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Jakob Tanner Militärischer Transnationalismus und
wirtschaftspolitischer Dilettantismus:
Asymmetrien in der Landesverteidigungskonzeption I.

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Im Ersten Weltkrieg veränderte sich das politische Institutionengefüge der Schweiz nachhaltig. Dies hatte sich schon vor 1914 abgezeichnet. Die Formierung der Spitzenverbände der Wirtschaft brachte mächtige organisierte Interessen ins Spiel, welche die politischen Aushandlungsprozesse immer stärker beeinflussten. Parallel und in enger Wechselwirkung mit dieser Verhandlungsdemokratie entwickelte sich die direkte Demokratie. Mit der Einführung des (obligatorischen und fakultativen) Referendums 1874 und der Volksinitiative 1891 wurden die Volksrechte ausgebaut. Dies stärkte nicht nur die Interventionsmöglichkeiten der stimmberechtigten Männer, sondern auch den Einfluss von Organisationen. Im selben Zeitraum wandelten sich die Gesellschaftsstruktur, die Volkswirtschaft, die Weltmarktbeziehungen, das Völkerrecht und das Mediensystem. Transnationale ökonomische Verflechtungen und kommunikative Abhängigkeiten traten immer deutlicher hervor und es stellte sich im neutralen Kleinstaat (als der sich die Schweiz mittlerweile selber sah) ein gesteigertes Bewusstsein für grenzüberschreitende Schockwirkungen und Verletzlichkeiten im Falle eines Krieges der europäischen Mächte ein. In den Jahrzehnten vor 1914 praktizierte die schweizerische Eidgenossenschaft eine aktive und vernetzungsorientierte Aussenpolitik im Zeichen eines gouvernementalen Internationalismus.1

Während des Ersten Weltkrieges brach diese Konstellation abrupt zusammen. Der Krieg verursachte auf verschiedensten Ebenen und in allen Bereichen Probleme, die mit Massnahmen angegangen wurden, deren Tragweite anfänglich kaum überblickt werden konnte. Als am 3. August 1914 die vereinigte Bundesversammlung die Generalmobilmachung beziehungsweise Kriegsmobilmachung der Schweizer Armee anordnete, einen General wählte und sich mit dem sogenannten «Vollmachten»-Beschluss weitgehend selber entmachtete, begann eine Phase vorder- und hintergründiger Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bundesrat, Armeekommando, Parlament und Administration, in die auch wirtschaftliche Exponenten und Interessengruppen (Wirtschaftsverbände und neu gegründete Kriegssyndikate) sowie wissenschaftliche Experten (Völker- und Verwaltungsrechtler, Staats- und Finanzwissenschaftler) intervenierten.2

Mit zunehmender Kriegsdauer verschärften sich die Schwierigkeiten. Der zunächst von den Entente-Staaten vorangetriebenen «masslosen völkerrechtswidrigen Ausweitung des Konterbandesrechts» war die Schweiz unvermittelt ausgesetzt; alsbald wurden keine «neutrale[n] Lücken» mehr akzeptiert. Dies ging einher mit einer Verallgemeinerung des Feindbegriffs und mit der Umkehr der Beweispflicht, indem es nun dem neutralen Land oblag, «den neutralen Charakter seiner Güter» nachzuweisen.3 Auf die militärische Defensive folgte die handelspolitische. Gegen Firmen, die auf «schwarzen Listen» figurierten, wurden Boykotte erlassen. Darüber hinaus griffen Aus- und Durchfuhrverbote sowie umfassende Einfuhr- und Verwendungskontrollen von Importgütern um sich.4

