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III.

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Welche Konsequenzen wurden in der Schweiz vor und bei Kriegsausbruch aus den vorgestellten Analysen gezogen? Der Historiker Heinz Ochsenbein hielt bereits 1971 in seiner Studie «Die verlorene Wirtschaftsfreiheit» fest: «Weder der Bundesrat noch der Generalstab hat in seiner Lagebeurteilung die Erkenntnis vorweggenommen, dass die Schweiz […] durch eine Wirtschaftsblockade am lebenswichtigen wirtschaftlichen Nerv getroffen werden könnte, dass im 20. Jahrhundert die Handelspolitik immer mehr zur Aussenpolitik werden würde und die Schweiz gerade dank ihrer wirtschaftlichen Verflechtung mit allen wichtigen Ländern einige Überlebenschancen hätte.»35 Ochsenbein konstatiert bei der militärischen und zunächst auch bei der politischen Führung eine eklatante Unfähigkeit, die Zusammenhänge zwischen souveränem Staat und funktionsfähiger Wirtschaft angemessen zu reflektieren. Er attestiert zum Beispiel Bundesrat Giuseppe Motta einen grotesken «Dilettantismus» und spricht insgesamt von einer «erstaunlichen Sorglosigkeit».36 Aus transnationaler Perspektive lässt sich unschwer zeigen, dass es sich hier keineswegs um eine schweizerische Spezialität handelt. So konstatierte der 1919 in die Schweiz eingewanderte österreichische Ökonom und Bankier Felix Somary einen «ökonomischen Analphabetismus» in vielen Ländern; dieser ist allerdings in der vergleichsweise kompakten und eng vernetzten schweizerischen Elite besonders erklärungsbedürftig.37

Die Neigung, Probleme der Versorgungssicherheit in einen sehr kurzfristigen Zeithorizont zu stellen, war omnipräsent. 1912 lenkten die Spannungen auf dem Balkan und der dort im Herbst ausbrechende Krieg auch in Regierung und Parlament einige Aufmerksamkeit auf diese Fragen. Am 19. Juni 1912 reichten der katholisch-konservative Nationalrat Josef-Anton Balmer (Luzern) und Mitunterzeichner eine Motion ein, welche das Problem der Abhängigkeit von Getreideimporten über den Rhein aufwarf, dies mit einem Schwerpunkt auf dem Sachverhalt, dass auf dieser Route in Mannheim, Strassburg und Kehl «weit grössere Posten schweizerischen Getreides auf Lager gelegt sind, als in unsern sämtlichen schweizerischen Lagerhäusern zusammen». Diese Lager wären «im Falle eines Krieges des Dreibundes […] wohl für uns verloren.»38

Ende Oktober befasste sich dann die Landesregierung auf Antrag des Schweizerischen Militärdepartements (SMD), das einen «ganz konfidenziellen» Bericht unterbreitete, mit der «Brotversorgung der Schweiz», und zwar mit Bezug auf die grundsätzlichen Optionen der Schweiz in einem künftigen Krieg. Man dürfe, so das SMD, «zwar auch hier nicht allzu schwarz sehen» und müsse sich vor allem «klar machen, dass eine völlige Einkreisung der Schweiz durch Abschneidung aller Getreidefuhren zwar wohl für eine gewisse Übergangszeit möglich ist, dagegen nicht auf eine längere Dauer vorauszusehen ist». Die politische Lage werde es «naturgemäss mit sich bringen, dass nach relativ kurzer Zeit seit dem Ausbruch von Feindseligkeiten eine Annäherung der Schweiz nach irgend einer Seite eintritt». Denn «eine Schweiz im Kampfe gegen alle vier Grenzmächte ist undenkbar und eine Schweiz als dauernd unbeteiligte und neutrale Insel inmitten der Brandung des europäischen Krieges im höchsten Grade unwahrscheinlich. Hat aber einmal nach irgendeiner Seite eine Annäherung stattgefunden, so hört dort die Getreidesperre auf. Praktisch kann es sich also nur darum handeln, dass wir für eine gewisse Übergangszeit vorgesorgt seien.»39 Der Bundesrat folgte diesem Bericht und beschloss einige Massnahmen, welche die Situation nicht effektiv veränderten.40


Vom Rohstoffimport abhängig: die Verarbeitung von Aluminiumblech zugunsten der Armee in der Eidgenössischen Konstruktionswerkstätte in Thun (Bild: BAR, wikimedia).

Die fatalistische Meinung, die Schweiz müsse sich nach einer «gewissen Übergangszeit» sowieso einer kriegführenden Mächteallianz anschliessen, entlastete die Behörden und auch interessierte Wirtschaftskreise von einervertieften Auseinandersetzung mit dem Problem. So fällt die Bilanz der Vorbereitungen, bezogen auf das dreistufige Raster, das Jöhr vorgeschlagen hatte, schlecht aus. Was seinen ersten Punkt betrifft, so war die Vorratshaltung auf allen Ebenen krass unterdotiert. Weit wichtiger war aber die Tatsache, dass die Möglichkeiten der Schweiz, sich mit einer aussenwirtschaftlichen Mischung aus Opportunismus, Nützlichkeit und attraktiven Angeboten einen Anpassungsspielraum zu sichern, das heisst auch jenen «Machtbestand» auszuspielen, auf den Geering hingewiesen hatte, auf der militärischen Führungsebene kaum erkannt wurden. Bundesrat, Administration und Diplomatie machten sich zwar daran, die nach 1914 völkerrechtlich fluide gewordene Neutralitätsmaxime unter erschwerten Bedingungen neu auszuhandeln und die Nicht-Kriegsbeteiligung der Schweiz zu einem nationalen Geschäftsmodell auszubauen. Dies geschah allerdings in einer wenig systematischen Weise. Vielmehr schoss mit der anziehenden Kriegskonjunktur ein Wildwuchs privater Initiativen ins Kraut, der vielfach sowohl mit schweizerischen Gesetzesbestimmungen wie mit den Kontrollmassnahmen der Kriegführenden in Widerstreit geriet, so dass die aussenwirtschaftlichen Überwachungsapparate der Alliierten und wenig später der Mittelmächte mithin das Resultat mangelnder Selbstkontrolle und Koordination in der Schweiz selber waren.

