Читать книгу Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale - Группа авторов - Страница 7

Einleitung

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«Der Eindruck, den ich von meiner Reise heimtrug, ist ein gewaltiger und nachhaltiger. Welch furchtbares Unglück es unter allen Umständen wäre, wenn jetzt noch unser Land der Schauplatz einer Invasion würde, ist mir klar. Unser Land bleibt davor bewahrt, zur Wüstenei zu werden, wenn jede der beiden kriegführenden Parteien davon überzeugt ist, dass eine Invasion der Schweiz ihr nur neue Opfer und keinen entscheidenden Erfolg bringt. Unser Volk muss das wissen und es immer wieder hören und es muss wissen, dass einzig unsere nationale Einigkeit und unsere Wehrkraft uns vor dem Ruine retten können.»1

Die Wortwahl von Éduard Wildbolz hätte deutlicher kaum sein können. Von den Eindrücken einer Reise auf den westeuropäischen Kriegsschauplatz gleichermassen beeindruckt wie erschüttert, warnte der Kommandant des schweizerischen 2. Armeekorps im März 1917 in einem internen Bericht an das Armeekommando vor einem potenziellen Übergreifen der Kriegshandlungen auf das eigene Land. Kann wohl rückblickend die konkrete militärische Bedrohung der Schweiz im Ersten Weltkrieg als vergleichsweise gering eingeschätzt werden,2 offenbarte dem Berner Offizier der Besuch der britischen beziehungsweise französischen Frontabschnitte bei Ypern, an der Somme oder vor Verdun das grundsätzliche Bedrohungsbild jener Jahre: das Antlitz des modernen, industrialisierten Massenkriegs mit all seinen Verheerungen. Nun hatte Wildbolz, seit 1881 Instruktionsoffizier der Schweizer Armee,3 in den ersten Kriegsjahren die 3. Division kommandiert und schon von Berufs wegen näherungsweise über die Entwicklung der Kriegführung Bescheid zu wissen. Trotzdem führte ihm seine Frontreise die Kriegsrealitäten des Jahres 1917, wie er selbst festhielt, «gewaltig und nachhaltig» vor Augen. Wildbolz und anderen an die Schauplätze des Weltkriegs abkommandierten Offizieren erschlossen sich die «Wüsteneien» dieses Krieges sehr konkret, sie erfassten den Krieg an den besuchten Frontabschnitten nicht nur gedanklich, sondern erfuhren ihn mitunter physisch und psychisch.4 Demgegenüber hatte der schweizerische Durchschnittsbürger von diesen Kriegsrealitäten wenig Ahnung. Das Bild des modernen Krieges kontrastierte drastisch mit dem im Grunde friedlichen Aggregatzustand des Landes. Entsprechend hatte der Erste Weltkrieg als militärisches Ereignis für den grossen Teil der schweizerischen «Kriegsgesellschaft» nicht die gleiche Bedeutung wie für die schweizerische Offizierselite, insbesondere nicht die gleiche bildliche und gedankliche Granularität. Bis zu seinem Ende musste der Krieg für die Schweizer Armee als einziges Gewaltinstrument zur Verteidigung der Staatsexistenz gezwungenermassen finaler Referenzwert sein und bleiben, für die zivile Gesellschaft des Landes war er hingegen vor allem eine mühselige Rahmenerscheinung. Entsprechend ist der kriegslose Kriegszustand der Schweiz und die kampflose Grenzsicherung der Armee begrifflich dahingehend überliefert, «dass der Volksmund vom aktiven Dienst 1914 bis 1918 als von der Grenzbesetzung spricht».5 Dieser vor allem im 19. Jahrhundert für eidgenössische Militäraufgebote sehr gebräuchliche Terminus – erinnert sei unter anderem an die militärischen Grenzbesetzungen von 1870/716 – stand dabei zunehmend für den nichtkriegerischen und auf Schutz von Territorium und Neutralität zielenden Einsatz eidgenössischen Militärs und erfuhr im Ersten Weltkrieg gewissermassen seine ultimative Verwendung. Kombinierbar wurde er mit dem Begriff des «aktiven Dienstes», der – in der Militärordnung von 1907 erstmalig formuliert und rechtlich vom Friedensinstruktionsdienst abgegrenzt – vom «Dienst zur Behauptung der Unabhängigkeit des Vaterlandes gegen aussen» sprach. Dabei hatten die Väter der Militärordnung von 1907 aber primär einen kurzzeitigen Kriegseinsatz der Armee von maximal ein paar Monaten vor Augen.7 Mit einem kampflosen Aktivdienst von viereinhalb Jahren Dauer hatte vor 1914 kaum jemand gerechnet.

