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|19| Komponierende Kapellmeister und dirigierende Konzertmeister: Zur Vorgeschichte des »interpretierenden Dirigenten«
ОглавлениеKai Köpp
Der größte Teil des klassisch-romantischen Repertoires wurde uraufgeführt, als es Dirigenten im heutigen Sinne noch gar nicht gab. Diese Feststellung mag zunächst irritierend wirken, denn selbstverständlich gab es in der Musikgeschichte immer Ensembleleiter, die für die Aufführung verantwortlich waren. Die Feststellung bezieht sich also auf die spezifischen Aufgaben und Verfahrensweisen eines heutigen Dirigenten, die weit mehr umfassen als nur den Aspekt des Koordinierens. Die heute üblichen Kulturtechniken des Dirigierens entstanden erst im ausgehenden 19. Jahrhundert und lassen sich auf einen grundlegenden ästhetischen Wandel der Aufführungskonzepte zurückführen: Erst seit den 1860er-Jahren nämlich wurde das Aufführen von Musik mit dem Begriff der Interpretation in Verbindung gebracht. Bis dahin sprach man schlicht vom »musikalischen Vortrag«, während sich das Interpretieren auf die Auslegung von historischen Texten bezog und den Theologen, Juristen und Philologen vorbehalten war (auch Musiker wurden nicht als Interpreten bezeichnet, sondern als »reproduzierende Künstler«).
Mit dem Aufkommen der Interpretationsästhetik wurde die Tätigkeit des Dirigenten in den drei Bereichen Repertoirewahl, Probenarbeit und Aufführungsverhalten neu definiert: Ein Dirigent führt erstens im Hauptberuf solche Musikwerke auf, die er nicht selbst komponiert hat (Kompositionen von Berufsdirigenten wurden als »Kapellmeistermusik« disqualifiziert), er legt zweitens in den Proben den musikalischen Vortrag verbindlich fest, ohne auf musikpraktische Konventionen oder andere Autoritäten Rücksicht nehmen zu müssen, und in der Aufführung bringt er drittens seine Interpretation mit stummen Körperbewegungen zum Ausdruck. Dieser »interpretierende Dirigent«, der das heutige Musikleben in hohem Maße prägt, ist tatsächlich erst eine Erscheinung des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Den Zeitgenossen war dies durchaus bewusst. Der Berliner Musikwissenschaftler Leopold Schmidt schrieb für Spemanns goldenes Buch der Musik: »Die Kunst des Dirigierens, wie wir sie heute kennen, ist unter allen musikalischen Disziplinen die zuletzt zur Blüte gelangte. Dem Dirigenten ist mit der Verantwortlichkeit für die Darlegung des geistigen Gehalts einer Komposition zugleich eine bisher ungekannte Freiheit seiner individuellen Anschauungen eingeräumt« (Schmidt 1900, § 393; dort auch die folgenden Zitate). Schmidt führt diese Entwicklung ausdrücklich auf Richard Wagner zurück, der mit seiner neuartigen Dirigierweise zunächst Franz Liszt und später Hans von Bülow beeinflusste, die beiden anderen Hauptvertreter der sogenannten Neudeutschen Schule. Genau in diesem Umfeld ist auch erstmals der Begriff »Interpretation« für das Aufführen von Musik eingeführt worden (Hinrichsen 2009, S. 13 ff.). Einem Dirigenten wurde also zuerst im Umfeld der Neudeutschen Schule jene »Freiheit seiner individuellen Anschauung« zugestanden, die für das heutige Bild eines Dirigenten bezeichnend zu sein scheint. Was bleibt aber einem Dirigenten, wenn diese Definition von Interpretation keine |20| Anwendung findet? Haben die musikalischen Leiter vorangegangener Zeiten nicht etwa auch eine künstlerische Tätigkeit ausgeübt? Schmidt weist darauf hin, dass das Dirigieren zuvor gewissermaßen nur eine Nebentätigkeit des musikalischen Leiters war, denn »früher gehörte der Dirigent stets zu den Mitwirkenden«. Er unterscheidet daher den »Taktschläger« vom »Interpreten des Komponisten«. Der Unterschied zwischen beiden liegt in der Dirigiertätigkeit als »musikalische Disziplin«, die erst entstand, als die Ensembleleiter nicht mehr selbst musikalisch mitwirkten und dadurch die Gelegenheit erhielten, das Ensemble von außen mit stummen Körperbewegungen zu animieren. Dass bei den Dirigiergebärden ebenso wie bei anderen musikalischen Disziplinen die Gefahr einer zur Schau getragenen Virtuosität besteht, hat Schmidt ebenfalls bereits angemerkt: »Wie weit ein Dirigent darin gehen darf, ist Sache des Geschmacks und des Temperaments, und die Ansicht darüber meist geteilt. In der älteren Schule hieß es: der beste Kapellmeister ist der, den man gar nicht merkt. Die Vertreter der jüngeren Richtung wollen wiederum auf das Dirigentenpathos, dessen Einfluß auf Hörer wie Spieler nicht zu leugnen ist, nicht verzichten.«
