenskultur« variiert vermutlich den soziologischen Neologismus »Wissensgesellschaft« und wird meist zur Charakterisierung der wissenschaftlich-technischen Dynamik ›westlicher‹ Gesellschaften gebraucht: Im postindustriellen Zeitalter sei neben Arbeit und Kapital das informationstechnologisch verfügbare Wissen als die dritte Ressource gesellschaftlicher Wertschöpfung getreten. »Wissen« meint in diesem Zusammenhang wohl vor allem das Ergebnis der Rezeption und Kombination von Informationen, die einen über analoge und digitale Medien erreichen. Man kann fragen, wie viele Leistungen des Verstehens hierbei erforderlich und welcher Art sie sind. Sind solche Leistungen eher unwichtig oder betreffen sie nur den Gebrauchswert, gar nur den Geldwert der akquirierten Information? Die einer Wissensgesellschaft zuarbeitenden Universitätsreformen der letzten Zeit geben jedenfalls manchen Anlass zur Frage: »Wissensgesellschaft! – Aber ohne Bildung?«1
Eine solche Frage wird nun durch die semantische Umstellung von »Wissensgesellschaft« auf »Wissenskultur« nicht schon hinfällig. Es könnte ja sein, dass die Zuordnung von »Wissen« zu »Kultur« ein Problem menschlichen Wissens in den Hintergrund schiebt, das schon alt ist, nämlich die Verbindung von Wissen und Macht. Die Ambivalenz dieser Verbindung hat sich in Wissensgesellschaften aber dramatisch verschärft. Die intendiert totale Verfügbarkeit und (scheinbare) Kostenfreiheit zumal von digitalisiertem Wissen verschleiert, dass es eine geldwerte und damit potenziert machtaffine Ware geworden ist. So fragt sich auch unter diesem Aspekt, was »Wissen« bedeutet. Ist das Wissen von Wissensgesellschaften noch – ich greife weit – der Tugend der Weisheit benachbart, wie ein langwährender europäischer Konsens besagte? Oder wird es in Wissensgesellschaften auf die Nutzungsmaximierung der Koalition von Macht und Geld zugerichtet? Als Kapital kennt Geld, und das ist schon länger bekannt (schon Martin Luther wies darauf hin), keinen abnehmenden Grenzwertnutzen; den Sinn, der seine Materialität als Tauschmedium transzendiert, hat es im schieren Immer-noch-mehr.
Im Kontrast zu diesen Sorgen nehme ich an, dass »Wissenskultur« im Motto des heutigen Tages ein Wissen meint, das sich seiner Motive, Gründe und Bedingungen, mithin auch der Grenzen seiner Reichweite und seiner Nützlichkeit bewusst ist; ein Wissen, das zwischen schöner Fülle und schmerzhaftem Mangel ausgespannt bleibt. Ein solcher, auch theologisch seit jeher zu verlangender Wissensbegriff gehört ganz ohne Zweifel in die Genealogie des neuzeitlichen Begriffs der Bildung, der den genannten Merkmalen von Wissen das Merkmal der Selbstreflexivität des Subjekts von Wissen hinzugefügt hat2 – Bildung ist im Deutschen m.E. nach wie vor der vollständigste Begriff von Wissen. Allerdings kompliziert die Trias Wissen – Verstehen – Bildung die gestellte Frage, was das Christentum in der und für die europäische Wissenskultur bedeute.
Denn das Christentum war und ist nicht nur seinerseits eine Wissenskultur, sondern bildete über Jahrhunderte hin die spezifische Form der europäischen Wissenskultur. Man kann daher die Geschichte des Christentums auch als eine dynamische Wissenskulturgeschichte erzählen, eine Geschichte voll von stupenden Erweiterungen des Wissens, von Erschließung neuer Wissensquellen, Institutionen des Lernens und der Lesefähigkeit von mehr und mehr Menschen. In dieser Meistererzählung der fortschreitenden Bildungsgeschichte des christlichen Abendlandes spielen Kirchen, Klöster, akademische Gymnasien, Stadtschulen und Universitäten, spielen Bildungsinitiativen wie der Humanismus, die Reformation, der Jesuitenorden und die fromme Aufklärung glanzvolle Rollen. Erst in jüngster Zeit greift diese Erzählung auch weniger elegante Nachrichten von den moralischen und religiösen Kosten der christlichen Bildungsgeschichte auf, so dass sie auseinandertritt in stark kontrastierende Differenzerzählungen. Nicht zufällig sind die neueren Großerzählungen fokussiert auf den ästhetischen Aspekt, auf Musik und vor allem bildende Kunst, die sich der ›hochkulturellen‹ Produktivität des Christentums verdanken.
