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I Was sagt uns Lebensweltforschung über den Platz und die Rolle von Kirche in unserer Gesellschaft?
Оглавлениеa) Zentrale Ergebnisse
(1) Unsere Gesellschaft ist segmentiert und fragmentiert, auf gut Deutsch: Sie ist gespalten, ja zerstückelt. Sie bildet nur in der Theorie ein einheitliches, zusammenhängendes Ganzes. Die Redeweise von der Gesellschaft ist irreführend. Sie besteht aber auch nicht aus 81,5 Millionen Individuen. Der Mega-trend Individualisierung ist ein wichtiger, aber eben nur ein Trend. Die große, die entscheidende Entdeckung der modernen Sozialwissenschaft als Lebensweltforschung lautet: Menschen gestalten ihr Leben nicht nur als isolierte Individuen. Sie glucken vielmehr zusammen und bilden Gruppen gleich Gesinnter. Gruppen gleich Gesinnter, GgG, das ist die einfachste und behältlichste Definition von Milieu. Diese Milieus bilden gegeneinander abgegrenzte Lebenswelten mit kaum Überschneidungen und wenigen Begegnungsflächen. Die Bewohner dieser Milieus treffen nur ganz selten aufeinander, am ehesten vielleicht noch im Stau auf der Autobahn als dem großen Gleichmacher. Aber ihre Ferien werden sie an unterschiedlichen Orten und v. a. auf sehr unterschiedliche Weise verbringen; ihre Einkäufe an unterschiedlichen Orten erledigen oder direkt über das Internet; ihre Freizeit in sehr unterschiedlichen Formen der Vergemeinschaftung gestalten – im Sportverein, entre nous im Rotary-Club, zu Hause, im Kreis der Familie oder im weltweiten Netz: im Chat oder in Strategiespielen, an denen weltweit einige tausend Menschen zusammenwirken. Sinus, eine der in Deutschland führenden Einrichtungen in der Erforschung der Lebenswelten unserer Gesellschaft, unterscheidet zehn solcher Milieus. Diese zerfallen aber wiederum in eine Fülle von letztlich kaum überschaubaren Submilieus und Subsubmilieus.
(2) Diese Segmentierung in Lebenswelten und Fragmentierung in getrennte Lebensräume, die kaum oder keine Berührung miteinander haben, setzt sich in den Volkskirchen fort. In der Kirche finden sich Mitglieder aus allen Milieus. Auch moderne und postmoderne Milieus sind vertreten. So erfreulich das ist, so alarmierend ist ein anderer Befund: Die Kirchen erreichen nur drei bis vier der zehn Milieus. Im kirchlichen Leben dominieren im Regelfall einige wenige Milieus, die der Ortsgemeinde und ihrem Leben ihre Prägung geben. Die Mehrzahl der Kirchenmitglieder, also der Menschen, die sich trotz erheblichem finanziellen Aufwand zur Kirche halten, sind im kirchlichen Leben nicht beheimatet. Das ist ein hochinteressanter und ebenso desillusionierender wie ermutigender Befund. Die allermeisten Kirchenmitglieder kommen im kirchengemeindlichen Leben nicht vor. Das wird beherrscht durch ein buchstäblich dominantes Milieu. Aber Kirche ist eben nicht gleich Kirchengemeinde. Menschen gehören zur Kirche und halten sich zur Kirche aus ganz anderen als den von uns landläufig für wichtig gehaltenen Gründen. Sie finden Beheimatung in anderen Sozialformen als dem sog. Hauptgottesdienst oder den traditionellen Zielgruppenveranstaltungen wie dem Angebot für Senioren oder Jugend- oder Frauenarbeit.
(3) Im Grundsatz gilt: Je moderner und postmoderner Menschen eingestellt sind, umso weniger lebensweltliche Kontakte oder gar Überschneidungsflächen gibt es mit dem kirchlichen Leben vor Ort.
(4) In der Dynamik der sich ständig verändernden Milieulandschaft bilden sich neue Milieus heraus, zu denen Kirchen und Christen kaum noch Zugang finden. Die beklagten Säkularisierungsprozesse wie umgekehrt die beobachtbaren Entfremdungsprozesse lassen sich lebensweltlich plausibilisieren und verstehbar machen. Konkret ist zu denken an die neue, junge, dynamische Mitte unserer Gesellschaft, das Adaptiv-Pragmatische Milieu, aber auch an das Expeditive Milieu und das der Performer.