Schmidt identifiziert also das »Dirigentenpathos« als Merkmal »interpretierender Dirigenten«, die als »Vertreter der jüngeren Richtung« dem Umfeld der Neudeutschen Schule entstammen. Unschwer kann man demgegenüber in seiner Beschreibung der »älteren Schule« die Haltung der akademischen Gegenpartei zu den Neudeutschen erkennen. Und obgleich ein großer Teil des Publikums wohl in erster Linie jenes »Dirigentenpathos« für den Kern der Tätigkeit eines heutigen Dirigenten hält, geht es in dem hier versuchten historischen Abriss um weit mehr als um publikumswirksame Dirigiergebärden. Es geht um die Frage, wie ein Dirigent alter Schule (also vor der Erfindung des »interpretierenden Dirigenten«) seine Wirksamkeit entfaltete. Dabei sollen die drei oben genannten Bereiche Repertoirewahl, Probenarbeit und Aufführungsverhalten im Zentrum stehen.
Da die Leitung von musikalischen Ensembles wahrscheinlich so alt ist wie das Aufführen von Musik selbst, gehören allgemeine Leitungsaufgaben nicht zu einer Geschichte des Dirigierens im engeren Sinne. Das Koordinieren der beteiligten Musiker zu einer Ensembleleistung sowie das aus der Lebenserfahrung gespeiste Vermitteln zwischen den Interessen individueller Akteure sind Fähigkeiten, die musikalische Leiter in allen Phasen der Musikgeschichte ausgezeichnet haben dürften. Um das Ensemblespiel zu organisieren, ist es unumgänglich, dass eine Person in der Probenarbeit Entscheidungen trifft und das Tempo angibt. Diese Leitungstätigkeit wurde in der Regel demjenigen Musiker zuerkannt, der die aufzuführende Musik komponiert hatte, oder einem ranghohen Musiker, der mit der Bereitstellung des Repertoires beauftragt gewesen ist. Im Generalbasszeitalter ist dieser ranghohe Musiker mit Repertoireauftrag, der für die Vorbereitung und Begleitung von Solisten zuständig ist, häufig ein Tasteninstrumentalist. Sein höfisches Amt heißt »Kapellmeister«, wobei mit »Kapelle« nicht mehr nur die Sänger, sondern auch die Instrumentalisten gemeint sind. In kleineren Musikergruppen ist der Kapellmeister oft in Personalunion Komponist und Musikdirektor, an großen Höfen sind die Leitungsfunktionen in Kirche, Theater und Kammer (und damit auch der Repertoireauftrag) auf verschiedene Musiker verteilt. Da die Oper unter allen Musikgattungen des 18. Jahrhunderts die repräsentativste war, trug deren Leiter in der Regel den Titel »Kapellmeister«, während der Leiter der instrumentalen Kammermusik – gewöhnlich ein Violinist – als »Konzertmeister« tituliert wurde. Am Beispiel der Dresdner Musikgeschichte im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert konnte gezeigt werden, dass die Repertoirebeauftragten in Kirche, Kammer und Theater über Generationen hinweg immer den dienstlichen Auftrag hatten, neben eigenen auch fremde Werke zur Aufführung zu |21| bringen (Köpp 2005). Für ambitionierte Musiker war das eigene Komponieren also ebenso notwendig wie das Interesse für die Produktion auswärtiger Kollegen. Die Gewichtung zwischen der Aufführung von eigenen und fremden Kompositionen war jedoch nicht in allen musikalischen Ämtern gleich: Während der Kapellmeister in erster Linie als Komponist von Vokalmusik für Kirche und Theater gesehen wurde, verstand man den Konzertmeister, den Vorgesetzten der Instrumentalmusiker, eher als Musikdirektor. Den Unterschied zwischen Kapellmeister und Musikdirektor definiert der Leipziger Musiktheoretiker Johann Adolph Scheibe 1745 dahingehend, dass Letzterer seine umfassende theoretische und praktische Kenntnis der Musik nicht dazu einsetzt, eigene Werke zu komponieren, sondern vielmehr, um ein fremdes Stück »nach dem Sinne des Verfassers aufzuführen« (vgl. Köpp 2005, S. 251). In diesem Sinne wirkte der Dresdner Konzertmeister Johann Georg Pisendel (1687–1755) über Jahrzehnte prägend für das Verständnis eines Musikdirektors im deutschen Sprachraum, denn er beschäftigte sich fast ausschließlich mit der Aufführung fremder Kompositionen und entwickelte dies zu einer selbstständigen Kunst, die sein Schüler Johann Joachim Quantz ausführlich überliefert hat (die Beschreibung der Dresdner Orchesterpraxis nimmt ein Drittel seines berühmten Versuchs von 1752 ein). In Bezug auf die Repertoirewahl war also der Violindirektor oder Konzertmeister – und nicht der Kapellmeister – der Vorläufer des modernen Dirigenten.
