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2. Historische Perspektiven: Schriftwerdung als Reflex religionsgeschichtlicher Dynamiken
ОглавлениеDie einzelnen Schriften des Alten Testaments sind in einem langen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten entstanden. Dabei setzte sich immer mehr der autoritative Anspruch einzelner Überlieferungen durch, der schließlich zu der kanonischen Gestalt der Hebräischen Bibel führte, wie sie heute vorliegt.69 Mit einem Abschluss dieses Prozesses ist wohl am Ende des 1. Jh.s v. Chr. zu rechnen, eine definitive Bestätigung erfolgt dann nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. und dem Beginn der rabbinischen Zeit.70 Für die noch vor-kanonische Sammlung der autoritativen Schriften im antiken Judentum der hellenistischen Zeit sind, wie Klaus Koch in seinem richtungsweisenden Aufsatz »Der doppelte Ausgang des Alten Testamentes in Judentum und Christentum« aus dem Jahre 199171 herausgearbeitet hat, »zwei gegenläufige Tendenzen« erkennbar. Die Analyse der einschlägigen Texte zeigt nämlich, dass sich sowohl im Pentateuch als auch in der Geschichtsschreibung und im prophetischen Schrifttum eine »anwachsende gesetzesbetonende Tendenz«72 findet. Daneben existiert aber auch noch »unverkennbar ein anderer Faden […], [der] das Dasein dämonischer Mächte und die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen [betont;] er rechnet mit einer gnadenhaften Neuschöpfung als göttlicher »Vorleistung« und endet bisweilen in universalistischen Aussagen.«73 Auf erste Ansätze einer prophetischen Eschatologie entstehen so ab dem 3. Jh. v. Chr. Apokalypsen, die »nicht nur den Untergang jeder menschlichen Herrschaft auf Erden, sondern eine nachfolgende neue Schöpfung, einen verwandelten Himmel und eine verwandelte Erde, wo Gerechtigkeit herrscht, [künden]. Zugleich tritt zunehmend eine Erlösungsbedürftigkeit des Menschen heraus, die eine durchgreifende göttliche Entsühnung nötig macht, wie es dann in Jes 53 und Dan 9,24 anklingt, und eine überirdische Mittlergestalt notwendig erscheinen läßt.«74 Bezeichnenderweise spielt in den Texten dieser Sammlung, die erst in der hellenistischen Zeit entstanden sind, das Gesetz Gottes eine eher marginale Rolle.
Das synagogale Judentum, das nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. zu einer Neustrukturierung seines religiösen Symbolsystems gefordert war, gründet sein Selbstverständnis auf die Überlieferungen der Hebräischen Bibel. Sie sind der Gründungsmythos des Volkes, in dem es von seinen Wurzeln bei den Vätern und Müttern erzählt und die Anfänge der göttlichen Tora mit Mose verbindet. Durch die wöchentliche Lesung der Tora in der Synagoge in Verbindung mit der sog. »Haftara« aus den Propheten sind diese Texte nicht nur Gegenstand der Studierstuben und der Auslegung der Gelehrten, die ihren Niederschlag in Mischna, Talmud und Midraschim sowie der Targumliteratur finden, sondern haben auch einen öffentlichen »Sitz im Leben« in den Gemeinden vor Ort. Zudem bildet die Überlieferung der Hebräischen Bibel auch die Grundlage für die Glaubenspraxis, wie sie die rabbinische Bewegung als Lebensideal formulierte. Die 613 Gebote und Verbote der Hebräischen Bibel stehen am Anfang jenes komplexen halakhischen Geflechts, das mit den Bestimmungen aus der Mischna und deren talmudischen Auslegungen Zentrum jüdischer Toraobservanz über die Jahrhunderte hin werden sollte. Traditionelle Bezeichnungen der Hebräischen Bibel sind »Miqra« (wörtl.: Lesung)«75, »Tanakh« (als Abkürzung aus » Tora« [Weisung], »Nevi’im« [Propheten], und »Ketuvim« [Schriften])76 oder »qitve qodesch« [Heilige Schriften].77