Die Faszination des Ästhetischen kann jedoch die Frage nicht zum Verschwinden bringen, ob sich eine christlich perspektivierte Wissenskulturgeschichte in die aktuelle Wissenskultur Europas kontinuierlich oder auch nur als Kontrast fortschreiben lässt. Auch wenn man die obsolet gewordene Annahme eines linearen Fortschritts von Wissenskultur revidiert durch die einer spannungsvollen Dialektik, kann man das Christentum seit dem Ende des Corpus Christianum und seiner Symmetrie von christlicher Religion und Gesellschaft nicht mehr als erstbestimmenden wissenskulturellen Akteur ansehen. Dies schon deshalb nicht, weil seine Institutionen, konfessionelle, rechts- und lehrförmig verfasste Kirchen, nicht als solche das Christentum verkörpern, auch nicht die christliche Wissenskultur, die vielmehr auf den Schultern vieler und auch sehr eigensinniger Akteure steht. Überdies lassen sich die vielen und heterogenen europäischen Wissenskulturen keineswegs als Spezies einem substantiellen Genus »europäische Wissenskultur« zuordnen. Sie bilden materiell und sogar methodisch eine durch nationale, juridische, ökonomische, mediale, auch religiöse Kontexte und Logiken regionalisierte Pluralität; ihr analogietragendes Gemeinsames wird wohl am besten mit Ludwig Wittgensteins Terminus der »Familienähnlichkeit« beschrieben. Ohne normative Homogenitätsannahmen lässt sich erfolgreicher nach Wechselwirkungen und Resonanzen zwischen diesen Wissenskulturen fragen. Übrigens muss man dazu viel, aber nicht alles wissen, wie das wohl auch der Vorstand unserer Wissenschaftlichen Gesellschaft meinte, als er mir den Blick auf Historiographie, Philologie, Philosophie und Recht empfahl, aber Politik, Ökonomie oder Pädagogik nicht erwähnte. Die Logik dieser Aufteilung könnte man noch diskutieren …
So möchte ich nicht einzelne Kultursphären exemplarisch oder in- oder auch abduzierend in Betracht ziehen; ich versuche mich auch nicht an einer allgemeinen Kulturtheorie auf der Basis einer theologisch inspirierten scientia generalis, so sehr deren neueste Fassung zur passionierten Debatte verlockt. Ich frage vielmehr nach mehrerenorts ähnlichen strukturellen Herausforderungen und gehe dabei von der Hypothese aus, dass moderne Wissenskulturen die Daten, die sie als quantitative im Übermaß zur Verfügung haben, auch in qualitativen Kategorien verstehen müssen – dann jedenfalls, wenn die (nur methodisch abstrakten) Subjekte des Wissens ihre Existenz in lebensweltlichen Situationen und Konstellationen mitwissen. Und das müssen sie leisten, wenn sie urteilsfähige Distanz zum Gewussten gewinnen und ihr Wissen in orientierungspraktischer Absicht artikulieren und kommunizieren wollen. Wegen dieser bildungsaffinen Nötigung habe ich das bekannte Zitat aus der Apostelgeschichte (8,31) als Überschrift gewählt; unterstellt natürlich, dass »Lesen« sich auf alle indexikalischen, ikonischen und symbolischen Zeichen erstreckt, die uns unsere Welt zu verstehen geben.
Sieht man von szientistischen oder neoliberalen Attacken gegen angeblichen Bildungsluxus ab, so negieren die aktuellen hermeneutischen und wissenschaftstheoretischen Debatten keineswegs den elementaren Sachverhalt, dass menschliches Wissen stets im Kontext von Verstehen erworben und gebraucht wird, ferner dass Verstehen stets ein Sich-Verstehen und stets auch ein Sich-Verstehen-auf einschließt. Dies Verstehen expliziten und impliziten Wissens ist ein Moment aller Bildungsprozesse; verstandenes Wissen fällt daher nicht auseinander in Wissensgläubigkeit und Wissensverachtung. Diese fatale Alternative zu vermeiden, wäre nicht das geringste Ergebnis der tätigen Bildungsverantwortung des Christentums in der europäischen Wissenskultur.