Dies gilt jedoch nicht für die Probenarbeit, denn der »interpretierende Dirigent«, dem ja nach Schmidts oben zitierter Feststellung »eine bisher ungekannte Freiheit seiner individuellen Anschauung eingeräumt« wurde, hat keinen direkten historischen Vorläufer. Wodurch aber sollte die Interpretationsfreiheit früherer Musikdirektoren eingeschränkt worden sein? Zwar wird »individuelle Anschauung« das zentrale Element der neuartigen Interpretationsästhetik, aber traditionell konzentrierten sich die Bemühungen eines Musikdirektors darauf, die »Idee des Komponisten« zu verstehen und »ins Leben zu rufen« (wie Louis Spohr es 1833 in seiner Violinschule formuliert). Der sogenannte musikalische Vortrag war also nicht in erster Linie auf individuelle Lösungen ausgerichtet, sondern darauf, die je besonderen Entscheidungen des Komponisten, wie sie im Notentext dokumentiert sind, zu verstehen. Dies erfolgte im Kontext der zugehörigen Vortragsnormen, die häufig »nicht notierte Selbstverständlichkeiten« der Musikpraxis betreffen. Besteht zu diesem Kontext außerdem eine historische oder stilistische Distanz, muss diese mithilfe von Zusatzinformationen überbrückt werden. Spohr beispielsweise empfiehlt, für die Aufführung von Mozart-Quartetten die Violinschule von Leopold Mozart zurate zu ziehen. An dieser Methode des musikalischen Vortrags zeigt sich, dass für einen Musikdirektor oder Dirigenten deutlich höhere Anforderungen galten als für einen Komponisten, der in der Regel nur seine eigenen Werke einstudierte. Zugleich wird aber auch nachvollziehbar, dass dieser stilbewusste Musikvortrag von den »interpretierenden« Vertretern der neudeutschen Richtung als akademisch abgetan wurde. Noch zur Zeit Spohrs besaßen die nicht notierten Vortragsnormen des 18. Jahrhunderts, die auch als »musikalische Orthographie« bezeichnet wurden und für charakteristische Standardsituationen bestimmte Standardartikulationen vorsahen, allgemeine Gültigkeit (vgl. Köpp 2009, S. 220 ff. und S. 246). Für einen verständigen Musikdirektor galt es also, die richtige Wahl unter den Vortragsnormen zu treffen und deren Ausgestaltung durch die Komponisten in Klang zu übertragen. Irgendeine »Freiheit seiner individuellen Anschauung« zur Grundlage der Probenarbeit zu machen, wäre einem Musikdirektor des 18. Jahrhunderts wohl kaum in den Sinn gekommen.
Von Dirigenten früherer Zeiten wurde also durchaus erwartet, dass sie nicht nur selbst komponierten, sondern auch Werke anderer Komponisten mit stilkritischem Verstand und |22| Einfühlungsvermögen aufführten. Offensichtlich waren es aber gerade nicht die hauptberuflichen Komponisten mit Kapellmeistertitel, die als Dirigenten öffentlich in Erscheinung traten, sondern die untergeordneten Musikdirektoren. Mit der Frage, ob diese denn eine Dirigiertätigkeit im heutigen Sinne (kontinuierliche Körperbewegungen während der Aufführung) ausübten, wird jedoch endgültig Forschungsneuland betreten, denn es zeigt sich, dass die historiografische Narration allzu oft in ästhetischen und organisatorischen Konzepten des späten 19. Jahrhunderts befangen ist. Wenn also, wie Schmidt bemerkt, die alten Dirigenten noch Mitwirkende waren und dem Ensemble daher nicht gegenüberstanden, dann könnte doch der »Maestro al cembalo«, der die Rezitative der selbst komponierten Opern begleitete, der direkte Vorläufer heutiger Dirigenten gewesen sein. Tatsächlich wird die Funktion des »Maestro al cembalo« in der Literatur in der Regel mit dem komponierenden und dirigierenden Kapellmeister gleichgesetzt. Dagegen zeigen vor allem die deutschen und italienischen Quellen des 18. Jahrhunderts, dass der Kapellmeister als Komponist der Oper die Gesangspartien einstudierte, während sich der Konzertmeister oder Violindirektor um die Leitung des Orchesters kümmerte.