Diese Fähigkeit der kriegführenden Mächte, «die Handelsbeziehungen der Neutralen und schliesslich sogar den interneutralen Verkehr der Zwecksetzung und den Methoden der eigenen Wirtschaftskriegsführung unterzuordnen»,5 wurde in der Schweiz nicht antizipiert. Allerdings setzte umgehend ein flexibler Aushandlungs- und Anpassungsprozess ein. Über die fast viereinhalb Kriegsjahre hinweg wurden sowohl das, was man unter «Neutralität» verstand, wie auch die Machtbeziehungen im Triangel von Militär, Politik und Wirtschaft laufend neu definiert.6

In diesem Beitrag stehen solche Widersprüche zwischen einer stark in globale und europäische Märkte integrierten Wirtschaft und einer stark an nationalen Paradigmen sich orientierenden militärischen Verteidigungsstrategie im Zentrum.7 Diese äusserten sich zwingend auch in innergesellschaftlichen Konflikten. In einem damals viel beachteten Aufsatz analysierte der Historiker Hermann Böschenstein 1960 das «Spannungsfeld im Verhältnis zwischen Zivil- und Militärgewalt» in der Schweiz während des Ersten Weltkrieges. Böschenstein weist darauf hin, dass es «eine Ordnung» gab, «die für den Frieden passte, und eine andere, die auf den Krieg zugeschnitten war». Was fehlte, waren robuste Regelungen für das volatile «Zwischenstadium […] der bewaffneten Neutralität»,8 das abwechselnd als «Kriegszustand», «Ausnahmezustand» oder «Belagerungszustand» apostrophiert wurde und das den neuen (gegenüber der Zeit vor 1914 stark veränderten) Normalzustand nach 1918 entscheidend präjudizieren sollte.

Kognitiv sahen die an Clausewitz geschulten Vorstellungen des Krieges als «Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln» und eines räumlichzeitlich strikt begrenzten Kriegstheaters eine mehrjährige Verstetigung eines «Zwischenstadiums» zwischen Krieg und Frieden nicht vor. Die Illusion eines «kurzen Krieges» motivierte wissenschaftliche Experten und Politiker, wirtschaftliche Überlegungen weitgehend auf eine reibungslose Kriegsfinanzierung und die Bereitstellung von Vorräten für die ersten Wochen und Monate zu beschränken. Dabei hätte die Struktur der bundesstaatlichen Elite der Schweiz durchaus zur Früherkennung der für eine hochgradig verflochtene Volkswirtschaft grundsätzlich erkennbaren längerfristigen Probleme beitragen können.

Wenn hier von Elite im Singular gesprochen wird, so wird das mit der ausgeprägten Rollenkumulation wichtiger Exponenten und der engen Vernetzung einzelner Funktionseliten begründet, was die Kommunikationsintegration und Binnenkomplexität dieser Führungsgruppen gleichermassen förderte. Über familiäre Bezüge und persönlich-verwandtschaftliche Netzwerke waren die Leute, die in der Politik das Sagen hatten, auch jene, die in der Privatwirtschaft Entscheidungsfunktionen innehielten, die im Militär Führungsrollen beanspruchten und die auch kulturell – in einer wiederum elitär verstandenen Hochkultur – herausragten.9 Es gab also innere Konfliktpotenziale. Während der Jahre 1914–1918 intensivierten sich allerdings die inneren Abstimmungs- und Ausgleichsprozesse, so dass nach Ende dieses «Grossen Krieges» in der republikanischen Demokratie der Schweiz die auf eidgenössischer Ebene entscheidungsrelevanten Kräfte «in einem Boot» sassen, was es auch ermöglichte, das nationale Geschäftsmodell des helvetischen Finanzplatzes und Vermögensverwaltungszentrums gegen einen längerfristig abnehmenden Widerstand von links aufzubauen.10

