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4. Intelligente Torheit als theologische Wissenskultur
ОглавлениеIn meinem Versuch, Bedeutung des Christentums in den und für die jeweils umgebenden Wissenskulturen und deren Rückwirkung auf die christliche Wissenskultur zu erkunden, habe ich oft das Merkmal der Ambivalenz angesprochen. Das ist in gewisser Weise zu harmlos, weil dieses Merkmal nicht nur das Christentum kennzeichnet. Für die religionskulturelle Intelligenz christlicher Prägung spezifisch ist erst eine Ambivalenz zweiter Potenz, die darin zutage tritt, dass sie auch ihre Akte unzweideutiger Affirmation nicht wiederum bloß affirmiert (ad infinitum), sondern sich im gelassenen Bewusstsein der Endlichkeit ihres Wissens immer wieder auch in eine kritische, ja ironische Beziehung dazu setzt. Sie folgt damit nicht nur der zu jeder Bildung gehörenden Selbstrelativierung des weisen, d. h. des verstandenen Wissens – der Weise ist nicht so dumm zu behaupten, er habe närrische Torheit schon lange hinter sich gelassen.11 Die christlich geprägte Bildung relativiert auch dieses Wissen und Können nochmals im Bewusstsein seiner Vorläufigkeit; sie folgt der paulinischen Dialektik von Weisheit und Torheit (1Kor 1f.). Zu ihr gehört daher auch die Freiheit, vom kulturell je Erfolgreichen abzuweichen und gegen das allgemein Zustimmungsfähige aufzutreten. Die christlich inspirierte religionskulturelle Intelligenz darf und soll, wenn es an der Zeit ist, so auftreten, dass sie als dubioser, törichter Störenfried beschimpft wird. Manches davon ist punktuell, manches ist längerfristig an der Zeit. Drei solcher auch längerfristig sinnvollen Devianzen möchte ich abschließend zur Diskussion stellen.
Zur christlichen Pflege des europäischen religionskulturellen Gedächtnisses gehört es, das vergessene, vielleicht aber auch abgespaltene Wissen aus dem Schatten zu holen und für neuerliches, selbstkritisches Nachdenken zu ›retten‹ – Gotthold Ephraim Lessing musste das noch gegen Theologen aufbieten, obwohl diese wissen können, dass die Weltgeschichte nicht schon das Weltgericht ist, auch wissenskulturell betrachtet nicht. Eine solche Rettung ist nicht ganz schwierig bei archäologischen Zeugnissen, die das in ihnen eingeschlossene Wissen nicht immer preisgeben; sie ist schon beschwerlicher bei Dokumenten expliziten Wissens, die der Verurteilung durch die herrschende Wissensmacht verfielen oder durch besseres Wissen überholt zu werden schienen. Wenn ich als Beispiele dafür die jüdische Frömmigkeit, das Religionswissen von Frauen oder die für das frühneuzeitliche Christentum so wichtige Astrologie nenne, so ist das wissenschaftspolitisch schon fast wieder korrekt, aber trotzdem richtig. Auch so bedeutsame Formationen wie der hermetisch-paracelsische Komplex oder die christliche Kabbala haben noch kaum einen Platz in der religionskulturellen Ökonomie der Theologie, die dem Wissensanspruch der zeitgenössischen Esoterik daher eher linkisch als intelligent begegnet.
Es ist keine bildungsbürgerliche Grille, sondern ein klares Gebot christlicher Wissenskultur, der utilitaristischen Verkürzung des zu erwerbenden, weiterzugebenden oder umgekehrt zurückzuhaltenden Wissens beharrlich zu widerstehen. Und nur scheinbar widerspricht dem die christliche Überzeugung, dass es auch ein persönliches Recht auf Nichtwissen gibt und dass es auch Wissen von öffentlichem Belang gibt, das nicht öffentlich kommuniziert werden sollte. Das ist in unseren Breiten durch Gesetz zugelassen, ja bekräftigt: die Verweigerung der Kommunikation von vertraulichem Wissen, der Schutz des religiösen Beichtgeheimnisses und die ärztliche Schweigepflicht. Zweifellos geht das in einer Beichte Mitgeteilte mehr oder weniger wirksam in die innere Ökonomie des theologischen Wissens des Beichtigers ein, und es ist auch nicht immer leicht, jeweils die Grenze zwischen dem Schutz des gewährten Vertrauensraumes und der Erhaltung eines verbrecherischen Status quo zu finden und einzuhalten. Noch viel bedenklicher ist allerdings, dass die angeblich sozialen Netzwerke auf einer Ideologie beruhen, die früher nur extreme Puritaner vertraten, die in der Welt des Internet jedoch breitenwirksam geworden ist: Share everything with everybody, und: Privacy is theft, um aus Silicon Valley zu zitieren. Es ist uncool aber christlich dringend, die Achtung des privat-innerlichen Wissens und der Grenzen seiner Kommunikation einzufordern.
Die schwierigste Torheit religionskultureller Intelligenz ist die Distanzierung von sich selbst, insbesondere dort, wo sie mit ideologischer und politischer Macht verknüpft ist. Eine solche Selbstdistanzierung ist schon dann nicht immer einfach, wenn man, wie Luther riet, die Rolle des Hofnarren beim Publikum übernimmt. Sie ist aber noch erheblich schwieriger, wenn mit ihr Kontrollverlust verbunden ist. Sie dürfte jedoch geradezu unmöglich werden, wenn das Wissenssubjekt auf perfekte theorieförmige Selbstübereinstimmung anstrebt, und sei es nur asymptotisch. Wenn es um christliche religionskulturelle Intelligenz geht, sollte man nicht ausschließen, dass der ihr zugängliche Wirklichkeitsraum, sondern auch der ihr eröffnete Möglichkeitsraum ex parte subjecti begrenzt ist. Weshalb sonst führen wir das Wort »Gott« im Mund?