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1. »Gesellschaft der Neuzeit«

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Seit ihrem Aufkommen im 15. Jahrhundert ist die Referenz der Rede von der »neuen Zeit«5 komplex.

– Erstens meint sie die Gegenwart der Sprecher im Unterschied zu früheren »Zeiten« (aetates)6, also das, was dann Fichte7 das »gegenwärtige Zeitalter« nannte,8 und zugleich

– zweitens die Gegenwart des menschlichen Zusammenlebens9 nicht in einer Herde, sondern einer societas: einer Gesellschaft,10 eben in der »Gesellschaft der Neuzeit«, will sagen: der »Gegenwartsgesellschaft«.11 Damit ist

– drittens faktisch stets das Ganze dieses Zusammenlebens gemeint, wenn auch meist in wechselnder Fokussierung auf einzelne Aspekte: in Konzepten wie »Ständegesellschaft«, »bürgerliche Gesellschaft«, »säkulare Gesellschaft«, »pluralistische Gesellschaft«, »Industriegesellschaft«, »Marktgesellschaft«, »Konsumgesellschaft«, »Konkurrenzgesellschaft«, »Risikogesellschaft«, »Erlebnisgesellschaft« und neuerdings eben auch »Wissensgesellschaft«.

Weil diese Konzepte jeweils »Gesellschaft« als Zusammenleben von Menschen thematisieren, sind sie alle (zumindest implizit) geleitet von je einer fundamentalanthropologischen Auffassung der universalen Bedingungen menschlichen Seins und Zusammenlebens, also von dem, was den Möglichkeitsraum des menschlichen Zusammenlebens ausmacht, eben: die »Welt-des-Menschen«. Das gilt auch für meinen Vorschlag zur Referenz der Rede von »Gegenwartsgesellschaft«. Die Sicht, die ihn leitet, ist folgende:

Menschen, leibhafte Personen, existieren im Licht ihres dauernden (währenden) Gegenwärtigseins für sie selber, und das heißt im Licht ihres Erinnertseins für sie selber, welches (auf dem Boden und vermöge seines währenden Gegenwärtigseins für sie selber) einschließt ihr Sich-selber-Erwarten.12 Menschen erinnern und erwarten ihr ihnen dauernd gegenwärtiges (erschlossenes) eigenes Gewordensein und Im-werden-Bleiben im Lichte seiner Möglichkeiten – und zwar ihr Gewordensein und Im-werden-Bleiben durch ein Kontinuum radikalen und relativen Fremdbestimmtwerdens, das als solches die unabweisbare Zumutung von Selbstbestimmung (also des eigenen selektiven Verwirklichens eigener Möglichkeiten) begründet und einschließt. Somit vollzieht sich das Zusammenleben von Menschen in vier gleichursprünglichen Beziehungsdimensionen:

– in ihrem Verhältnis zu sich selbst, d. h. zu ihrem eigenen leibhaft-innerweltlichen Personsein, das ihnen dauernd gegenwärtig ist als ihnen eigenverantwortlich durch sie selbst zu verstehen und mitzugestalten vor- und aufgegeben, also in diesem Sinne in ihrem »Selbstverhältnis«,13

– im Verhältnis zur menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt,

– im Verhältnis zu dem real bestimmten Möglichkeitsraum ihrer durch Fremdbestimmung bedingten Selbstbestimmung, also im Verhältnis zu ihrer Welt (= Sphäre aller möglichen menschlichen Umweltverhältnisse) und

– im Verhältnis zum Ursprung des Realseins dieser Welt, auf den diese selber vermöge ihres kontingenten Realseins verweist.14

Nur in diesen vier Beziehungsdimensionen können menschliche Personen die Selbstbestimmung unter der Bedingung dauernden relativen und radikalen Fremdbestimmtwerdens, zu der sie sich bestimmt finden, vollziehen; und deshalb auch nur in der dauernden interaktiven Bearbeitung und Lösung von vier gleichursprünglichen Aufgaben des Zusammenlebens:

interaktive (genau: nur durch das Zusammenwollen und Zusammenwirken von leibhaft-innerweltlichen Personen erreichbare) Sicherstellung des Lebensunterhalts,

– gleicherweise interaktive Sicherstellung der Interaktion gegen Störung durch Gewalt, sowie

kommunikative (die jeweils realisierten Möglichkeiten des Zusammenwollens und Zusammenwirkens festlegende) Unterhaltung von einerseits gemeinsamen Überzeugungen über die Wirkregeln, die im Werden der Bestimmtheit ihres Umweltverhältnisses herrschen,

– und zugleich andererseits gemeinsamen Überzeugungen hinsichtlich des bestimmten Möglichkeitsraumes dieses Werdens, also hinsichtlich ihrer Welt (zur Identifikation ihres aktuellen Gewordenseins und individuellen Ortes innerhalb der Welt)

– und hinsichtlich des Grundes von deren kontingentem Realsein (des Warums) und damit auch von dessen Ziel (des Wozu und Woraufhin des Dauerns ihrer Welt).15

Diese vier Aufgaben sind auf Dauer gestellt und können daher nur in Institutionen gelöst werden,16 jede also jeweils nur in einer aufgabenspezifischen Ordnung und alle – wegen ihrer Gleichursprünglichkeit – nur in einer jeweils faktisch herrschenden Ordnung ihres omniinterdependenten Zusammenspiels. Diese Gesamtordnung kann, aber muss nicht in der Lebenswelt direkt erfahrbar sein, gibt dieser jedoch stets ihr spezifisches Profil. Somit ist zu unterscheiden

– zwischen den verschiedenen Ordnungen der Interaktion in den verschiedenen Grundaufgabenbereichen,

zwischen diesen Bereichsordnungen und der zwischen ihnen jeweils herrschenden Gesamtordnung, sowie

zwischen der Ebene dieser Gesamtordnung und der Ebene der durch sie jeweils konditionierten Lebenswelt.

Ausgetragen werden diese Unterschiede durch Kommunikation in der Öffentlichkeit, die jeweils irgendwie medial (durch Medien) strukturiert ist.17

Im Rahmen dieser universalen Bedingungen erzeugt, erhält und verändert das Kontinuum des Zusammenlebens relativ dauerhafte Ordnungsgestalten des Zusammenlebens – also auch die gegenwärtige Gestalt – als je eine unverwechselbare Variation des Verhältnisses zwischen den benannten invarianten Grundbedingungen des Zusammenlebens.18

Soweit mein Vorschlag zur Referenz der Rede von »Gesellschaft der Neuzeit«, also jeweils der »Gegenwartsgesellschaft«.

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