Während die jüdische Tradition in jenen breiten Strom der Überlieferung, der ganz generell unter dem Stichwort der »mündlichen Tora« zusammengefasst wird, mündet, entwickelt sich die christliche Traditionsbildung hin zum Neuen Testament bzw. zur Literatur der Alten Kirche. Aber auch für diese Entwicklungslinie ist der Ursprung im antiken Judentum anzusetzen: Parallel zu dem Prozess der Sammlung autoritativer Schriften in hellenistischer Zeit bzw. noch bevor oder während die jüngsten Texte der späteren Hebräischen Bibel überhaupt erst entstehen, werden die Texte des Pentateuch, die bereits seit längerer Zeit autoritativen Status haben, in Alexandria, der Metropole hellenistischer Kultur, ins Griechische übersetzt. Die bedeutendste Quelle für diesen Prozess bildet der sog. Aristeasbrief, der zwischen 127 und 118 v. Chr. verfasst wurde. Hier wird erzählt, dass zur Zeit des Königs Ptolemäus II. Philadelphos (285–247 v. Chr.) 72 Weise, die aus Jerusalem nach Alexandria entsandt worden waren, die Tora auf der Alexandria vorgelagerten Insel Pharos in Stille und Abgeschiedenheit übersetzt haben. Anlass war die Empfehlung des Bibliothekars Demetrius von Phaleron, das jüdische Gesetz in die berühmte Bibliothek in Alexandria aufzunehmen. Die Übersetzer arbeiteten 72 Tage, wobei sie sich auch gegenseitig austauschten. Nach dem Abschluss des Werkes versammelte Demetrios die Gemeinde und verlas die Übersetzung. Priester, die Ältesten der Übersetzer, die Bürgerschaft und die Vorsteher der Gemeinde betonten die hohe Qualität der Übersetzung (»schön, fromm und genau«) und legten fest, dass der Text so unverändert beibehalten werden müsse. Alle stimmten dem zu; wer dennoch etwas an der Übersetzung ändern wolle, werde verflucht sein (308–311).
Wenn dieser Bericht auch nicht als historisch gilt, so sind ihm doch Hinweise auf die Entstehung der griechischen Übersetzung des Pentateuch bzw. auch der anderen Bücher der späteren Sammlung der Hebräischen Bibel zu entnehmen. Da im ägyptischen Alexandria eine große jüdische Diaspora existierte, ist diese Stadt als Ursprungsort einer griechischen Übersetzung des Pentateuch sehr wahrscheinlich, und es kann als Beginn dieser Übersetzungstätigkeit, die wohl mit der Übertragung des Pentateuch einsetzte, die erste Hälfte des 3. Jh.s v. Chr. angenommen werden. Dies bildete dann wohl den Auftakt zur Übersetzung weiterer autoritativer Schriften. Der Übersetzung der Septuaginta kam sicherlich in liturgischer Hinsicht eine bedeutende Rolle zu. Da viele Übersetzungen aber auch die hellenistische Kultur und hellenistisches Denken widerspiegeln, spielte sie auch eine wichtige Rolle für die Identitätskonstruktion der jüdischen Gemeinde in der alexandrinischen Diaspora in der Spannung von Abgrenzung und Öffnung gegenüber der griechischen Kultur.
