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4. Mündlichkeit und Schriftlichkeit
ОглавлениеBis gegen Ende des 20. Jh.s herrschte in der Bibelwissenschaft die Auffassung vor, die Hebräische Bibel enthalte jedenfalls zu beträchtlichen Teilen vormals mündliches Textgut, das nun in schriftlich kodifizierter Form vorliege. Diese Gesamtperspektive brachte auch eine eigenständige Methode hervor: die formgeschichtliche Fragestellung, die im Bereich der Hebräischen Bibel v. a. mit dem Namen Hermann Gunkels verbunden ist.9 Sie geht davon aus, dass Texte bestimmten Gattungen folgen, die durch deren jeweiligen »Sitz im Leben« vorgegeben werden. Durch die formgeschichtliche Fragestellung – so war die Meinung – öffnet sich ein Fenster in die ursprüngliche Geistigkeit des Volkes Israel, die in dessen mündlicher Überlieferung ihren unmittelbarsten Ausdruck fand.
Namentlich in der Propheten- und Psalmenforschung sind in den letzten Jahrzehnten die Gewichte erheblich zurechtgerückt worden – mitunter sogar in zu starkem Maß. Das ins Feld geführte Argument, literarische Texte erkläre man am besten mit literarischen Mitteln, ist zwar auf den ersten Blick überzeugend, wird aber spätestens auf den zweiten Blick den historischen Wahrscheinlichkeiten nicht vollständig gerecht. Die Traditionskultur des antiken Israel und Juda war mündlich geprägt, entsprechend kann man davon ausgehen, dass die Texte der Hebräischen Bibel in einer Welt produziert und rezipiert worden sind, die im Wesentlichen durch mündliche Kommunikationsvorgänge geprägt war. Es besteht kein Grund daran zu zweifeln, dass in der Tat manches spätere biblische Textgut in der einen oder anderen Form in mündlicher Überlieferung wurzelt, wobei bei dessen Analyse die Grenze zwischen formgeschichtlicher, überlieferungsgeschichtlicher und traditionsgeschichtlicher Fragestellung nicht immer klar zu ziehen ist. Beruhen die Texte auf entsprechenden Stoffen oder bilden sie bereits entsprechend mündlich geformte Einheiten ab? Es liegt auf der Hand, dass kürzere und durch sprachliche Mittel – etwa poetische Prägung – fixierte literarische Einheiten diesbezüglich als stabiler angesehen werden müssen als umfangreicheres und offener überliefertes Textgut. Jedenfalls wäre es ein Trugschluss sondergleichen zu meinen, die Exodusüberlieferung sei im Zuge ihrer erstmaligen literarischen Fixierung entstanden oder Ps 93 sei so alt wie seine erste Niederschrift. Dass der konkreten Rekonstruktion mündlicher Vorstufen enge Grenzen gesetzt sind, versteht sich dabei allerdings von selbst.