Hier der kriegslose Kriegszustand der Schweiz und ihrer Gesellschaft, dort die Kriegsrealitäten als finaler Referenzwert für das Schweizer Militär – die beiden hiermit skizzierten Pole führten gedanklich zur Kernidee der Tagung «Am Rande des Sturms: Die Geschichte des Schweizer Militärs im Ersten Weltkrieg» vom Herbst 2016 an der Universität Bern und somit auch zu diesem Tagungsband. Es ging uns darum, die Geschichte des Schweizer Militärs im Ersten Weltkrieg nicht einfach vor dem Hintergrund der Friedensinsel Schweiz zu diskutieren, sie vielmehr aus der schweizerischen Friedensbetrachtung herauszulösen und in den grösseren Kontext des Ersten Weltkrieges selbst zu stellen. Passgeber hierzu war die Konferenz «An der Front und hinter der Front. Der Erste Weltkrieg und seine Gefechtsfelder» der Schweizerischen Vereinigung für Militärgeschichte und Militärwissenschaften (SVMM) vom Frühling 2014 an der ETH Zürich.8 Ging es damals um die vielfältigen und tendenziell internationalen Dimensionen des Krieges, stand 2016 und somit im vorliegenden Tagungsband das Schweizer Militär im Fokus. Im Wissen darum, dass die Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg nicht nur aus Militär besteht, scheint es uns doch offensichtlich, dass zur Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg die Geschichte des Militärs massgeblich dazugehört. So gab es damals kaum eine Institution des schweizerischen Bundesstaates, die vergleichbar auf das Leben fast jedes Schweizers und fast jeder Schweizerin einwirkte wie die Armee. Jedoch sollten Tagung und Tagungsband einen breiteren Blick auf das Gesamtsystem Militär und nicht nur auf dessen Instrument, die Armee, ermöglichen. Eine Tagung ausschliesslich über die Schweizer Armee hätte sich nicht adäquat mit ausserhalb des eigentlichen Armeeapparates stehenden Themenfeldern wie der Militärjustiz, den civil-military relations oder der aussenpolitischen Position des Schweizer Militärs beschäftigen können, die sich wiederum mit nicht rein militärischen Sachverhalten wie der Kriegswirtschaft oder der Neutralitätspolitik vermengten.

Die vertiefte Beschäftigung mit dem Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg schien uns auch angesichts der bisherigen Zentenariums-Veranstaltungen und der jüngst erschienenen Darstellungen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg ein Desiderat. Faktisch ist diesbezüglich in den nun zurückliegenden fünf Jahren nur wenig geschehen. Vergleichsweise am meisten Beachtung erfuhr das Thema in der lesenswerten Übersichtsdarstellung von Georg Kreis zur Schweiz im Ersten Weltkrieg, die sich im vierten Kapitel der militärischen Landesverteidigung widmet und den Forschungsstand zu den wichtigsten Themen (von den Allianzabsprachen über die bescheidenen Rüstungsschritte bis hin zu den Soldatenbünden) kurz und bündig resümiert.9 Die anderen Zentenariums-Publikationen zur Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg wickeln das Thema Militär in der Regel mit ein oder zwei Beiträgen ab. Der der gleichnamigen Wanderausstellung entsprungene Band «14/18» widmet sich mit einem Beitrag Rudolf Jauns der Disziplinierungsproblematik in der Schweizer Armee.10 Der Sammelband «Der vergessene Krieg» beleuchtet mit einem Beitrag von Juri Jaquemet und Adrian Wettstein die Fortifikationen Murten und Hauenstein sowie den Piz Umbrail als militärische Erinnerungsorte,11 zusätzlich blickt Rudolf Jaun mit einem süffisanten und bisher zu wenig beachteten Artikel auf die Skandalisierung der Person Ulrich Willes durch den Schriftsteller Niklaus Meienberg zurück.12 In regionalhistorischen Publikationen diskutieren ausserdem Hans-Rudolf Fuhrer die Generalswahl,13 Rudolf Jaun den Landesstreik14 und Marco Jorio die Ablösedienste der Truppenkörper des Kantons Zug.15 Ansonsten widmeten sich diese thematisch jeweils breit aufgestellten Publikationen dem Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg kaum, thematische Brückenschläge blieben weitgehend aus. Die Forschungsvorhaben des Sinergia-Projekts «Die Schweiz im Ersten Weltkrieg: Transnationale Perspektiven auf einen Kleinstaat im totalen Krieg» des Schweizerischen Nationalfonds beleuchteten schliesslich andere, vorwiegend nichtmilitärische Themengebiete, notabene mit der grossen Ausnahme von Sebastian Steiners Dissertationsprojekt zur schweizerischen Militärjustiz im Ersten Weltkrieg, das jedoch während der Erarbeitung dieses Buches noch der Publikation harrte und dessen Resultate bisher nur Insiderkreisen bekannt sind.16 Ebenfalls wie Steiner an einer Dissertation zu einem militärrechtlichen Sachverhalt arbeitend, war Lea Moliterni hingegen zu einem Beitrag für die Tagung «Am Rande des Sturms» bereit. Ihr Artikel im vorliegenden Tagungsband basiert entsprechend auf langjähriger Forschungsarbeit.17 Letztlich ist, wie heutzutage üblich, nicht gänzlich auszuschliessen, dass während des auslaufenden Zentenariums noch weitere Forschungsarbeiten zur Geschichte des Schweizer Militärs im Ersten Weltkrieg publiziert wurden, jedoch aufgrund ihrer kulturwissenschaftlichen Vertextung als solche nicht zu erkennen waren.


Militärisch, aussenpolitisch und kriegswirtschaftlich herausgefordert: die Schweizer Armeeführung um General Ulrich Wille im Ersten Weltkrieg (Bild: «Kritik», von Wilfried Schweizer, Sammlung MILAK).