Unabhängig von der Frage, ob am Anfang mehrere Übersetzungen standen, die vereinheitlicht wurden, oder ob es eine Ur-Septuaginta gab, die durch Abschriften diversifiziert wurde78 – die griechische Übersetzung der hebräischen Schriften der (späteren) Hebräischen Bibel gewann zunehmend an Autorität und galt als inspirierter Text. Darauf deutet die Überlieferung von der Entstehung der LXX bei dem jüdischen Religionsphilosophen Philo hin, die als eine Art »Relecture« der Geschichte aus dem Aristeasbrief verstanden werden kann. Nach Philo (ca. 20 v. Chr. – 50 n. Chr.) übersetzte jeder der 72 Männer für sich allein das gesamte Gesetz; dabei benutzte ein jeder »unter göttlicher Eingebung« die gleichen Ausdrücke, als ob dies von »einem unsichtbaren Lehrer« diktiert würde (VitMos II, 37). Entscheidend für die generelle Bedeutung dieser griechischen Übersetzung wurde dann die Tatsache, dass die Septuaginta für das sich in die hellenistische Welt ausbreitende frühe Christentum die maßgebliche Version für das Verständnis der Traditionen der Hebräischen Bibel darstellte. Die »alttestamentlichen« Zitate im Neuen Testament entsprechen im Wesentlichen der Version der Septuaginta. Diese bildet dann nach dem Zeugnis der ältesten handschriftlichen Überlieferung im Codex Vaticanus (B), Codex Sinaiticus (S) (beide 4. Jh.) und dem Codex Alexandrinus (A) (5. Jh.),79 den ersten Teil des zweiteiligen christlichen Kanons, bestehend aus dem Alten und dem Neuen Testament. Der Begriff »Altes Testament« zur Bezeichnung dieser Schriftensammlung ist in Anknüpfung an 2Kor 3,14 bei Clemens von Alexandrien und Origenes fest verankert und in der Mitte des 4. Jh.s im 59. Canon des Konzils von Laodicea als formale Bezeichnung festgehalten.
Die alttestamentliche Schriftensammlung ist in der christlichen Überlieferung umfangreicher als die des hebräischen Kanons, denn sie enthält noch weitere Bücher, die sog. Apokryphen (s. o).80 Sie alle sind in einem jüdischen Milieu entstanden; ob es aber einen eigenen alexandrinischen Kanon gegeben hat oder ob diese Bücher erst in einem christlichen Kontext der griechischen Bibel zugewachsen sind, bleibt ein Rätsel.81
Auch die älteste lateinische Übersetzung, die Vetus Latina, basiert auf der Septuaginta. Es dauerte Jahrhunderte, bis sich die Vulgata, die Übersetzung des Hieronymus (ca. 340–419/20), die in den Jahren 390 und 405 im Gefolge eines Auftrags des Papstes Damasus I. (366–384) entstanden ist und die direkt auf den hebräischen Text zurückgeht, in der westlichen Welt den Status einer verbindlichen lateinischen Bibelübersetzung erhalten sollte. Ein entscheidender Schritt im Hinblick auf den Umfang des christlichen Kanons ist dann im Zeitalter der Reformation zu verzeichnen. Vordenker dieses Prozesses war der Reformator Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt (1486–1541). Für ihn war der jüdische Kanon das entscheidende Kriterium dafür, ob ein Buch als kanonisch oder nicht-kanonisch zu betrachten ist. Alles andere, so die kirchliche Praxis oder die Bekanntheit des Verfassers, sei dagegen als sekundär zu erachten. Da aber auch die Apokryphen wertvolle Wahrheiten enthielten, dürfe man diese nicht verachten. Aber die Autorität dieser Wahrheiten sei nicht in den Apokryphen selbst begründet, sondern vielmehr darin, dass diese Wahrheiten auch in einer der kanonischen Schriften zu finden seien.82 Was Karlstadt theoretisch darlegte,83 wurde dann von dem Drucker Johannes Knobloch in Straßburg in die Tat umgesetzt. Am 21. November 1522 brachte er eine Vulgata des Alten Testaments in insgesamt sechs Bänden heraus, wobei er nun – im Gegensatz zu älteren Ausgaben – die im hebräischen Kanon nicht vorkommenden Bücher getrennt in dem letzten Band zusammenfasste. Dieser trug den Titel: »Bücher, die von den Juden nicht als kanonisch angenommen sind«.84 Diese Tendenz, sich auf einen engeren Kanon zu beschränken, wurde durch das Erscheinen von hebräischen Bibeldrucken, die in dieser Zeit aus Italien kamen,85 verstärkt. Dem schloss sich auch Luther in seiner Bibelübersetzung an, wenn er diese Schriften als »Apocrypha«, »so nicht der heiligen Schrift gleich aber gut und nützlich zu lesen« in seiner Bibelausgabe von 1534 zwischen die alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften stellt. Als Gegenreaktion zu den Ereignissen der Reformation wiederum erklärt die katholische Kirche dann beim Konzil von Trient im Jahre 1546 die »Vulgata« (d. h. die »allgemein verbreitete« Übersetzung) zu ihrem offiziellen Bibeltext. So haben heute die protestantischen Kirchen einen anderen Kanon als die katholische Kirche; die umfangreichere Kanonform findet sich auch in der Ostkirche.
