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8. Literaturgeschichte und Kanonsgeschichte

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Besondere Beachtung verdient schließlich das Verhältnis von Literatur- und Kanonsgeschichte. Es liegen hinreichende historische Anhaltspunkte vor, damit zu rechnen, dass die biblische Literatur nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt per Dekret in einen kanonischen Status erhoben worden ist, sondern dass das Resultat der Kanonizität der Hebräischen Bibel auf einem langen Prozess beruht, der sich weitgehend ohne institutionell abgestützte Entscheidungen abgespielt hat. Literatur- und Kanonsgeschichte folgen einander also nicht nach, sondern überlappen sich: Die Kanonsgeschichte reicht weit in die Literaturgeschichte hinein, da den Texten der Hebräischen Bibel erst nach und nach zunehmende Autorität zugeschrieben worden ist,23 gleichzeitig erstreckt sie sich über die Literaturgeschichte hinaus: Kanon ist ein erst nachbiblisches Konzept.

Im Blick auf die neueren Forschungen zum hebräischen Bibelkanon sind vor allem zwei Erkenntnisse hervorzuheben, die als Rahmendaten für die weitere Diskussion zu respektieren sind. Zum einen ist v. a. mit der vollständigen Publikation der biblischen Texte aus Qumran24 deutlich geworden, dass der kanonische Abschluss der Hebräischen Bibel in der Zeit zwischen 100 v. und 68 n. Chr. nicht dergestalt zu deuten ist, dass von da an ein einheitlicher Textbestand vorgelegen hätte.25 Mit Erhard Blum gesprochen – bei ihm auf den Pentateuch bezogen – gibt es keine Endgestalt biblischer Texte, sondern nur verschiedene Textzeugen.26 Die Vorstellung eines kanonischen Textes im Sinne seiner buchstabengetreuen Fixierung ist erst nachalttestamentlich – sie hängt mit dem Aufkommen der Inspirationslehre zusammen und lässt sich erst gegen Ende des 1. nachchristlichen Jahrhunderts belegen (bes. deutlich in 4Esr 14 und bei Flavius Josephus, Contra Apionem I,8).

Damit zusammenhängend darf heute auch als gesichert gelten, dass die übliche Standardtheorie zum hebräischen Bibelkanon, die von einer grundsätzlichen Konkordanz der Dreiteilung der hebräischen Bibel in Tora, Propheten und Schriften mit der Kanonsgeschichte ausgeht, nicht mehr vertreten werden kann. Die drei Abteilungen des Kanons spiegeln nicht die drei Hauptphasen seiner Entstehung.27 Vielmehr sind zum einen Tora und Propheten als Kanonsteile in enger Interaktion zueinander entstanden, und zum anderen scheint die normative Schrift des Judentums um die Zeitenwende eine im Wesentlichen zweiteilige, und nicht dreiteilige Struktur gehabt zu haben, wie die zahlreichen Referenzen auf »die Tora (bzw. Mose) und die Propheten« in der zeitgenössischen Literatur zeigen. Eine feste Dreiteilung ist erst gegen Ende des 2. Jh.s n. Chr. bezeugt. Die Formierung eines eigenen Kanonteils »Schriften« scheint mit der Akzentuierung der besonders aus pharisäischer Perspektive wichtigen Alltagsrelevanz von Tora und Propheten zusammenzuhängen: Die »Schriften« erklären, wie man gesetzes- und schriftgemäß leben kann.

Der Weg zur Normativität der Schrift und schließlich zum Kanon ist durch zahlreiche Faktoren bestimmt. Zu ihnen zählen die Theologisierung des Rechts28 nach dem Untergang des Nordreichs und in deren Gefolge die bundestheologische Konzipierung des Deuteronomiums als einer unbedingt bindenden Urkunde eines Vertrags zwischen Gott und seinem Volk, Vorgänge der Übertragung kultischer Funktionen auf Texte im Nachgang zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels, gewisse Rahmenbedingungen der persischen Religionspolitik,29 die schriftgelehrte Ausrichtung der Nicht-Tora-Texte an der Tora, der Entschluss zur paradigmatischen Abbildung verschiedener Literaturgattungen und andere mehr. Letztlich ist aber die Kanonsgeschichte nicht vollständig verstehbar, ohne dass man nach der theologischen Qualität der im Kanon versammelten Schriften fragt, die nicht zuletzt auch über deren Eigenschaft als mehrfach bereits im Verlauf ihrer biblischen Entstehung ausgelegte Texte beschreibbar ist.

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