Die inneren Spannungen und Friktionen ergaben sich weniger aus der föderalistischen Fragmentierung des Landes als aus einem basalen Widerspruch, der durch die nationale Elite hindurchlief und der bei denselben Exponenten je nach Zeitpunkt und Kontext zu unterschiedlichen Aussagen führen konnte. Generell waren dieselben Personen beziehungsweise ihre Freunde, Bekannten und Verwandten, mit denen sie sich austauschten, sich sehr bewusst, dass der volkswirtschaftliche Wachstumspfad der Schweiz auf funktionale Interdependenzen und ökonomische Synergien im europäischen und globalen Massstab angewiesen war. Gleichzeitig blieben sie im damals erstarkenden nationalpatriotischen Staatsdenken verhaftet, so dass ein Ökonom in einer exakt zum Kriegsausbruch vorgelegten Dissertation festhielt, «die Möglichkeit, selbst Krieg führen zu müssen» könne für die Schweiz nicht ausgeschlossen werden. Er führte neben einem «direkten Angriff» zwei weitere Möglichkeiten an, nämlich erstens die «Aufgabe ihrer Neutralität […] wenn sie dies als vorteilhaft betrachten muss» und zweitens «durch eigene Kriegserklärung, wenn die Wahrung ihrer Ehre dies von ihr verlangen wird».11 Es ging, neben dem stets wichtigen Nützlichkeitskalkül und dem «Vorteile-Ausnutzen» gegenüber anderen (Haltungen, die variabel auf Krieg und Frieden angewandt werden können), auch immer um den grossen Gefühlshaushalt des Kleinstaates, um seine «Ehre», bei deren Verletzung im Sinne eines staatlichen Duells nach Satisfaktion gesucht werden müsste.

Dieser Reflexionsraum über die Stellung der Schweiz in einem möglichen Krieg war nicht stabil und daraus resultierten Spannungen, welche sich nicht nur in Interessenkonflikten, sondern auch in Nicht-Kommunikation, Ausblendungen oder Missverständnissen ausdrücken konnten. Die militärische Führung war in den Jahren um 1900 zu einem transnationalen «Lernen vom Gegner»12 übergegangen und übte sich in der forcierten Imitation von Vorbildern. Sie hatte in allen wichtigen Belangen «Preussen vor Augen» (so der Titel der einschlägigen Studie von Rudolf Jaun).13 Die Ressourcenansprüche der Armee blieben zwar beschränkt, was eine von General Wille offen beklagte mangelnde Schlagkraft des schweizerischen Heeres zur Folge hatte. Gleichzeitig waren mit der neuen Drill-Erziehung der Soldaten Ansprüche vor allem personeller Art verbunden, die mit den Interessen von Wirtschaftsunternehmen kollidieren konnten und die sich auch nicht mit den Prioritäten der politischen Behörden decken mussten.14

Diese inneren Auseinandersetzungen wurden durch äussere Einflüsse überlagert, die im Sommer 1915 mit der Forderung der Entente-Mächte nach Einrichtung eines aussenwirtschaftlichen Kontrollregimes in Form einer geforderten Société Suisse de Surveillance économique (SSS) unübersehbar wurden. Der verstärkte Einbezug der neutralen Schweiz in den Wirtschaftskrieg war brisant, weil er mit einem weitgehenden Verzicht auf «Wirtschaftsfreiheit» nach aussen verbunden war. Wache Beobachter weltwirtschaftlicher Zusammenhänge wie der einflussreiche Industrievertreter, Vororts-Vertrauensmann und FDP-Nationalrat Alfred Frey, für den schon anfangs August 1914 klar war, dass Deutschland diesen Krieg verlieren und dabei wirtschaftlich zugrunde gerichtet werde, waren an einer Verständigung mit den Westmächten interessiert.15 Für General Ulrich Wille war dieses Kontrolldispositiv unnötig und auf lange Sicht verfehlt. Mit seinem sogenannten «Säbelrasselbrief» an den Bundesrat rannte er am 20. Juli 1915 gegen diesen von ihm so genannten «Einfuhrtrust» an: «Sollte aber die Voraussage des Nationalrat Frey nicht zutreffen – und das scheint mir der Fall zu sein – dann erblicke ich in dem Abschluss dieses Vertrags eine schwere Gefährdung des Gedeihens unseres Landes.» England handle mit «nervöser Hast» und es sei evident, dass «wir die Rohstoffe, die wir jetzt für unsere Industrie geliefert bekommen, […] nach wie vor erhalten, auch wenn wir den Trustvertrag nicht annehmen». Und «nach dem bisherigen Verlauf des Krieges auch auf wirtschaftlichem Gebiete» dürfe man annehmen, dass Deutschland daraus «siegreich hervorgehen wird».16