Was den gesetzten, arrivierten Forschungsstand zum Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg betrifft, sind nach Rudolf Jaun «im Sinn eng gefasster Militärgeschichte» drei grundsätzliche Werke zu nennen: die in der Reihe der Geschichte des Schweizer Generalstabes erschienene, verlässliche Darstellung von Hans Rapold über die Vorbereitungen der Armeeleitung für den Krieg,18 dann die von Daniel Sprecher auf dessen aussenpolitische Ausrichtung fokussierte Biografie des Generalstabschefs, Theophil Sprecher von Bernegg,19 sowie eine Studie von Hans Rudolf Fuhrer,20 welche «die operativen Planungen und die Landesbefestigung in den Kontext der militärischen Gefährdungen der Schweiz stellt».21 Von Jaun selbst wissen wir dank seiner wegweisenden Habilitationsschrift «Preussen vor Augen» vom Kampf um die geistige Vorherrschaft im Schweizer Militärwesen der Vorkriegszeit zwischen Anhängern einer national-republikanisch orientierten «Staatsbürgerarmee» und den sich tendenziell durchsetzenden Befürwortern eines sich strikt an der Revolutionierung des modernen Gefechtsfeldes ausrichtenden, soldatisch disziplinierten Auszug-Heeres um den späteren General Ulrich Wille.22 Diese vier Darstellungen ergeben einen sehr soliden Basisforschungsstand und sind heute berechtigterweise aus der Geschichtsschreibung zum Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg nicht mehr wegzudenken. In Erinnerung zu rufen sind ausserdem die luzid geschriebenen, jeweils nicht nur die Periode des Ersten Weltkrieges abdeckenden wissenschaftlichen Biographien über Fritz Gertsch, Emil Sonderegger und Eugen Bircher,23 allesamt mehr oder weniger treue Gefährten beziehungsweise Schüler Ulrich Willes, und der sich dem Weltkriegsgeneral in vielschichtiger Weise widmende Sammelband von Hans Rudolf Fuhrer und Paul Meinrad Strässle.24 Allerdings droht dieser Forschungsstand allmählich, da hauptsächlich in den 1980er- und 1990er-Jahren erarbeitet, oberflächlich etwas anzustauben.

Die dem vorliegenden Band vorausgehende Tagung vom Herbst 2016 setzte sich deshalb die Zusammenführung der zum skizzierten Thema geschichtswissenschaftlich relevanten Detailforschung der letzten Jahre zum Ziel. Die Veranstaltung schaffte es dadurch, aktive, arrivierte Historiker mit ehemals zum Thema arbeitenden Kollegen sowie mit Nachwuchswissenschaftlern zusammenzubringen, die an der Tagung ihre Doktor- oder Masterarbeiten präsentierten. Die Tagung zeigte dem Publikum damit eine multiperspektivische Betrachtung des Schweizer Militärs zwischen 1914 und 1918. Nicht zuletzt wurden eingefahrene Vorstellungen, etwa zur Grenzbesetzung, sowie gängige Narrative, etwa zum Landesstreik, hinterfragt und diskutiert. Zusätzlich problematisierte die Tagung die zeitgenössische ausländische Sichtweise auf das Schweizer Militär sowie dessen Position im internationalen Kontext. Die zentralen Fragen des vorliegenden Tagungsbandes suchen entsprechend in sechs Hauptkapiteln dem eingangs beschriebenen Ansinnen nachzugehen und die während des Ersten Weltkrieges sprichwörtlich «am Rande des Sturms» stehende Schweizer Armee nicht primär aus einer schweizerischen Binnen- und Friedensperspektive zu betrachten, sondern vielmehr in den militärischen Kontext des Ersten Weltkrieges zu stellen. Dass dieser Ansatz nicht bei allen Beiträgen gleich stark zum Zug kommt, liegt einerseits in der Natur der jeweiligen Themen. Andererseits fällt doch auf, dass eine Mehrheit der Beiträge internationale Bezugspunkte aufweist, selbst wenn nicht alle Kapitel des Bandes über eine explizit internationale Stossrichtung verfügen.

Im ersten Kapitel Im internationalen Spannungsfeld eröffnen drei Autoren den Tagungsband mit ihren Betrachtungen zur politischen, militärischen und kriegswirtschaftlichen Lage der Schweiz im Ersten Weltkrieg. Sie fragen dabei nach den unterschiedlichen sicherheitspolitischen Parametern der damaligen Schweiz (wenn auch der Begriff der «Sicherheitspolitik» damals unbekannt war) und gehen mit ihren Ausführungen über die Erkenntnisse der bisherigen Forschung25 hinaus. Maartje Abbenhuis kritisiert und bestreitet auf der Basis ihrer politikhistorischen Forschung zum 19. Jahrhundert in freundlicher, aber bestimmter Weise die hierzulande weit verbreitete Vorstellung einer damals nennenswert exzeptionell gearteten schweizerischen Neutralität.26 Christophe Vuilleumier untersucht darauf in seinem Beitrag «Les stratégies de la neutralité, répression et tolérance – adaptabilité et démonstration» die vielschichtige schweizerische Neutralitätshandhabung während des Krieges selbst. Jakob Tanner kritisiert sodann in seinem Beitrag «Militärischer Transnationalismus und wirtschaftspolitischer Dilettantismus: Asymmetrien in der Landesverteidigungskonzeption» für den Zeitraum des Ersten Weltkrieges wie auch danach eine verengte Fokussierung der Schweizer Armeeführung auf Operationsplanerei und Truppenausbildung beziehungsweise deren Ignoranz gegenüber kriegswirtschaftlichen und aussenhandelspolitischen Kausalitäten und Wirkungszusammenhängen. Eingängig beschrieben, ist anzumerken, dass diese ausserhalb des klassischen militärischen Fachgebiets liegenden Problemlagen alle Heeresleitungen der Weltkriegsepoche überforderten und die Schweizer Armeespitze mit ihren Schwierigkeiten der Adaption an die makroökonomischen Verhältnisse des Ersten Weltkrieges eigentlich dem europäischen Normalfall entsprach.