Diese groben Entwicklungslinien belegen, warum Klaus Koch programmatisch vom »doppelten Ausgang des Alten Testamentes« sprechen kann. Da die Rede vom »Alten Testament« in diesem Kontext nicht sachgemäß ist, insofern dies ja eine dezidierte christliche Bezeichnung darstellt, plädiert Walter Groß dafür, vom »doppelten Ausgang der Bibel Israels«86 zu sprechen. Sowohl Judentum als auch Christentum sind »strukturell nachbiblische Religionen«, die beide »ihr Selbstverständnis auf die Bibel gründen«.87 Walter Groß fasst diesen Abschnitt mit folgenden prägnanten Worten zusammen:
So ergibt sich ein Dreiecksverhältnis, ohne dass dieses Dreieck gleichschenklig sein müsste: Die Bibel Israels hat einen jüdischen Ausgang in den Tenak, seinerseits im Verbund mit Mischna und Talmud, und einen christlichen Ausgang in das Alte Testament, seinerseits verbunden mit dem Neuen Testament.88
Weitere Elemente der Asymmetrie des jüdischen bzw. des christlichen Ausgangs sind hier anzufügen: Trotz des Hiatus, der für die jüdische Religionsgeschichte durch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels gegeben war, sieht sich das rabbinische Judentum im Hinblick auf seine Traditionen doch in einer Linie mit dem Judentum aus der Zeit vor der Tempelzerstörung. Die Wertschätzung der Tora mit ihren kognitiven und ethischen Dimensionen, wie sie das charakteristische Merkmal des rabbinischen Judentums darstellt, kann als eine Weiterführung von Wertsetzungen und Idealen aus der Zeit des Zweiten Tempels verstanden werden. Außerdem hat das rabbinische Judentum an keiner Stelle den Tempel oder den Kult als solche abgelehnt; für eine Hochschätzung dieser Elemente spricht vielmehr die Tatsache, dass bestimmte Kultuselemente metaphorisiert, Kulttraditionen literarisch fixiert und in die Liturgie integriert bzw. zum integralen Bestandteil eschatologischer Zukunftshoffnung werden.89
Das sich vom Judentum ablösende Christentum behauptet dagegen die Differenz zum Judentum viel deutlicher; es verstand sich als das neue, das wahre Israel. In literarischer Hinsicht ist zudem darauf hinzuweisen, dass das Neue Testament und die jüdische Traditionsliteratur in Talmud und Midrasch strukturell starke Unterschiede aufweisen. Während zumindest die Midraschliteratur als narrative Auslegung der Hebräischen Bibel verstanden werden kann, blickt das Neue Testament vom Christusereignis hin auf die Bibel Israels und rekurriert auf diese, um das Neue, Umstürzende im Lichte der Tradition zu formulieren. Was für die Midraschliteratur gilt, muss freilich nicht auch für andere Bereiche der jüdischen Traditionsliteratur angenommen werden. So zeigt bereits ein Blick in die Mischna, dass es sich hier nicht um Auslegungsliteratur im eigentlichen Sinne handelt. Die Talmudim wiederum greifen zwar in argumentativer Hinsicht häufig auf die Schrift zurück, sind aber rein formal als Auslegung der Mischna und eben nur sekundär als Auslegungen der »Bibel Israels« zu bezeichnen.90 Eine Visualisierung der Metapher vom »doppelten Ausgang« in der Form eines »Y« wird der Komplexität dieser literarischen Prozesse jedenfalls nicht gerecht.91