(5) Der sog. Milieuregiotrend der Firma microm zeigt eine Hochrechnung der Milieuentwicklung. Welche werden wachsen, welche schrumpfen? Prognostiziert werden in den nächsten Jahrzehnten ausgerechnet die Milieus stark, ja teilweise dramatisch abnehmen, in denen Kirche besonders verankert ist. Umgekehrt werden die Milieus quantitativ und qualitativ, an Zahl und Bedeutung, wachsen, in denen Kirche herkömmlich nicht oder wenig verankert ist.
b) Konsequenzen
Menschen suchen vielfach
– Kirche, aber nicht die vorfindliche Kirchengemeinde vor Ort,
– Gemeinschaft, aber nicht Gemeinde,
– Sinn, Orientierung, Halt – aber nicht „Glaube“ im Sinne einer vorgegebenen christlichen Weltanschauung bzw. Doktrin,
– Gottesdienst, Nähe zu Gott, Berührtwerden von Gott, aber nicht im Sonntagvormittag-Gottesdienst um 9:30 Uhr.
Wir stehen als Kirchen und Christen jetzt vor der Entscheidung. Entweder wir erklären,
– nur die konservativ-traditionelle Prägung, die prämoderne Haltung ist die eigentlich christliche; nur die (klein)bürgerliche Formatierung von Kirche ist die eigentlich normale. Alles andere sind höchstens geduldete und eingeräumte Abweichungen;
– nur die Ortskirchengemeinde, die Gemeinde vor Ort, ist Gemeinde, normale Gemeinde; ist richtig Gemeinde;
– nur der Gottesdienst am Sonntagvormittag ist eigentlich Gottesdienst, er ist die Hauptveranstaltung, zu der sich eigentlich alle einfinden sollten. Und es muss dann auch unser gemeindebauendes Ziel sein, ihn zu stärken.
Oder wir erkennen im Licht der Lebensweltperspektive:
– Das ortsgemeindliche und parochiale System ist lange Zeit kongenialer Ausdruck einer genialen Weise gewesen, alle zu erfassen. Es ist auf optimale Weise einer Lebensweise angepasst, die auf Stetigkeit, Dauer, Ortskonstanz angelegt ist. Aber genau diese geniale Passung passt heute für die allermeisten Menschen nicht mehr. Das Prinzip Ortsgemeinde, das für Traditionelle prima passt, muss ergänzt werden, um frische, alternative, zusätzliche Formate von Kirche, die den heutigen, postmodernen Lebenswelten entsprechen, für sie anschlussfähig sind und in sie hineinreichen, ja im besten Fall aus ihnen herauswachsen.
– Unser konservativ-bürgerliches Weltordnungsdenken entspricht in genialer Weise einer über Jahrhunderte zusammengewachsenen bürgerlich-christlichen Kultur, die wir heute mühsam zu modernisieren suchen. Ich erinnere an „Kirche der Freiheit“, das Programmpapier der EKD aus dem Jahr 2006. Aber in postmoderner Welterfahrung ist diese Synthese samt ihrem weltanschaulichen Hintergrund zerbrochen, und die Frage nach Sinn und Orientierung, Sicherheit und Geborgenheit, Gott und Glaube stellt sich heute spezifisch anders, ganz anders– sicher nicht im Sinne einer transzendenten Wirklichkeit, die schließlich und endlich garantiert, dass hier auf dieser Welt alles in Ordnung ist oder kommt.
– Ein prämodernes Lebenskonzept freut sich über Stetigkeit und Konstanz eines kontinuierlich und verlässlich konservativen, allenfalls leicht modernisierten Gottesdienstangebotes am Sonntagvormittag oder auch in sog. Zweitgottesdiensten. Für die meisten Kirchenmitglieder bedeutet aber gerade diese traditionelle Prägung des Gottesdienstes, von der Ästhetik über die Liturgie, die Musik, die Konstanz von Ort und Zeit, ein kulturelles Ausschlusskriterium. Weil sie selber so nicht leben, vielfach nicht leben können, signalisiert ihnen dieses Setting: Wir gehören nicht dazu. Nicht für uns.
Bei der Weichenstellung, die hier ansteht, geht es weniger um pragmatisch-methodische Fragen. Es geht – bedrohlicherweise, oder je nach Perspektive: einfacherweise – vor allem und zunächst um uns. Damit bin ich bei