Eventuell vermag sich Nichtmilitärhistorikern die Sinnhaftigkeit des zweiten Kapitels Operationsplanung und Kampfführung nicht umgehend zu erschliessen. Wie Rudolf Jaun vor einigen Jahren festhielt, versah «die seit der Gründung der Eidgenossenschaft erstmalig mit einer Generalmobilmachung aufgebotene Bundesarmee zwischen 1914 und 1918 einen von den Kantonen wenig geliebten Neutralitätsschutzdienst, welcher für operationsgeschichtliche Studien wenig Reiz bietet».27 Gleichwohl geht es in diesem Kapitel um die zentrale Fragestellung, wie die Schweizer Armeeführung sowohl vor als auch während des Krieges das Land militärisch zu verteidigen gedachte. Einen Einstieg gibt Jaun gleich selbst, der sich in seinem Beitrag «Lagebeurteilungen und Operationsabsichten der Armeeführung 1914–1918» nicht nur den grundsätzlichen, strategisch-operativen Herausforderungen und Lösungsansätzen der Armeeführung um General Wille und Generalstabschef Sprecher widmet, sondern überblicksweise auch das einzige real bezogene Verteidigungsdispositiv der Armee mit Schwergewicht in der Nordwestschweiz skizziert. Hans Rudolf Fuhrer beschreibt danach in seinem Beitrag «Geheime Anschläge der Habsburger gegen die schweizerische Neutralität» den neutralitätspolitisch sensiblen Sachverhalt der «fremden Hilfe» beziehungsweise der militärischen Eventualabsprachen des Schweizer Generalstabschefs mit ausländischen «Berufskollegen» am österreichischen Beispiel. Wie zu seinen Vorkriegsabsprachen mit dem deutschen Generalstab sowie zu den Gesprächen mit Emissären des französischen Generalstabs in der zweiten Kriegshälfte kann zu Sprechers Sondierungen mit Vertretern des österreichischen Generalstabes festgehalten werden, dass ein militärisches Zusammengehen mit einer benachbarten Grossmacht stets eine kriegerische Verletzung der schweizerischen Neutralität voraussetzte und somit als Allianz mit dem Feind des Feindes geplant war. Dass nun diese Absprachen bei den ausländischen Gesprächspartnern Hoffnungen auf ein schnelles militärisches Engagement der Schweiz an ihrer Seite weckten, wird sowohl bei Fuhrer im Falle des österreichischen als auch im Artikel von Peter Mertens im Falle des deutschen Generalstabes im Kapitel Die ausländische Perspektive erkennbar. Theophil Sprecher selbst scheint vor 1914 für den Fall eines europäischen Krieges wiederum felsenfest mit einem italienischen Angriff auf die Schweiz gerechnet zu haben, ein Zusammengehen mit Österreich-Ungarn gegen Italien erschien ihm daher nur logisch und politisch im Sinn der Neutralitätshandhabung des 19. Jahrhunderts unbedenklich. Für einen solchen Fall der militärischen Neutralitätsverletzung von aussen favorisierte Sprecher zudem bis weit in die Kriegszeit hinein die Idee der strategischen Vorwärtsverteidigung auch jenseits der Schweizer Staatsgrenze. Juri Jaquemet skizziert danach in seinem Beitrag «Schützengräben auf der Sprachgrenze: Die Fortifikation Murten im Ersten Weltkrieg» die operative Hauptverteidigungslinie der Schweizer Armee an ihrer Westfront sowie die diesbezüglichen baulichen Verteidigungsvorbereitungen. Dass der Begriff der «Grenzbesetzung» zur Erfassung des Hauptverteidigungsdispositivs der Schweizer Armee nicht gänzlich geeignet ist, unterstreicht Jaquemets Aussage, wonach etwa zwei Drittel aller Schweizer Soldaten im Ersten Weltkrieg mindestens einen Ablösedienst in den weit hinter der Landesgrenze zu liegen kommenden Fortifikationen Murten oder Hauenstein leisteten. Weiter geht der Autor der Frage nach, inwiefern die auf der Sprachgrenze liegende Fortifikation Murten von innenpolitischer Bedeutung war. Schliesslich versucht sich der Herausgeber des vorliegenden Bandes im Beitrag «Vom Massensturm zur Sturmabteilung. Die Kriegführung des Ersten Weltkrieges und die Schweizer Armee – Simulakren und Gehversuche» an einer Fallstudie zur Modernisierung der schweizerischen Kampfführung gegen Ende des Krieges. Der Beitrag soll zeigen, wie die Schweizer Armee die Umgestaltung und Totalisierung der Kriegführung im Ersten Weltkrieg durchaus wahrnahm und zumindest sequenziell zu verarbeiten suchte. Im Fokus der Betrachtung liegt der Wissenstransfer aus ausgewählten Frontkommandierungen schweizerischer Offiziere der zweiten Kriegshälfte und die Erprobung neuer Angriffsverfahren durch einen Truppenversuch im solothurnischen Mariastein.

