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3. Hermeneutische Perspektiven: Die doppelte kanonische Kontextualisierung der Schriften der Hebräischen Bibel und der jüdisch-christliche Dialog

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Bereits Klaus Koch hat in seinem Beitrag zum doppelten Ausgang des Alten Testaments auf die hermeneutische Relevanz seiner literarischen und religionsgeschichtlichen Bestandsaufnahme für eine Biblische Theologie hingewiesen. Der »doppelte Ausgang« und die Geschichte des Alten Bundes ist nicht »Ergebnis menschlichen Fehlverhaltens«, sondern ist als ein »Werk Gottes« zu verstehen. So kann er seinen Beitrag mit den Worten schließen:

Auf jeden Fall scheint es mir an der Zeit, daß wir es heute so begreifen und den Willen des Grundes aller Geschichte zu respektieren beginnen. Das heißt nicht weniger, sondern mehr historisches Bewußtsein zu entwickeln, als es bisher der Bibelwissenschaft zuhanden ist. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich eine gesamtbiblische Theologie überzeugend aufbauen. Um es mit Rolf Rendtorff zu sagen: Es ist der »einzig angemessene Weg ..., das Selbstverständnis des Alten Testaments in seiner kanonischen Form ganz ernst zu nehmen und zugleich die historische Tatsache, daß es eine doppelte Wirkungsgeschichte hat, eine jüdische und eine christliche, auch theologisch anzuerkennen«.92

Klaus Kochs Aufsatz hatte und hat eine große Ausstrahlungskraft und wurde in der Forschung breit aufgenommen. So formulierte Bernd Janowski im Jahre 1998 im Anschluss daran, »daß das Judentum mit Mischna und Talmud eine Form der Rezeption biblischer Überlieferungen ausgebildet hat, die ebenso eigenständig ist wie die christliche, die aber andere Wahrheitsmomente enthält als die christliche«.93 Walter Groß führt diesen Gedanken weiter, indem er zeigt, dass diese divergierenden Wahrheitsmomente nicht einfach zu addieren oder miteinander zu kombinieren sind, da sie sich in gewisser Art und Weise geradezu widersprechen. »Die These des doppelten Ausgangs der Bibel Israels« stellt somit »keine Lösung« dar, mit Hilfe derer die Differenzen zwischen Judentum und Christentum ausgeglichen werden könnten; sie bildet aber ein »Modell bzw. einen Rahmen, innerhalb derer nach Lösungen gesucht werden kann – und zwar in einem christlich-jüdischen Dialog«.94 Dementsprechend kann er formulieren:

Vom christlichen Bibeltheologen ist gefordert, die Perspektivität seiner christlichen Wahrnehmung der biblischen Rede von Gott und der daraus resultierenden christlichen Lehrsätze anzuerkennen. Einerseits ist er an diese Perspektive gebunden, macht sie seine Identität als Christ aus, andererseits gehört es zu seiner eigenen verpflichtenden Perspektive, auch die Existenz und Bedeutsamkeit der jüdischen Perspektive (post Christum) als theologisch, nicht nur historisch relevantes Datum anzuerkennen.95

Allerdings kommt dem Christentum hier eine andere Rolle zu als dem Judentum. Christoph Dohmen, der bereits im Jahre 1996 auf der Basis der Ausführungen Klaus Kochs das »Konzept einer doppelten Hermeneutik« ausgearbeitet hat, wies darauf hin, dass sich die jüdische und die christliche Tradition zunächst im Hinblick auf die Adressaten, an welche die Auslegung der Bibel Israels gerichtet ist, unterscheiden. Die Diskontinuität der Übernahme der Bibel Israels als Altes Testament betrifft »die Adressatenfrage der Bibel Israels. Der Rezeptionscharakter der Bibel Israels als Altes Testament hält fest, dass das Christentum sich als Zweitadressat (Hervorhebung i. O.) versteht, als partizipierend zum Israel dieser Bibel gehört«.96 Aus diesem Faktum folgert Christoph Dohmen:

Daraus ergibt sich schließlich, daß der Grundgedanke vom doppelten Ausgang der Bibel Israels in Judentum und Christentum hermeneutisch nicht zu einer symmetrischen Struktur führt. Einerseits haben sich natürlich aus der Bibel Israels zwei unterschiedliche Verstehensweisen entwickelt, für die die Begriffe Jüdische Bibel und Altes Testament als Stichwort stehen können. Andererseits besteht auf der einen Linie eine Kontinuität durch den Adressaten Israel, zu dem die andere Linie sich nur in Beziehung setzt, an dem sie Anteil gewinnt, nicht zuletzt durch Jesus, der zu Israel gehört, und den sie als Messias/Christus verkündet.97

So impliziert letztlich die Tatsache, dass das christliche Alte Testament auch die Bibel Israels ist, einen »Verweischarakter auf das Judentum, der das Christentum in seinem Wesen bestimmt«. Christen können im ersten Teil ihrer Heiligen Schrift ihren Israel-Ursprung erkennen, und eine solche »Israelerinnerung« steht somit im Zentrum der Hermeneutik des Alten Testaments.98 Aus dem historischen Faktum des doppelten Ausgangs ergibt sich in systematischer Hinsicht die Verpflichtung christlicher Exegese, bei aller Differenz sensibel für antijüdische und »israel-vergessene« Interpretationen des Alten Testaments zu sein, um so dem Vorwurf einer antijüdischen »Okkupation« der Heiligen Schrift des Judentums bereits im Vorfeld begegnen zu können. Eine christliche Theologie, welche die beiden Testamente verbindet, muss dafür sorgen, dass keine antisemitische oder antijüdische Theologie eingeschleust wird.99

