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6. Geschichte und Heilsgeschichte
ОглавлениеDas Geschichtsverständnis der Bibel hat einen Anspruch, der jenseits der historischen Wahrheit liegt. Es ist getragen von dem Gedanken, dass Gott und Welt in einem Verhältnis stehen und dieses Verhältnis aus der Zeit und damit der Geschichte nicht herauszulösen ist. Deswegen beginnt die Bibel in ihrem ersten Kapitel mit der Erschaffung einer räumlichen und zeitlichen Ordnung als Anfang der Welt (Gen 1,1 – 2,4a). Ihr geht es nicht um das bloße »Dass« der Schöpfung, sondern um das »Wie«, und dieses »Wie« wird eingebunden in einen Zusammenhang der Zeit: Durch die Trennung von Licht und Finsternis (Gen 1,3–5) wird der dauerhafte Rhythmus der Zeit geschaffen, die Sterne (Gen 1,14–18) ermöglichen die natürliche Gliederung der Zeit in Monate und Jahre. Der Rhythmus von Arbeit und Ruhe am siebten Tag (Gen 2,2–3) erlaubt die Strukturierung der Zeit durch den Willen zur Selbstbeschränkung. Die Geschichte nimmt ihren Ursprung in der von Gott geschaffenen Zeit. In der Überzeugung der Bibel ist Geschichte von Anfang an und es ist vom Anfang her eine Geschichte Gottes und eine Geschichte mit Gott. Diese Geschichte ist allerdings nicht um ihrer selbst willen, sondern in der biblischen Sicht eine Geschichte auf ein Ziel hin. Man nennt dieses Geschichtsverständnis daher teleologisch (von griech. télos – »Ziel«). Dieses Ziel besteht in der Erwählung Israels und dem unbedingten Willen Gottes, unter den Menschen zu sein, was etwa in dem »Ich will in ihrer Mitte wohnen« in Ex 29,43–46 ausgedrückt wird. Darin ist Erlösung in der Gegenwart gedacht. Von den Propheten her gelesen zielt die Geschichte auf die Erlösung in der Zukunft, sei es in der Wiederherstellung Israels (Ez 37; Jes 49,8; Jer 31,4) oder der Neuschöpfung (Jes 65,17–18; Ez 36,26). Die Hoffnung auf Erneuerung geht sogar über Israel hinaus und wird zur universalen Hoffnung für die ganze Schöpfung (Mi 4,1; Jes 2,2; Ps 98; 150 u. ö.). Diese ist – und das ist für eine christliche Theologie der Geschichte von großer Bedeutung – aber nicht ohne die Erwählung Israels zu denken. Das Geschichtsverständnis schließt immer schon die gottgewollte und nicht zurückgenommene Erwählung Israels ein (Röm 9,4–6; 11,1–2).
Die dahinter stehende Aussage ist eine theologische, weshalb man von »Heilsgeschichte« spricht. Dieser Begriff ist im 19. Jh. als apologetischer Kampfbegriff aufgekommen, bezeichnet jedoch inzwischen lediglich das Zusammendenken von Gott und Geschichte. Hinter der Annahme einer Heilsgeschichte steht die biblische Überzeugung, dass die Geschichte auf die transzendente (von der zu erlösenden Welt getrennte) und soteriologische (auf die Erlösung gerichtete) wie eschatologische (auf das Ende der Zeit in der Zukunft ausgerichtete) Wirklichkeit Gottes verweist. Die Bibel hat kein Problem damit, Gottes Handeln und Geschichte zusammenzudenken. Gott handelt an und in der Geschichte. Gott muss – in der Überzeugung der alttestamentlichen Texte – nicht erst in die Geschichte eintreten, sondern ist immer schon Teil der Geschichte, indem er in ihr handelt. Für ein von der Philosophie geschultes Denken ist diese Unmittelbarkeit Gottes zur Geschichte befremdlich. Dass die Geschichtlichkeit Gottes mit der philosophischen Unveränderlichkeit Gottes kaum zusammenzudenken ist, leuchtet unmittelbar ein. Aber in der alttestamentlichen Überzeugung kann Gott sich in der Geschichte sogar ändern, gerade dann, wenn der Geschichtsverlauf Israel oder die Welt von Gott entfernt. So etwa nach der Sintflut in der Zusage, dass Gott nie wieder die Schöpfung vernichten wird (Gen 9,11), oder in dem Versprechen, Israel nie wieder in die Verbannung zu führen (Bar 2,35), oder in dem Beschluss Gottes, seinen gerechten Zorn nicht an dem abtrünnigen Israel zu vollstrecken (Hos 11,8f.).
Das Zusammendenken von Gott und Geschichte bestimmt zutiefst auch das christliche Geschichtsverständnis. Die Inkarnation, also das Hereintreten Gottes in die Welt in Jesus Christus, ist quasi der Ernstfall einer christlichen Geschichtstheologie. Aus der christlichen Glaubensperspektive handelt Gott nicht nur an der Geschichte, sondern wird in der Inkarnation Teil der Geschichte. Das verändert die Rede von Gott und die Rede von Geschichte. Denn aus der darin radikal ausgesagten Geschichtlichkeit Gottes wächst der Vergangenheit eine zusätzliche Sinndimension zu, die auf Zukunft hin ausgerichtet ist.
Für Altes wie Neues Testament gilt, dass sich Geschichte und Offenbarung nicht widersprechen, sondern im Gegenteil Offenbarung geschichtlich gedacht werden muss, wenn sie auf Erlösung zielt. Erneut zeigt sich, dass die Bibel in ihrem Geschichtsverständnis nicht auf das Moment der Historizität zu reduzieren ist, sondern eine heilsgeschichtliche Perspektive gegenüber einer historischen ihr eigenes Recht hat. Beide nehmen sich nichts von ihrer Ernsthaftigkeit und sind – zumindest im Rahmen einer Geschichtstheologie – aufeinander bezogen. Denn Erlösung ist nur dann wirklich, wenn sie in der Geschichte stattfindet. Das Unerlöste der Vergangenheit öffnet den Blick auf ein Ziel, oder, wie Walter Benjamin es formuliert hat: »Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird.«63 Aus dieser Warte heraus ist der Bezug zur Geschichte notwendig und das Nachdenken über das Verhältnis von Bibel und Geschichte unaufgebbar. Schon der Baal Schem Tov genannte Rabbiner Israel ben Elieser (ca. 1700–1760), Gründer der chassidischen Bewegung, hat das mit einem oft zitierten Wort treffend ausgedrückt: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.«