Das dritte Kapitel Militäralltag und Ablösungsdienste widmet sich der zentralen Frage, wie sich der eingangs problematisierte kriegslose Kriegszustand auf die Wehrdienstleistungen der Schweizer Soldaten auswirkte. Anfang August 1914 waren insgesamt 238 000 Mann unter Waffen getreten, die ersten Dienstwochen danach standen atmosphärisch ganz im Zeichen des eben erfolgten Kriegsausbruchs. Im Herbst 1914 wurden jedoch bereits beträchtliche Truppenkontingente entlassen; es ging darum, den Grenz- und Neutralitätsschutz mit einem minimalen Kräfteansatz sicherzustellen und die Wehrmänner ansonsten wieder der Wirtschaft des Landes zur Verfügung zu stellen. Damit ging die Schweizer Armee dazu über, ihre Truppenkörper und Verbände nach einem fortlaufend angepassten und auf die jeweilige Bedrohungslage ausgerichteten Rotationsmodus aufzubieten und wieder zu entlassen. So standen im Frühjahr 1915 beispielsweise nur noch knapp 60 000 Mann unter Waffen, im November 1916 waren es gar nur noch 38 000 Mann, im Frühjahr 1917 dafür wieder gut 100 000 Mann und im November 1918 betrug die aufgebotene Truppenstärke während des Landesstreiks etwa 110 000 Mann.28 Wie Marco Jorio kürzlich in Erinnerung rief, leisteten die Soldaten des Auszugs pro Jahr im Schnitt drei bis vier Monate, diejenigen der Landwehr noch etwa zwei Monate und jene des Landsturms nur etwa einen Monat Militärdienst.29 Insgesamt standen die Soldaten des Auszugs während des Krieges in mehreren sogenannten Ablösungsdiensten etwa 500 bis 600 Diensttage lang unter Waffen. Wie nun Jorio mit seinem Beitrag «Ringsum Kanonendonner braust. Die Zuger Soldaten am Rande des Sturms» und Dieter Wicki mit seinem Artikel «Alltagsgeschichte und Erinnerungskultur mit Blick auf Aargauer Soldaten» bildhaft herausarbeiten, trugen diese regelmässig wiederkehrenden Ablösungsdienste und die grundsätzlich generöse Beurlaubungspraxis massgeblich dazu bei, dass Mannschaften wie Offiziere den Aktivdienst von 1914 bis 1918 ganz wesentlich als eine Abfolge gewissermassen längerer Wiederholungskurse erlebten und damit den mindset der Instruktionsdienste der Friedenszeit unweigerlich auf die Wehrdienstleistungen der Kriegsjahre übertrugen. Die beiden Fallstudien heben deutlich hervor, dass der Krieg in der Regel für die Schweizer Soldaten doch sehr weit weg war. Entsprechend beklagten die Offiziere wiederholt die «Wiederholungskursmentalität» der Truppen, ohne jedoch selbst gegen diese Entwicklung immun gewesen zu sein. Die geistige und physische Abwesenheit der Kriegsrealitäten prägte augenscheinlich die Einstellung der Soldaten zum Wehrdienst, wenn diese zwischen «nützlichen Arbeiten» beispielsweise zum Festungsbau oder zur Unterstützung der Grenzwachtorgane und «unnützen Tätigkeiten» wie der Gefechts- und natürlich der Drillausbildung zu unterscheiden begannen. Hier können durchaus als zivilistisch zu interpretierende Dienstauffassungen beobachtet werden, die kaum darüber reflektierten, warum Drillausbildung für das militärische Funktionieren einer Truppe auf dem modernen Gefechtsfeld des Weltkrieges hätte notwendig sein können. Desweitern fällt auf, dass entgegen den althergebrachten Überlieferungen die Ablösungsdienste zwischen 1914 und 1918 nicht durchgehend von drastischer militärischer Härte geprägt waren. Wie Dieter Wicki ausführt, verfügte die Truppe normalerweise über ein anschauliches Mass an Freizeit, die eigentlichen Arbeitszeiten waren, wie im Ausbildungsbefehl des Generals von 1914 festgehalten, häufig auf die Morgenstunden begrenzt.30 Nicht nur Gewehrgriff und Taktschritt prägten entsprechend den Aktivdienst der Truppe, sondern eben auch Zerstreuung, Unterhaltungsprogramme, der Besuch der Gasthäuser und die anstehende Beurlaubung. Wie neuere Truppengeschichten zeigen, waren ausserdem gewisse Ablösungsdienste, wie zum Beispiel jene an der Südostgrenze im Kanton Graubünden, durchaus beliebt:

«Soldaten allüberall! In der hübschen Konditorei ‹Ma campagne› in Pontresina sitzen sie behaglich; denn dieses einstige Stelldichein der eleganten Welt ist eine Soldatenstube geworden. Tritt man neugierig ein, schallt es lustig: ‹Nüt für Ziviliste›. Die Strasse in Pontresina, die sonst gleichzeitig Korso und Markt und Vanity fair aller Rekordjäger in touristischen und weltlichen Dingen war, ist sehr beliebt: Munitionskolonnen und Geschütze, Reiter und Fussvolk ziehen vorbei. Die bunte Herde der Hotelomnibusse vor dem Bahnhof ist verschwunden; dafür stehen auf den Vorplätzen der grossen Hotels Kanonen und Maschinengewehre. Dort, wo sonst das Verkehrsbureau war, ist jetzt das Platzkommando und ein von der Sonne braun gebratener Soldat, Bajonett am Gewehr, steht davor.»31

Der militärische Bezugsrahmen der Schweizer Aktivdienstsoldaten scheint summa summarum nicht so sehr der Krieg als vielmehr der Instruktionsdienst beziehungsweise der Wiederholungskurs der Friedenszeit geblieben zu sein, entsprechend dominierten dessen klassische Problemlagen. Der moderne Krieg war insbesondere für die Mannschaft weit weg, und so nützte sich der überdies häufig mangelhaft gestaltete Ausbildungsbetrieb ab. Angesichts dieser Umstände und eingedenk der sich insgesamt eher im Rahmen haltenden Dienstbelastung der Wehrmänner sprachen Jorio und Wicki an der Tagung von 2016 von einer partiellen «Verzivilisierung» der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg. Diese These steht insbesondere Überlegungen einer angeblichen Militarisierung der Schweizer Gesellschaft im Ersten Weltkrieg entgegen. Sie wird zumindest indirekt auch durch die Aufstellung des «Vortragsbüros der Armee» gestützt, dem sich Yves-Alain Morel in seinem Beitrag «General Wille und der Wehrwille» widmet. Die Arbeiten des Büros von Gonzague de Reynold sollten die militärische und staatsbürgerliche Erziehung der Wehrmänner fördern und «Vaterlandsliebe hervorrufen», entsprechende Insuffizienzen scheinen zumindest in den Augen des Oberbefehlshabers die Errichtung des Büros notwendig gemacht zu haben.