Aus dieser Arbeitsteilung konstruierte Georg Schünemann in seiner verdienstvollen Geschichte des Dirigierens von 1913 den Begriff der Doppeldirektion. Er verstand darunter eine simultane Leitungstätigkeit von Kapellmeister und Konzertmeister in der Barockoper, bei der der Cembalist die Gesamtleitung übernehme, während der erste Geiger gleichzeitig die »Spezialdirektion« über das Orchester innehabe (Schünemann 1913, S. 170 f.). Allerdings bezieht er sich vor allem auf jüngere Quellen aus der Zeit zwischen 1770 und 1830, wie beispielsweise auf den Eintrag »Kapellmeister« im Musikalischen Lexikon von Heinrich Christoph Koch aus dem Jahr 1802: »Bey der Kirchenmusik giebt er [der Kapellmeister] durch das ganze Tonstück den Takt; bey der Oper aber pflegt er gemeiniglich aus der Partitur zugleich den Generalbaß auf dem Flügel zu spielen. In beyden Fällen muß seine Aufmerksamkeit sowohl auf die Singstimmen, als auch auf jede Parthie der Instrumentalbegleitung gerichtet seyn, damit er jeden sich allenfalls ereignenden Fehler sogleich zu verbessern im Stande sey. In solchen Kapellen, wo nächst dem Kapellmeister noch ein Concertmeister oder Anführer der Instrumentalmusik vorhanden ist, überläßt der erste dem letztern gemeiniglich die besondere Aufmerksamkeit auf jede Parthie der Instrumentalbegleitung, und heftet sein Hauptaugenmerk vorzüglich auf die Singstimmen.«
Die daraus gezogene Schlussfolgerung Schünemanns, dass Kapellmeister und Konzertmeister in einer barocken Opernaufführung gleichzeitig dirigierten, ist nicht haltbar (vgl. Spitzer / Zaslaw 2004, S. 392). Mit seinem im Jahr 1913 durchaus innovativen Anliegen, die Direktion vom Cembalo als Modell für die Aufführungspraxis älteren Repertoires zu empfehlen, übersah er, dass der »Maestro al cembalo« während einer Opernaufführung gar keine Dirigierbewegungen ausführte und in großen Theatern sogar auch als Cembalist entbehrlich war, wenn sich neben dem Hauptcembalo noch ein zweites Cembalo zur Rezitativbegleitung im Operngraben befand (wie beispielsweise in London oder Dresden; siehe Abb. 1). Vielerorts war es sogar üblich, dass der Komponist dem Orchestergraben nach wenigen Opernaufführungen ganz fern blieb.
Aus der fehlenden Direktionstätigkeit des Kapellmeisters zu folgern, dass die Oper im 18. Jahrhundert ohne einen kontinuierlich dirigierenden Leiter aufgeführt worden sei, ist jedoch ebenfalls ein Irrtum, denn es gab ja einen Musikdirektor, der während der Aufführung kontinuierliche Direktionsbewegungen ausführte – den Konzertmeister. Seine Spielbewegungen mit Arm und Bogen sind viel raumgreifender als beim Cembalospiel und bieten metrische und artikulatorische Orientierungsmarken, die für alle Orchestermusiker sichtbar sind. Zudem ist überliefert, dass berühmte |23| Konzertmeister im 18. Jahrhundert die üblichen Taktierfiguren durch Bewegungen der Geigenschnecke anzeigten und so beim Spielen beispielsweise Ritardandi und Fermaten dirigieren konnten. Die Leitungsaufgaben des Kapellmeisters konzentrierten sich also auf die Einstudierung der Oper in den Proben, während die öffentlichen Opernaufführungen vom Violindirektor dirigiert wurden (vgl. Köpp 2005, S. 347 ff. und Rovetta 2005, S. 444 ff.). Nicht nur das Aufführen fremder Kompositionen, sondern auch das kontinuierliche Dirigieren während der Aufführung – beides zentrale Merkmale des heutigen Dirigenten – war die Domäne des untergeordneten Musikdirektors.