Die führenden Militärs befassten sich kaum mit diesem Problem, obwohl es aufgrund des rasch aufblühenden Waffenexports auch für die schweizerische Rüstungsbeschaffung von einiger Relevanz war. Viele dachten in obsoleten Kategorien und hielten daran fest, je länger der Krieg dauere, desto weniger sei es möglich, den Zustand der bewaffneten Neutralität aufrechtzuerhalten. Das demonstrative Desinteresse am Wirtschaftlichen erklärte sich aus dem Hang General Willes, ein rechnerisches Kalkül mit genau jener «Krämerseele» und «Händlermentalität» gleichzusetzen, die er im Namen eines heldenhaften Heroismus, den er in Deutschland verkörpert fand, verachtete.41

Entsprechend inkonsistent war seine Meinung zu einem Kriegseintritt der Schweiz. Er hielt eine militärische Kriegsbeteiligung – seiner Meinung nach klar auf Seiten der Mittelmächte – für unvermeidlich. Dies zu einem Zeitpunkt, als die wichtigsten Wirtschaftszweige und auch die Regierung die «Übergangszeit» ganz anders zu interpretieren begonnen hatten, als dies anfänglich der Fall war. Der erwartete Zugzwang zu einem Kriegsbeitritt hatten sich mitnichten eingestellt. Und je länger das militärische Kräftemessen auf den Schlachtfeldern dauerte, desto mehr einigten sich massgebliche Politiker und Wirtschaftsexponenten auf die Devise eines flexiblen Durchhaltens und Sich-Anpassens. So fand Wille mit seinen Eintrittsparolen immer weniger Widerhall. Dennoch blieb er bei seiner Meinung eines unbesiegbaren Deutschland. Dabei dachte er in grossen Zusammenhängen und eminent politisch: Er plädierte für einen Kriegseintritt, um der Schweiz bei Kriegsende, wenn die Karten neu verteilt werden würden, eine optimale Ausgangsposition zu verschaffen. So waren für ihn Kriegsbeteiligung und nationale Unabhängigkeit überhaupt keine Gegensätze. Er schrieb im zitierten «Säbelrasselbrief», dass er, «wenn die Erhaltung unserer Selbständigkeit und Unabhängigkeit dies erfordert, den gegenwärtigen Moment für das Eintreten in den Krieg als vorteilhaft erachte». Dass Wille 1915 in dichter Aufeinanderfolge forderte, die Schweiz solle «neutral bleiben und verhindern, in den Krieg mit hineingezogen zu werden» und gleichzeitig daran festhielt, «wir» würden, «ob wir wollen oder nicht, in den allgemeinen Krieg hineingezogen werden», ist nicht Ausdruck von Wankelmütigkeit, sondern darin äussern sich situative Stellungnahmen bei anhaltender Konstanz des Gesamtbildes.

Ab 1917 führten aussenwirtschaftlicher Sachverstand und pragmatischer Opportunismus dazu, dass sich die Schweiz zum Entsetzen der diplomatischen Vertreter Deutschlands mittels der «American Mission» mit atemberaubendem Tempo auf die Seite der USA und etwas später zudem ins Völkerbundlager schlug.42 Die ab Sommer 1918 eintreffenden Getreidelieferungen aus den USA entspannten – anfänglich vor allem im Erwartungshorizont – eine prekär gewordene Versorgungslage. Wille war diese Gesinnung nicht geheuer, und weil er die Vorgänge nicht (mehr) verstand, verlor er seinen Einfluss auf die Aussenpositionierung der Schweiz und wurde zudem zum Objekt sehr persönlicher Intrigen aus dem Innern des militärischen Apparates. Umso dezidierter wandte er sich deshalb in den letzten beiden Kriegsjahren der innenpolitischen Front, dem Ordnungsdienst der Armee gegen die Arbeiterbewegung zu. Diese Aufgabe verfolgte er, in Übereinstimmung mit der ganzen militärischen Führung, mit einem stark reduzierten Sensorium für die sozialpolitische Lage im Land. Schon in der Studie von Willi Gautschi zum schweizerischen Landesstreik wird hervorgehoben, welch phantasmatische Bedrohungsfiktionen in der schweizerischen Elite kultiviert wurden.43 Daraus erklärt sich zum Gutteil die provozierende Vorgehensweise, die mit grossen Truppenaufgeboten in verschiedenen Städten in die Generalstreik-Eskalation hineinführte. Eine weitergehende Erklärung müsste berücksichtigen, dass sich diese Massnahmen – im Unterschied zu General Willes lautem Nachdenken über einen schweizerischen Kriegseintritt auf Seiten Deutschlands – mit dem Prinzip der «bewaffneten Neutralität» vereinbaren liessen. In der Konsequenz stabilisierten sie das Vertrauen in den Finanzplatz und sie stiessen in der sich mittels Bürgerwehren neu formierenden nationalen Rechten auf breite Zustimmung. Doch auch die Auseinandersetzungen im Innern der Schweiz standen bald im Bann anderer Prioritäten und Zukunftsbilder. «Die Welt, in der der General aufgewachsen war, (war) verschwunden», bilanzierte Böschenstein 1960 ebenso knapp wie zutreffend.

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