Im vierten Kapitel Meutereien und Militärjustiz tritt der Krieg als Kontextrahmen deutlich in den Hintergrund. Vier junge Kollegen erläutern auf der Basis dreier Qualifikationsarbeiten ihre Forschungsresultate zu meutereiartigen Vorfällen in der Schweizer Armee während des Aktivdienstes. Manuel Wolfensberger beleuchtet in seinem Beitrag «Meuterei und Aufruhr in der Schweizer Armee während des Ersten Weltkrieges: Die Militärjustiz zwischen Gesetz und General» die rechtlichen Grundsatzproblematiken von insgesamt 44 erfassbaren Fällen kollektiver Insubordination im Schweizer Militär während der Kriegsjahre, von denen notabene bis heute erst drei detaillierter aufgearbeitet sind.32 Das veraltete Militärstrafgesetz aus dem Jahre 1851 erschwerte die adäquate Ahndung dieser Fälle massiv. Der Schweizer Oberbefehlshaber, General Wille, sah in der Militärjustiz zudem primär ein Instrument zur militärischen Erziehung der Truppe beziehungsweise zur Kriegsertüchtigung derselben und griff wiederholt und massiv in die Arbeit der Militärgerichte ein. Zu diesem Schluss kommen auch Maurice Thiriet und Michel Scheidegger in ihrem Beitrag «General Ulrich Wille und die Militärjustiz am Beispiel der Meuterei der Feldbatterie 54». Der Beitrag zeigt fallartig auf, wie der General die Militärjustiz nicht so sehr als unabhängiges Rechtsorgan des militärischen Gesamtsystems, sondern eher als Instrument zur Disziplinierung des «Referendumsbürgers in Uniform» ansah und massiv in die Arbeit der Militärrichter intervenierte. Dazu sah sich Wille im Verlaufe des Krieges durch immer heftiger laufende Skandalisierungskampagnen der linken politischen Presse gegen die Armee veranlasst, die insbesondere das schweizerische Offizierskorps klassenkämpferisch als Unterdrückungsinstrument der bürgerlichen Klasse brandmarkte. Da Militärgerichtsprozesse zu vermuteten oder effektiv stattgefundenen Meutereien den Armeeskandalisierungen beispielsweise der linken Berner Tagwacht laufend neue Munition lieferten, griff Wille im Falle der Feldbatterie 54 in die Untersuchungsarbeit der Militärjustiz ein und entzog ihr faktisch den Fall, um selbigen auf disziplinarischem Wege armeeintern zu erledigen. Wille ging es dabei auch darum, die Autorität der Truppenkommandanten zu stärken, wobei er deren Verhalten durchaus differenziert und situationsabhängig zu beurteilen wusste.33 Dass sich der General in seiner Funktion gewissermassen als oberster Personalchef der Schweizer Armee betrachtete, macht auch der Beitrag von Lea Moliterni und Michel Scheidegger «Gnadenmotive und Gnadenpraxis innerhalb der Infanterie-Brigade 12» deutlich. Am Beispiel einer kleinen Meuterei auf dem Flugplatz Dübendorf im Frühjahr 1918 untersucht der Artikel Gnadengesuche militärgerichtlich verurteilter Wehrmänner an den Oberbefehlshaber, der in der Schweizer Armee allein im rechtlich bindenden Sinne Gnade sprechen konnte. Die Charakteristiken seiner Gnadenpraxis fördern dabei ziemlich neue Facetten der Person Ulrich Willes zu Tage und zeigen überraschend eine ihm eigene, humanistische Seite auf. Moliterni und Scheidegger sprechen in diesem Zusammenhang vom «sensiblen General», eine Charakterisierung, die die übliche wie simple Überlieferung von Ulrich Wille als bösem «Soldatenschinder» stark in Frage stellt.


Innenpolitisch bis heute kontrovers: die Ordnungsdiensteinsätze der Armee in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit (Bild: Georg Kreis, Schweizer Postkarten aus dem Ersten Weltkrieg, Baden 2013, S. 167).

