Читать книгу Die Welt der Hebräischen Bibel - Группа авторов - Страница 51
5. Qumran und die Vielfalt der hebräischen Textformen
ОглавлениеIm vorigen Abschnitt war darauf hingewiesen worden, dass sich in der LXX einige Textformen erhalten haben, die älter als der heutige hebräische Bibeltext sind. Ein ähnliches Phänomen lässt sich auch beim sogenannten »Samaritanischen Pentateuch« feststellen, der in vielen Einzelheiten abweichenden Tora der Samaritaner. Es war also schon lange bekannt, dass es verschiedene Textformen gegeben haben muss und dass in vielen Fällen nicht sicher auszumachen ist, welches die älteste und ursprüngliche Version ist. Am bereits erwähnten Fall des Buches Jeremia lässt sich sogar erkennen, dass die anhaltende Textproduktion der Redaktoren des Buches parallel mit der Rezeption und Übersetzung einer vorläufigen Textform gehen konnte.
Dieses Bild der Frühzeit der biblischen Textüberlieferung wurde durch die Funde in Qumran und anderen Orten in der judäischen Wüste, die nach 1947 gemacht wurden, noch komplexer. Allein in den 11 Höhlen bei Qumran wurden Reste von etwa 200 Handschriften mit biblischen Texten gefunden. Die ältesten dieser Texte stammen aus dem Pentateuch und dem Samuelbuch, sie entstanden im 3. vorchristlichen Jahrhundert. Noch die jüngsten der dort gefundenen Bibeltexte, die im 1. Jh. n. Chr. geschrieben wurden, sind fast 1000 Jahre älter als die bisher bekannten hebräischen Handschriften. Mit der Ausnahme des Buches Ester sind alle biblischen Bücher belegt, dazu auch die Bücher Sirach, Baruch und Tobit und sogar griechische Septuaginta-Texte.
Das durch diese Handschriften gewonnene Bild ist überraschend: So fand man eine Rolle des Jesajabuches (1QJesb), die bis auf orthographische Details dem heutigen, sogenannten masoretischen Text (s. u.) entspricht. In der gleichen Höhle fand sich eine weitere Rolle desselben Prophetenbuchs, die eine Fülle von Differenzen zum Text der anderen Rolle aufweist (1QJesa), von denen einige einen ursprünglicheren Text belegen, andere eindeutig sekundär sind. In anderen Fällen, etwa bei Handschriften des Samuelbuchs, wird häufig die Textform der griechischen Übersetzung unterstützt, eine Ausgabe des Buches Numeri zeigt Charakteristika, die auch der samaritanische Text hat. Schließlich gibt es eine hohe Zahl von Handschriften, die sich keiner der drei großen Überlieferungslinien zuordnen lassen.
Diese Textfunde erlauben damit einen Einblick in eine Überlieferungsphase des biblischen Textes, in der es einerseits noch eine hohe Variabilität der Textformen gab; der genaue Textbestand war nicht bis ins Detail festgelegt und konnte daher noch verändert werden. Dazu passt, dass in der Qumran-Gruppe offenbar auch Schriften in autoritativem Ansehen waren, die später nicht in den Kanon aufgenommen wurden, etwa das Jubiläen- oder das Henochbuch. Andererseits zeigen sich aber deutliche Ansätze dazu, eine bestimmte Textform zu standardisieren. Da diese sich dann tatsächlich durchgesetzt hat und später zum masoretischen Standardtext wurde, nennt man sie die protomasoretische Textform. Interessanterweise lässt sich an den Handschriften in Qumran auch beobachten, dass sie offenkundig nach der Abschrift noch überprüft und korrigiert wurden; bei der genannten großen Jesaja-Rolle 1QJesa hat dies erkennbar ein anderer Schreiber durchgeführt. In Qumran sind demnach die ersten Ansätze zur überaus exakten Textüberlieferung zu beobachten, die für das spätere rabbinische Judentum charakteristisch ist. Doch es ist auch deutlich, dass die großen Bibelhandschriften, auf die heutige Textausgaben sich stützen, nur eine Version der Hebräischen Bibel darstellen, diejenige nämlich, die ab dem 1. Jh. standardisiert wurde und deren Trägergruppe die beiden jüdischen Aufstände gegen die Römer im 1. und 2. Jh. überlebt hat. Sie sind aber nicht notwendig die besten Textzeugen, und aufgrund der komplexen Überlieferungswege ist oft nicht einmal sicher zu bestimmen, welches die mutmaßlich älteste Version ist, die als Grundlage für Übersetzung und Auslegung der Bibel dienen soll.