Für Wille war dieses dem Sieg entgegengehende Deutschland der natürliche Verbündete der Schweiz. Sein Widerstand gegen das Abkommen mit den Alliierten speiste sich explizit nicht aus «der Befürchtung, Deutschland könnte gleich Repressalien ergreifen» (das heisst die Zufuhr von Kohle und Eisen stoppen), sondern aus «der Furcht vor den Folgen, wenn nach Abschluss des Friedens die europäischen Beziehungen neugeordnet werden».17 Der General dachte langfristig strategisch; ihm schwebte ein grosses europäisches Szenario vor, in dem er neue aussen- und machtpolitische Perspektiven für die Schweiz sah. Das Problem war nur, dass er sich in trügerischer Sicherheit wiegte und letztlich auf die falsche Seite setzte, was auch der Unfähigkeit und dem Unwillen geschuldet war, sich mit dermassen profanen Dingen wie Wirtschafts- und Finanzbeziehungen profunder zu befassen.


Von den kriegswirtschaftlichen und aussenhandelspolitischen Herausforderungen des Weltkrieges gleichermassen überfordert: Bundesrat und Armeeführung im Ersten Weltkrieg (Bild: BAR, wikimedia).

Diese Reflexionsschwäche zeigte sich auch im Bundesrat. Hier fand die Meinung Resonanz, Deutschland werde diesen Krieg schliesslich gewinnen und die Schweiz müsse sich in einem längeren Krieg auf Gedeih und Verderb einer Kriegspartei anschliessen (was nach dieser Logik nur die deutsche sein konnte).18 Diese Überzeugung war allerdings rasch im Abklingen, weil bei der politischen Exekutivbehörde inzwischen das Sensorium für den Handlungsspielraum und die flexiblen Optionen der schweizerischen Aussen(wirtschafts)politik zugenommen hatte. Bundesrat Arthur Hoffmann hatte im Frühjahr 1915 gegenüber Alfred von Planta, ein Jahr zuvor noch Nationalratspräsident und nun Gesandter in Rom, erklärt, leider würden sich nicht nur «Chauvinisten» und «Leute, die einen gewissen Stich ins Grossmannssüchtige haben» durch eine Kriegsbeteiligung der Schweiz territoriale Zugewinne und wirtschaftlichen Nutzen erhoffen. Dies seien jedoch «gefährliche Zukunftsträume», vor allem deshalb, weil die Aussicht auf Gebietsmehrung die Schweiz «innerlich auseinanderjagen» würde.19 Diese staatspolitisch bedrohlichen zentrifugalen Kräfte und auch der sich rasch verschärfende Graben zwischen Deutsch- und Westschweiz (hier «le fossé» genannt) konnte nur moderiert werden, wenn an der Neutralität festgehalten und ein vertragliches Arrangement mit den beiden kriegführenden Allianzen gesucht wurde. Deshalb forderte Hoffmann eine «recht nüchterne, zurückhaltende Politik» und unterstützte die SSS (im Volksmund als Souveraineté Suisse suspendue verspottet). Wenn die Alliierten die wirtschaftlichen Kontrollschrauben zudrehten, blieben, wie er plastisch festhielt, der Schweiz nur drei Optionen: verhungern, kämpfen oder akzeptieren.20 Wurde das Problem auf diese Weise pragmatisch gestellt, so leuchtete das Akzeptieren unmittelbar ein.

Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale

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