Das wohl einschneidendste und strittigste Ereignis der Schweizer Geschichte im Ersten Weltkrieg ist der Landesstreik vom 12. bis 14. November 1918. Es handelte sich dabei um einen beinahe landesweit durchgeführten Generalstreik der schweizerischen Gewerkschafts- und Arbeiterorganisationen. Während dreier Tage legten insbesondere in den meisten Schweizer Industriezentren gegen 250 000 Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellte des öffentlichen Sektors die Arbeit nieder. Die Schweizer Armee hatte dabei nach entsprechenden Truppenaufgeboten durch den Bundesrat Ordnungsdienst zu leisten. Gesetzliche Grundlagen hierzu waren einmal mehr die Militärordnung von 1907, auf deren Basis die Landesregierung der Armee im aktiven Dienst die «Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern»34 anvertrauen konnte sowie die Instruktionen des Bundesrates an den General vom 4. August 1914, die diesbezüglich festhielten: «Im Innern hat die Armee wo nötig mitzuwirken, um Behörden und Beamte bei Ausübungen ihrer Befugnisse und Pflichten zu schützen und die allgemeine Rechtsordnung ungestört zu erhalten.»35 Schon vor dem Landesstreik war es in der Schweiz zu vorsorglichen Pikett-Stellungen und ab Herbst 1916 zu diversen Ordnungsdiensteinsätzen von aufgebotenen Truppenteilen gekommen, um teilweise gewaltumrahmte politische und soziale Strassenproteste in den Griff zu bekommen. Die Geschichte dieser Einsätze und insbesondere des Ordnungsdiensteinsatzes während des Landesstreiks werden im etwas längeren und eher für sich stehenden Kapitel Ordnungsdienst und Landesstreik dargestellt und untersucht. Auf eine weitere Kurzzusammenfassung der Ereignisse wird an dieser Stelle ausdrücklich verzichtet. Der Forschungsstand zum militärischen Aspekt des Themas ist äusserst solide.36 Im Rahmen einer ganzen Reihe von vor allem bei Professor Walter Schaufelberger geschriebenen Dissertationen wurden die Ordnungsdiensteinsätze während des Ersten Weltkrieges und während des Landesstreiks umfassend aufgearbeitet.37 Eine Debatte um die Interpretation des Landesstreiks hat in den vergangenen Jahren Rudolf Jaun, teilweise sekundiert von Tobias Straumann, anzustossen versucht. Demnach bedarf der Landesstreik «nicht nur aus militärgeschichtlicher Sicht dringend einer Neubearbeitung», wirken doch das in den 1950er- und 1960er-Jahren entstandene Standardwerk von Gautschi reichlich angejahrt und das Narrativ vom sich zuspitzenden Klassenkampf und der Entladung im Landesgeneralstreik sowie auch die These, die Armee habe den Generalstreik «niedergeschlagen, sehr handgestrickt und wenig zutreffend. Unbestritten ist [dagegen], dass General Ulrich Wille mit seiner Präventionsstrategie der Einschüchterung die massive Verlegung von Truppen nach Zürich und Bern herbeigeführt hat und damit Anlass zur Auslösung des Landesgeneralstreiks gegeben hat.»38 Jauns Anstoss soll im vorliegenden Band mit einem Neuabdruck seines Beitrages «Militärgewalt und das ‹revolutionäre› Gravitationszentrum Zürich (1917–1918)» aus den Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft Zürich von 2014 noch einmal Raum gegeben werden. Vorgängig beleuchtet Marco Knechtle in seinem auf seiner Masterarbeit basierenden Beitrag «Der Ordnungsdienst: Der zweite Hauptauftrag der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg» die im Zusammenhang mit der Oberstenaffäre angeordneten und zur affaire des trains führenden Pikett-Stellung der Armee vom Frühjahr 1916, den mehrere Wochen dauernden Ordnungsdiensteinsatz in La Chaux-de-Fonds im Frühsommer desselben Jahres sowie den zur Verhaftung des linken Politikaktivisten Jakob Herzog führenden Truppeneinsatz vom 27. Juni 1918 in Zürich. Die weiteren Beiträge dieses Kapitels schrieben mit Roman Rossfeld und Christian Koller zwei ausgewiesene Experten der Materie, deren eigenes Buch zum Thema etwa zeitgleich mit dem vorliegenden Band der SERIE ARES erscheinen wird.39 Rossfeld widmet sich in seinem Beitrag «Bolschewistischer Terror hat kein Schweizer Heimatrecht: Ordnungsdienst und Revolutionsrhetorik im schweizerischen Landesstreik vom November 1918» der Vorgeschichte des Landesstreiks, dem Antimilitarismus der politischen Linken, der Revolutionsangst des Bürgertums und des Militärs sowie der eskalationstreibenden Kampfrhetorik der beiden Hauptparteiungen. Zum Ausdruck kommt dabei eine «kalkulierte Ambivalenz» der politischen Linken gegenüber einer martialisch-revolutionären Rabulistik, auch wenn eine eigentliche Revolution gar nicht geplant war.40 Koller schliesslich analysiert in seinem Beitrag «Die Rückkehr der Kosaken: Ordnungsdiensteinsätze bei Streiks vor und im Ersten Weltkrieg und die Schweizer Arbeiterbewegung» die Rolle der Armee und der Ordnungsdiensteinsätze in den zeitgenössischen Militär- und Streikdiskursen der politischen Linken. Einleuchtend führt er vor Augen, wie die Armee bereits während der Jahrhundertwende als Repressionsinstrument der bürgerlichen Klasse wahrgenommen wurde. Für den Herausgeber auffallend ist die Erkenntnis, dass sich diese Deutung auf die Armee beschränkt. Vergleichbare Diskursmuster zur Polizei sind kaum zu erkennen. Dabei verloren im Rahmen der Gewaltkonfrontationen mit der Polizei während der Zürcher Novemberkrawalle von 1917 (drei tote Arbeiter, ein toter Polizist) oder am 13. Juni 1919 anlässlich der Krawalle um das Zürcher Bezirksgebäude (zwei tote Arbeiter, ein toter Polizist)41 mehr Arbeiter ihr Leben als während des Landesstreikeinsatzes der Armee. Es scheint jedoch offensichtlich, dass die Ordnungsdiensteinsätze der Armee klassenkämpferisch besser zu skandalisieren waren als jene der Polizei. Weiter fällt auf, dass im November 1918 sowohl das forsche Vorgehen der Armee in Zürich als auch der zurückhaltende Truppenaufmarsch in Bern auf ihre jeweilige Weise die Lage beruhigten. Untersagte der Platzkommandant in Bern, Éduard Wildbolz, der Truppe explizit martialische Provokationen gegenüber den Streikenden, überschwemmte der Platzkommandant in Zürich, Emil Sonderegger, die Innenstadt förmlich mit Truppen und nahm den Streikenden damit jeden Raum, um sich als Bewegung irgendwie entfalten zu können.

