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3. Wahrheit und Geschichte

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Eine der ersten Fragen, die immer wieder an die Bibel gestellt werden, ist die nach der Historizität des Erzählten. Ist es wirklich so gewesen, wie es die Bibel erzählt? Die Antwort darauf kann eigentlich sinnvoll immer nur »nein« lauten, und zwar aus den prinzipiellen Gründen, die oben entfaltet worden sind. Ist aber deswegen die Bibel weniger wahr? Auch die Antwort auf diese Frage lautet nach dem vorher Gesagten eindeutig »nein«. Denn die Wahrheit des Erzählten liegt offensichtlich jenseits der Frage dessen, was an Gewesenem in der Gegenwart präsent gehalten werden soll. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Der »Israel« genannte Erzvater Jakob hatte zwölf Söhne und eine Tochter Dina. Aus den zwölf Söhnen Ruben, Simeon, Levi, Juda, Issachar, Sebulon, Gad, Ascher, Josef, Benjamin, Dan und Naftali (Gen 46,8–26) werden die zwölf Stämme Israels, die aus Ägypten aus- und in das Gelobte Land einziehen. Laut Gen 46,27 waren es 70 männliche Personen, die nach Ägypten kamen und sich dort so vermehrten, dass das Land von ihnen wimmelte (Ex 1,7). Ex 12,37 hält dann fest, dass an die sechshunderttausend Mann aus Ägypten auszogen, »nicht gerechnet die Kinder« (vgl. Num 11,21). Die Zählung in Num 1,46 ergibt sogar die genaue Zahl 603.550 für alle wehrfähigen Männer über zwanzig Jahren (vgl. Ex 38,26; Num 26,51). Der biblischen Chronologie zufolge, die den Tempelbau 1200 Jahre nach Abraham datiert, dauerte der Aufenthalt in Ägypten 430 Jahre (Ex 12,40). Aber ist das alles so, wie es erzählt wird, in einem historischen Sinne wahr? Nun kann man Berechnungen anstellen, wie viele Generationen in die 430 Jahre passen und wie viele Kinder und Kindeskinder es geben muss, um von 70 Männern auf die große Anzahl von 600.000 zu kommen. Die Angabe ist erstaunlicherweise selbst bei eingerechnet hoher Kindersterblichkeit gar nicht so unplausibel, wenn man das Bevölkerungswachstum einer prosperierenden Gesellschaft mit ca. 2 % veranschlagt. Doch geht es darum in den angeführten Aussagen? Gen 15,13.16 scheint einer anderen Chronologie zu folgen, in der jedoch mit der Angabe von vier Generationen in Ägypten das exorbitante Wachstum der Bevölkerung auf keinen Fall möglich wäre. Von den Stämmen Israels als große übergreifende Sozialform fehlt sowohl für das zweite als auch für das erste Jahrtausend v. Chr. jeder außerbiblische Beleg. Das erst recht spät in der Literaturgeschichte herausgebildete Zwölfstämmesystem der Größe »Israel« war zu keinem Zeitpunkt der Geschichte Wirklichkeit, zumindest lassen die Quellen das nicht erkennen. Im Gegenteil: Die ägyptischen Quellen kennen die vermeintlich bemerkenswert große Gruppe von Hebräern in keinem ihrer Texte, weder im 15. Jh. v. Chr., wo man den Exodus aufgrund der Angaben in Ex 12,40–41 und 1Kön 6,1 annehmen könnte, noch in der Regierungszeit Ramses II. (1279–1213 v. Chr.), der wegen der Erwähnung der Vorratsstädte Pitom und Ramses (Ex 1,11) als Pharao des Exodus gilt. Eine so große Gruppe (mit Frauen und Kindern annähernd zwei Millionen Menschen!) wäre wohl kaum in der Wüste von einer Person zu führen gewesen, und wenn doch, hätte sie doch sicher Spuren hinterlassen. Ohne die biblischen Erzählungen käme kein Historiker auf die Idee, dass es ein Ereignis wie den Exodus gegeben hätte.

Die Wahrheit der Aussagen zum Exodus und zu den zwölf Stämmen Israels muss jenseits der Frage liegen, ob es sich um historische Tatsachen handelt. Es geht vielmehr um die gemeinsame Abstammung von einem Ahnvater, um die Entwicklung, dass Israel aus allen Stämmen und nicht nur aus Juda besteht und dass die über das ganze Land verstreuten Gruppen eine gemeinsame Abstammung eint. Es geht um eine gemeinsame theologische Perspektive der Erwählung und um die Betonung, dass Gott die Geschichte lenkt. Dem dienen das chronologisch genaue System und die Anbindung der Datierung des Exodus an Abraham und den Tempelbau. Mit der Erwählung Israels durch den Gott Jhwh ist der Auftrag verbunden, eine Größe zu werden, die einen inneren Zusammenhalt aufweist. Es geht um die Einlösung der göttlichen Zusage, dass sich Abrahams Nachkommen vermehren und zu einem großen Volk heranwachsen werden. Die Geschlossenheit der Israeliten als familiensolidarische Verwandtschaftsgruppe, die neben der Abstammung eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Identität eint, soll durch die Erzählung geschaffen werden. In den Texten wird viel eher eine Ordnung als Ideal konstruiert, als dass eine historische Tatsache abgebildet würde.

Geschichte, so könnte man zusammenfassen, verfolgt einen Zweck. Sie zielt dabei nicht unbedingt darauf, das Geschehene abzubilden. Zugespitzt formuliert will erzählte Geschichte nicht in erster Linie die Vergangenheit abbilden, sondern die Zukunft verändern. Erneut treten die Geschichte als Summe alles Geschehenen und die Geschichte als das in der Gegenwart Erinnerte und präsent Gehaltene auseinander.

Die Welt der Hebräischen Bibel

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