Die doppelte kanonische Kontextualisierung enthält darüber hinaus aber auch ein dialogisches Moment. Wer sich den Schriften der Hebräischen Bibel zuwendet, wendet sich dem basalen Glaubensdokument des Judentums zu. Jeder Leser und jede Leserin wird durch eine Lektüre der Hebräischen Bibel – zumindest implizit – in die Auslegungs- und Glaubensgeschichte des Judentums hineingenommen. Dies beginnt damit, dass sich von der Hebräischen Bibel die Welt jüdischer Traditionsliteratur erschließt, wobei den Midraschim und den Targumen, die ja als Auslegungsliteratur im engeren Sinne gelten, ganz besonderes Gewicht zukommt. Peter von der Osten-Sacken bezieht sich auf denselben Sachverhalt, wenn er von der zweifachen »Nachgeschichte« des Textes spricht.100 Er stellt seine Ausführungen dabei dezidiert in den Kontext des jüdisch-christlichen Gesprächs, wenn er betont, dass Israel als »Zeuge eigener Wahrheitsgewißheit« zu gelten hat. Eine Biblische Theologie, die der gegenwärtigen Existenz des jüdischen Volks gerecht werden möchte, kann nicht »allein Platz für die Rezeption des Alten Testaments im Neuen« haben, sondern muss die »lebendige Traditions- und Lebensgeschichte der Bibel im Jüdischen Volk« mithören und mitbedenken.101

Da die Tora nach dem jüdischen Traditionsverständnis unendlich viele Auslegungsfacetten enthält und ihre Interpretation eigentlich niemals zum Abschluss kommt,102 sind neben den antiken jüdischen Auslegungen der Bibel Israels auch die Stimmen späterer jüdischer Exegeten und Exegetinnen – vom Mittelalter bis in die Gegenwart – mitzuhören. Dieser Gedanke berührt die Frage nach einer jüdischen Biblischen Theologie. Im Gegenzug zu der vielzitierten provokativen Behauptung Jon D. Levensons, wonach sich Juden aus guten Gründen nicht für Biblische Theologie zu interessieren bräuchten, betont Isaak Kalimi, dass dies zwar für eine christliche Biblische Theologie gelten mag, eine jüdische (Hervorhebung B. E.) Biblische Theologie jedoch hält er für wünschenswert und auch notwendig. Seiner Meinung nach ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Exegese, »die Bibel darauf zu lesen, was sie an religiösen Botschaften und zur Förderung der Humanität zu sagen hat«, um so »den Wert der Schriften für unsere Generation herauszufinden, hat doch jede Generation ihre eigenen, spezifischen Werte, Auslegungen und Theologien.«103 Für Kalimi liegt die Betonung somit auf dem Begriff der »Theologie«, den er im Sinne einer Bibelauslegung versteht, die existentielle Orientierungen und Glaubensinhalte vermittelt. Vor diesem Hintergrund weist Kalimi darauf hin, dass es bereits seit vielen Jahrhunderten Werke gibt, die – auch wenn der Terminus als solcher nicht explizit genannt wird – als Vertreter einer jüdischen Biblischen Theologie gelten könnten, so z. B. die jüdischen Kommentare, die opera magna der jüdischen Literatur – wie z. B. das »Buch der Glaubensansichten und Meinungen« des Rab Saadja Gaon (882–942) oder »Der Führer der Verwirrten« des Rambam (1135–1204) oder auch neuere Arbeiten wie Abraham Heschels »Propheten« (1936) oder Martin Bubers »Königtum Gottes« (1932).104 Neben Isaak Kalimi hat sich auch Marvin Sweeney explizit mit dem Diktum Levensons auseinandergesetzt und in einem Aufsatz, der im Jahre 2000 in der Theologischen Literaturzeitung erschienen ist,105 auf zahlreiche neuere Arbeiten jüdischer Exegeten und Exegetinnen verwiesen, die das jüdische Interesse an dieser Thematik zeigen. Ein wesentlicher Impuls waren dabei die existentiellen Fragen, vor die das jüdische Volk durch die Schoah gestellt wurde.106 In diesem Zusammenhang nennt Marvin Sweeney jüdische Denker wie Ignaz Maybaum, Richard Rubenstein, Eliezer Berkowits und Emil Fackenheim, die alle versucht haben, den Holocaust theologisch zu verarbeiten. Diese Diskussionen hatten wiederum einen Einfluss auf jüdische Bibelwissenschaftler, die nun nach der theologischen Vorstellungswelt des Tanakh in einem breiteren Horizont fragten.107

So wird insgesamt deutlich: Die synchrone doppelte kanonische Kontextualisierung der Schriften der Hebräischen Bibel, die ihrerseits in diachroner Hinsicht aus komplexen religions- und literaturhistorischen Prozessen resultiert, führt zu einer christlichen Hermeneutik des Alten Testaments, die sich einem sensiblen jüdisch-christlichen Dialog in der Spannung von Identität und Differenz verpflichtet weiß. Sie ist von der Bereitschaft getragen, die jüdischen Stimmen der Auslegung mitzuhören und mit ihnen in einen Dialog zu treten, der sich einer geschwisterlichen Verbundenheit und Dankbarkeit verpflichtet weiß.

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