Abb. 1: Aufstellung des Dresdner Opernorchesters im Jahr 1754 (Jean-Jacques Rousseau, Dictionnaire de Musique, Paris 1768, Plance G, Fig. I), Ausschnitt
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde diese klare Rollenverteilung zwischen Kapellmeister und Konzertmeister zunehmend aufgelöst, weil sich die Zusammensetzung des Repertoires änderte. Neben neuen Kompositionen der hauseigenen Kapellmeister wurden immer mehr auswärtige und sogar auch stilistisch veraltete Werke aufgeführt. Deren Einstudierung erforderte vom komponierenden Kapellmeister Fähigkeiten, die vorher dem Musikdirektor zugeordnet waren. Zugleich wuchs die Zahl der beteiligten Akteure, weshalb es nicht mehr ausreichte, die einstudierten Abläufe aus dem Operngraben heraus mitspielend zu reproduzieren. Darum beteiligte sich der Kapellmeister als Taktstock-Dirigent gewissermaßen in Fortsetzung der Probensituation nun auch an der Aufführung: Üblicherweise saß er auf einem drehbaren Stuhl mit Blick auf die Sänger direkt an der Bühnenrampe und hatte das Orchester im Rücken, wie aus zahlreichen Beschreibungen und Abbildungen hervorgeht (siehe Abb. 2). In dieser Übergangszeit agierten Kapellmeister und Konzertmeister tatsächlich gleichzeitig, wie Schünemann es irrtümlich schon für das 18. Jahrhundert angenommen hatte. Dennoch bewegte sich der Kapellmeister auch in dieser neuen Situation nicht kontinuierlich zur Musik – im Gegenteil: Es wurde größten Wert darauf gelegt, die Direktionsbewegungen des Kapellmeisters auf ein Minimum zu beschränken, denn der nach wie vor mitspielende Konzertmeister war ja traditionell für die kontinuierlichen, expressiven Bewegungen zuständig. Dass er sein altes Recht auch einforderte, lässt sich aus den bekannten Konflikten Richard Wagners mit dem Konzertmeister Carl (Karol) Lipiński während Wagners Zeit als Kapellmeister in Dresden ablesen.
Auch im zeitgenössischen Schrifttum wird darauf bestanden, dass der neue |24| Taktstock-Dirigent seine Direktionsbewegungen auf das Nötigste zu beschränken habe. So schreibt der Karlsruher Hofmusikdirektor Ferdinand Simon Gassner 1844 in seinem Lehrbuch Dirigent und Ripienist, es sei ein »Missstand, den Direktor von Anfang bis Ende den Taktstab schwingen, jede Nuançe andeuten zu sehen«, und führt weiter aus: »Es dürfte hinlänglich sein, bei jedem neuen Tempo so lange zu taktiren, bis es aufgefasst ist.« Zugleich warnt er vor den »Grimassen, klein- und grosswerden, aufstehen und niedersetzen u. s. w., womit manche Leiter die Nuançen, Tempogradationen u. dergl. auf oft wahrhaft lächerliche Weise andeuten« (Gassner 1844, S. 103 f.). Damit ist recht unverhohlen die mit dem Namen Richard Wagners verbundene neuartige Dirigierweise angesprochen. Da der Taktstock-Dirigent aber an der Bühnenrampe saß und die Orchestermusiker gar nicht sehen konnte, stießen Wagners Versuche, den musikalischen Ausdruck mit kontinuierlichen Gesten zu verkörpern, in den 1840er-Jahren auf Unverständnis und Spott.