Das letzte Kapitel stellt die Leitidee des Bandes, die Geschichte des Schweizer Militärs insbesondere im Kontextrahmen des eigentlichen Weltkrieges zu beleuchten, wieder in den Vordergrund und widmet sich der ausländischen Perspektive auf die Schweiz und die Schweizer Armee. Peter Mertens geht in seinem Beitrag «Preussische Wunschbilder, schweizerische Suggestive? Beobachtungen zur Wahrnehmung und Beurteilung des Schweizer Militärs durch Exponenten des Deutschen Reiches» der für Schweizer Militärhistoriker hochinteressanten Frage nach, welchen Kampfwert deutsche Militärs der Schweizer Armee während des Ersten Weltkrieges eigentlich beimassen. Auf der Basis teilweise neuer Quellen kommt er zum Schluss, dass deutscherseits weniger die antizipierte militärische Dissuasionswirkung als vielmehr eine Kombination schweizerischer Selbstbilder und deutscher Perzeptionsmuster die Schweizer Armee in ein günstiges Licht setzte. Erwin Schmidl beleuchtet sodann in seinem Beitrag «Gedanken zu den militärischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg» auf der Basis österreichischer Forschungsarbeiten die Kontakte zwischen den Generalstäben der beiden Länder. Dabei erhärtet sich das Bild weiter, dass Theophil Sprecher und der k. u. k. Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf in den 1900er-Jahren sehr ernsthaft mit einem künftigen italienischen Angriffskrieg auch auf Schweizer Territorium rechneten und darauf ein militärisches Zusammengehen ihrer beiden Heere als auf der Hand liegend erachteten. Hierfür blieb für Sprecher der italienische Angriff aber bedingungslose conditio sine qua non, während Conrad sich ähnlich wie Moltke d. J. mittelfristig wohl eine grössere Schweizer Bündnisflexibilität erhoffte. Bemerkenswert sind überdies österreichische Forschungshinweise, wonach nach Abschluss der Oberstenaffäre Theophil Sprecher den Nachrichtenaustausch mit dem k. u. k. Generalstab selbst fortsetzte. Dimitry Queloz schliesslich beschliesst den Tagungsband mit seinem Beitrag «Regards français sur la neutralité suisse (1871–1918)». Er beleuchtet die schwierigen politischen Beziehungen und von Misstrauen geprägten militärischen Kontakte zwischen Frankreich und der Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg. Die Nomination von Theophil Sprecher als Chef der schweizerischen Generalstabsabteilung beunruhigte den französischen Generalstab, der pompös inszenierte Besuch Wilhelms II. in der Schweiz im Jahre 1912 wurde argwöhnisch beäugt. Auch nach Kriegsausbruch hielt das französische Misstrauen in die schweizerische Neutralität an und führte im Jahre 1915 zur Erstauflage des bekannten Plan H der französischen Armee zum präventiven Einfall auf Schweizer Territorium zwecks Abwehr eines deutschen Umgehungsangriffs. Erst das Kriegsjahr 1917 brachte schliesslich den entscheidenden Umschwung und die vertrauensbildenden Gespräche zwischen Theophil Sprecher und Vertretern des französischen Generalstabes.

Der vorliegende Tagungsband liefert keine abschliessende, detailsynthetisierende Gesamtbetrachtung zum Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg. Jedoch trägt er die wichtigste Forschung seit den 1990er-Jahren zusammen. Die diesem Band vorangegangene Tagung machte zudem etliche Forschungslücken erkennbar. Das Generalat Ulrich Willes bedürfte dringend einer genaueren Analyse. Dann ist jenseits der militärstrategischen Memoriale und Operationsentwürfe die von den Schweizer Truppenkommandanten ins Auge gefasste Kampfführung auf operativer und taktischer Stufe nicht adäquat aufgearbeitet. Damit einhergehend wäre entsprechend unbedingt der Ausbildungsbetrieb der Schweizer Armee zwischen Kriegsausbruch und Kriegsende genauer daraufhin zu untersuchen, inwiefern sich die revolutionierende Entwicklung der Krieg- und Kampfführung darin niederschlug. Dies betrifft Manöver, Truppenübungen, die Kriegsrekruten- und Kriegsoffiziersschulen, die Lehrgänge der Zentralschulen usw. Verwiesen sei an dieser Stelle immerhin auf das an der Militärakademie an der ETH Zürich laufende Forschungsprojekt zu den Auslandskommandierungen schweizerischer Offiziere zwischen 1898 und 1918. Im sozialhistorischen Bereich hat Marco Jorio aufgezeigt, wie die Einrichtung der sogenannten «Notunterstützung» bedürftiger Soldatenfamilien einer genaueren Erforschung harrt. Eine breite Untersuchung des Dienstalltages in einer grösseren Reihe von Truppenkörpern und Verbänden liesse es zu, die These der «Verzivilisierung» der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg zu überprüfen. Desweitern wäre zu untersuchen, wie sich die Kollektiverfahrung des Aktivdienstes auf die betreffende Schweizer Männergeneration sowie auf die Gesamtgesellschaft auswirkte. Hierzu wird in einigen Jahren das eben in Angriff genommene Dissertationsprojekt des ebenfalls an der Militärakademie an der ETH Zürich arbeitenden Nachwuchshistorikers Mario Podzorski zur Aktivdiensterfahrung des Schweizer Offizierskorps erste Antworten liefern können.

Abschliessend sei mehreren Institutionen und Personen für ihre Unterstützung der Herausgabe dieses Tagungsbandes herzlich gedankt: Der Militärakademie an der ETH Zürich, der Schweizerischen Akademie für Geisteswissenschaften und der Bibliothek am Guisanplatz für die finanzielle Unterstützung des Publikationsprojekts. Rudolf Jaun für den stets gewinnbringenden Fachaustausch. Und meinen Mitarbeitern Tamara Braun, Adrian Wettstein und Andreas Rüdisüli für ihre engagierte und wertvolle Mitarbeit.

Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale

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