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1. Kanonische Perspektiven
ОглавлениеDie Hebräische Bibel begegnet uns in kanonischer Hinsicht gleichsam mit zwei Gesichtern. So bilden die einzelnen Schriften der Hebräischen Bibel die »Heilige Schrift« zweier verschiedener Religionen: Der sog. Tanakh, bestehend aus »Tora«, den Propheten (Neviʾim) und den Schriften (Ketuvim), gilt dem Judentum als die »schriftliche Tora«, die es als Offenbarung Gottes neben die Traditionsliteratur von Talmud und Midrasch, die »mündliche Tora«, stellt.64 Für das Christentum ist das Alte Testament in Verbindung mit dem Neuen Testament wiederum integraler Bestandteil des einen, zweigeteilten Kanons.65
Die Schriften des christlichen Alten Testaments sind in anderer Reihenfolge als die der Hebräischen Bibel angeordnet: Auf die Geschichtsbücher folgen zunächst die Psalmen und Lehrbücher, und die Propheten (einschließlich Daniel) beschließen die Sammlung. Die katholische bzw. orthodoxe Tradition unterscheidet sich zudem von der protestantischen Tradition dadurch, dass noch weitere Schriften quasi-kanonischen Status haben. Während diese in der katholischen Tradition als »deuterokanonische Schriften« bezeichnet werden, kennt die protestantische Überlieferung sie unter dem Begriff »Apokryphen«. Diese Zusammenhänge macht man sich am besten über folgende graphische Darstellung deutlich (in der die apokryphen Schriften kursiv geschrieben sind):
Die jüdische Bibel (TaNaKh) | Das Alte Testament der christlichen Bibel |
Tora/Weisung Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium | Geschichtsbücher Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium |
Nevi'im/Propheten die vorderen Propheten Josua, Richter, 1 und 2 Samuel, 1 und 2 Könige die hinteren Propheten Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das Zwölfprophetenbuch (Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi) | Josua, Richter, Rut, 1 und 2 Samuel, 1 und 2 Könige, 1 und 2 Chronik, Esra, Nehemia, Tobit, Judit, Ester, Zusätze zu Ester, 1 und 2 Makkabäer [bzw. 3./4. Makk; 3 Esra] Lehrbücher und Psalmen Hiob, Psalmen, [Oden], Sprüche, Prediger, Hoheslied, Weisheit, Jesus Sirach, [Psalmen Salomos] |
Ketuvim/Schriften Psalmen, Hiob, Sprüche, Rut, Hoheslied, Prediger, Klagelieder, Ester, Daniel, Esra, Nehemia, 1 und 2 Chronik | Die Bücher der Prophetie Jesaja, Jeremia, Baruch, Klagelieder, Epistula Jeremiae, Ezechiel, Daniel, Zusätze zu Daniel und das Zwölfprophetenbuch (Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi) |
Da die Inhalte der Schriften der Hebräischen Bibel (mitsamt den Apokryphen, Pseudepigraphen und den frühjüdischen Auslegungstraditionen) die »Sprach- und Erfahrungsbasis« für die neutestamentlichen Autoren im weitesten Sinne darstellen und diese seit der Alten Kirche integraler Bestandteil des christlichen Kanons sind, erschließt sich nur vor diesem Hintergrund das Wesen und das Spezifikum neutestamentlicher Rede von Gott und von Jesus Christus als dem Messias Israels. Das Christentum liest das Alte Testament vom Christusereignis her und kann vor diesem Hintergrund auch eine Sachkritik und Relativierung der Rede der Hebräischen Bibel durchführen. Allerdings würde dieser Ansatz allein zu einer unsachgemäßen Verengung einer Biblischen Theologie führen. Weiterführend ist hier vielmehr die Einsicht in die Komplementarität von Altem und Neuem Testament, enthält das Alte Testament bzw. die Hebräische Bibel doch zahlreiche Theologumena, die in der neutestamentlichen Überlieferung nicht weiter entfaltet werden – nicht, weil sie nicht bedeutsam wären, sondern weil sie eben bereits in der Tradition vorliegen. Insbesondere die Rede von dem einen Gott, der universal in der himmlischen Welt verortet wird, oder Aussagen zur Schöpfung und Ethik bilden einen unverzichtbaren Bestandteil des christlichen Glaubens, der bereits in der alttestamentlichen Überlieferung dargelegt wird.66 Mit Hinweis auf ältere Forschungsliteratur beschreibt Manfred Oeming diesen Aspekt mit folgenden Worten:
Das Christusereignis ist das allgenugsame, umfassende Heilsereignis, nicht das Neue Testament. Dieses ist im Hinblick auf manche Themen geradezu auf Ergänzung durch das Alte Testament angewiesen und auch angelegt. Es setzt das Alte Testament – in kritischer Auswahl freilich! – als gültig voraus. Es impliziert von sich aus seine Ergänzung durch die Schrift. Die Zahl und Bedeutung der Themen, die im Neuen Testament nicht weiter entfaltet, sondern allein vom Alten Testament her bekannt und verbindlich vorausgesetzt sind, sollte man nicht unterschätzen. ... [Es] sei hier nur folgendes genannt: der Monotheismus, der Schöpfungsglaube, die persönliche Gottesvorstellung, die Gebetssprache, die Welt- und Lebensbejahung, die Freude an der Natur, die Freude des Mannes an der Frau, die Freude der Frau am Mann, die Freude beider an ihren Kindern, Freude am guten Essen und Trinken. Aber auch tiefe Skepsis und verzweifelte Anklage Gottes sind allein im Alten Testament breit ausformulierte legitime Formen des Redens von Gott.
Als ein Buch somit, das selbst mit seinen manchmal derben und anstößigen, irdisch – allzu irdischen Vorstellungen immer wieder zu neuem Nachdenken über das Christliche anregt und nötigt, als ein Buch, das durch sein anschauliches, bildreiches und lebendiges Reden vor Gott, von Gott und zu Gott immer wieder zum Weitersagen auch des Christlichen nötigt und befähigt, als ein Buch, das über das Neue Testament hinaus fundamentale Aspekte des Menschseins, der Welt und Gottes expliziert, als ein solches Buch ist das Alte Testament unverzichtbarer Bestandteil des christlichen Kanons.67
Schrift, Schriftauslegung, Glaubensanschauungen bzw. die religiöse Praxis werden im Judentum und in den verschiedenen christlichen Traditionen aber ganz unterschiedlich gewichtet. Dies zeigt sich darin, dass nach jüdischem Verständnis die mündliche Tora eine größere Bedeutung als die schriftliche Tora hat und z. T. sogar im Gegensatz zu dieser stehen kann, wohingegen für die christliche Tradition – insbesondere den Protestantismus – die Schrift Priorität hat. Die jüdische Tradition betont zudem das religiöse Handeln in der Form der Halakha, so dass man auch von einem Gegensatz von »Orthodoxie« und »Orthopraxie« gesprochen hat.68