Abb. 2a: Dresdner Opernorchester in der Schlussszene des Rienzi (Leipziger Illustrierte Zeitung, Bd. 1, 12. August 1843, S. 108), am Dirigentenpult möglicherweise Richard Wagner
Abb. 2b: Orchester und Bühne im Théâtre Italien in Paris bei Donizettis Don Pasquale (L’Illustration, Paris, 5. April 1843)
|25| Eine sozialgeschichtliche Perspektive bietet dafür eine einleuchtende Erklärung: Auffallende und arbeitsame körperliche Bewegungen in der Öffentlichkeit galten in der weiterhin aristokratisch geprägten Gesellschaft als unanständig. Der ranghohe Kapellmeister durfte sich nur während der nichtöffentlichen Probenarbeit in körperlicher Weise exponieren – während der Aufführung setzte er damit sein gesellschaftliches Ansehen aufs Spiel. Die kontinuierliche Dirigiertätigkeit wurde dort bereitwillig dem nachrangigen Konzertmeister überlassen, zumal dieser durch seine Position im Orchestergraben für das Publikum weniger sichtbar war als der Kapellmeister, wie Franz Joseph Fröhlich in der Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste schreibt: »Energie und bedeutsames Leben muß der Kapellmeister in den Proben entwickeln, und Ruhe bei der Produktion haben; der Orchesterdirector [Konzertmeister] im Gegentheile mit ruhiger und gespannter Aufmerksamkeit in den Proben den Geist des Ganzen und aller einzelnen Stellen aufzufassen sich bemühen, den Angaben des Kapellmeisters genau folgen, und dann mit tiefer Sele und voller Wärme das ganze Instrumentalchor bei der Produktion leiten. Unterstützt durch das durchgreifende Instrument, die Violine, kann er mit seinem energischen Striche das Ganze zur kräftigen Ausführung beselen, so wie auf der andern Seite demselben den zartesten Vortrag inniger Gefühle entlocken. So wie er den Kapellmeister stets im Auge haben muß, um die leiseste Andeutung sogleich dem Ganzen mittheilen zu können, so hat das ganze Orchester ihn zu beobachten. Ja dieses muß sich eigentlich ganz in denselben einstudirt haben, damit es aus jeder Bewegung, mehr aber des Strichs als des Körpers, – worin so oft die Gränze des Anstands überschritten wird – sogar aus jeder Miene die dadurch angedeutete geistige Erfüllung entnehme« (Fröhlich 1821, S. 294).
Dass Richard Wagner das »Dirigentenpathos« erstmals hoffähig machte und damit den Typus des »interpretierenden Dirigenten« vorweg nahm, bringt seine Bedeutung für die Geschichte des Dirigierens gewissermaßen auf den Punkt – und doch war dies nur im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit möglich: Durch diese Veränderungen verloren die expressiven Körperbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Geruch des Unanständigen, und dem dirigierenden Künstler wurden Grenzüberschreitungen zugestanden, in denen man die Wirkung des interpretierenden Genies zu erkennen glaubte. Das kontinuierliche Dirigieren während einer Aufführung, das traditionell als untergeordnete Tätigkeit galt und das die frühen Taktstock-Dirigenten deshalb noch vermieden, wurde von den »interpretierenden Dirigenten« pathetisch aufgeladen und zur Hauptsache des Dirigentenbildes erklärt. Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund kann die Geschichte des Dirigierens im 19. Jahrhundert also wie folgt zusammengefasst werden: Die neue »musikalische Disziplin« des Dirigierens erhob die peinlich versteckte Körperarbeit zu einer Kunstform eigenen Rechts, die in der öffentlichen Aufführung zur Schau gestellt werden konnte und sollte.
Literatur
Franz Joseph Fröhlich, Aufführung (in der Musik), in: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, hrsg. von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber, Section 1, Theil 6, Leipzig 1821, S. 294 bis 296 Ferdinand Simon Gassner, Dirigent und Ripienist, Karlsruhe 1844 Hans-Joachim Hinrichsen, Was heißt »Interpretation« im 19. Jahrhundert? Zur Geschichte eines problematischen Begriffs, in: Claudio Bacciagaluppi u. a. (Hrsg.), Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung. Zur musikalischen Aufführungspraxis im 19. Jahrhundert, Schliengen 2009, S. 13–25 Kai Köpp, Johann Georg Pisendel (1687–1755) und die Anfänge der neuzeitlichen Orchesterleitung, Tutzing 2005 Kai Köpp, Handbuch historische Orchesterpraxis, Kassel 2009 Michele Rovetta, Zur Berufsgeschichte des Opernkorrepetitors, in: Ariane Jeßulat (Hrsg.), Zwischen Komposition und Hermeneutik, Würzburg 2005, S. 433–448 Leopold Schmidt, Das Orchester: Leitung, in: Spemanns goldenes Buch der Musik, Berlin 1900 Georg Schünemann, Geschichte des Dirigierens, Leipzig 1913 John Spitzer / Neal Zaslaw, The Birth of the Orchestra. History of an Institution, 1650–1815, Oxford 2004 Louis Spohr, Violinschule, Wien 1833 [Nachdruck München 2000]