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II Milieuüberschreitung fängt bei uns an

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a) Unser Umgang mit dem Fremden

Wir wollen andere erreichen, nach Möglichkeit und im Prinzip alle. Und dann gibt es da die Haltung: „Komm zu Christus und werde – wie wir!“ Da gibt es in schwäbischen Dörfern am Ortseingang die gelb-violetten Schilder, die die Zeiten für den Gottesdienst angeben. Die implizite Botschaft ist: Das ist der Gottesdienst für alle. Da treffe ich bei missionarisch gesinnten Christen auf das abwehrende Diktum: Bei uns wird doch jeden Sonntag evangelisiert. Oder: Wir laden doch alle ein. Wir sind doch für alle da. Jeder kann doch kommen. Oder: Gottes Wort ist doch klar. – Und viele auch sehr engagierte Christen sehen oft nicht,

– wie sehr ihr Gemeindeleben durch ein bestimmtes Milieu buchstäblich „bestimmt“, dominiert ist,

– wie wenig die Art, wie wir ticken, „normal“ ist; dass die Normalitätsunterstellung davon lebt, dass wir vorwiegend mit unsersgleichen zusammen und unterwegs sind; dass sie zeigt, wie wenig missionarisch wir leben, wie wenig wir wirklich mit anderen Menschen, ganz anderen, Kontakt haben, wie sehr wir das im Gegenteil oft scheuen. Das Fremde, Andere, Ungewöhnliche, Ungewohnte ist immer unbequem.

– wie sehr Inklusion immer auch Exklusion bedeutet: Was die einen verlässlich anzieht: die spezielle (sub-)kulturelle und mentale, über längere Zeit gewachsene Prägung unserer Gemeinde, schließt andere ebenso zuverlässig aus. Sie, die in anderen Lebenswelten unterwegs sind, spüren es: Das ist nicht unsere Welt. Das muss man ihnen gar nicht sagen.

Auch engagierte Christen sehen oft nicht,

– wie sehr wir als Kirche von uns aus denken und dann danach fragen, was zum Bestehenden passt. Da gibt es in Württemberg eine Debatte im Evang. Gemeindeblatt über die Beteiligung von Gemeindegliedern am Gottesdienst. Und dann kommt der Einwand: Ja, aber dazu ist doch der Pfarrer da; dafür ist er ausgebildet. Sie spüren: Die Logik ist: Wenn wir etwas ändern wollen, muss das zu uns passen. Wir denken vielfach noch zu sehr von uns her, statt von den Menschen her, die wir erreichen, die wir anziehen wollen. Gott wird Mensch, wenn und weil er uns erreichen will; er gibt seine göttliche, himmlische Herrlichkeit auf, entleert sich – so der Philipperbrief (2,5 ff) – seiner kulturellen und sozialen Identität. Er kommt zu uns, tritt in unsere Lebenswelten ein, statt weiter zu erwarten, dass wir zu ihm kommen. An diesem Kommunikationsverhalten des Lebendigen können wir uns orientieren.

D. h.:

– nicht mehr nur die Komm-, sondern eben auch die Geh-Struktur!

– nicht mehr: wir zeigen euch, was richtig ist, sondern mit den Worten von Klaus Hemmerle: „Lass mich dich lernen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe.“

Veränderung des anderen fängt mit meiner Veränderung an. Lernen des anderen fängt mit meinem Lernen des anderen an. Sie können es auch ganz drastisch und viel säkularer ausdrücken:

– Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler.

– Der Direktor des Sinus-Forschungsinstitutes, Marc Calm-bach, spricht von der „Demut der Märkte“, die danach fragen, was die Menschen brauchen, und die nicht einfach ihr Produkt loswerden wollen. Ja! Christen und Kirchen können auch hier etwas lernen.

b) Ekelschranken – igitt!

Wir wollen Milieugrenzen überschreiten. Lebensweltforschung kann uns noch einen weiteren Dienst tun. Sie hilft uns nicht nur wahrzunehmen, wie fremd uns das wirklich andere ist. Sie deckt auch anthropologische Zusammenhänge auf, mit denen wir bei uns – auch beim besten Willen! – rechnen müssen.

Den Grundsatz „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ kennen wir alle. Milieus als Gruppen gleich Gesinnter erfüllen wichtige soziale und mentale Funktionen. Sie bieten ihren Bewohnern Sicherheit, Geborgenheit, Identität. Sie sind gerade in einem pluralen Kontext mit allen möglichen Prägungen, Einstellungen und Subkulturen enorm wichtig. Sie sind Rückzugsräume für die, die mal nicht mehr entscheiden und überlegen oder streiten wollen: Bin ich richtig? In meinem Milieu treffe ich auf Menschen, die so reden und denken, die so handeln und ticken wie ich. Hier muss ich mich nicht mehr auseinandersetzen. Hier bin ich akzeptiert, wie ich bin. Hier muss ich mich nicht mehr erklären. Diese Leistung erbringen Milieus und Submilieus dadurch, dass sie eine Identität herstellen, die sich gerade durch Abgrenzung gegen andere Milieus ergibt. Milieus leben von der Abgrenzung von anderen Menschen, die ein spezifisch anderes Milieu bilden. In der Regel leben sie – von Ausnahmen abgesehen – auch von der Abwertung der anderen. Sie sind durch Distinktionsschranken voneinander getrennt. Was so harmlos klingt, bedeutet in der Praxis:

(1) Unsere Gesellschaft verliert zunehmend ihren Zusammenhalt und ihre Einheit, weil sie sich in Lebenswelten aufspaltet, die kaum noch Kontakt haben.

(2) Es gibt ein Unverständnis für die, die so ganz anders sind. Die akademisch so harmlos klingenden Distinktionsgrenzen sind emotional hoch aufgeladen. Die Milieus sind größtenteils durch wechselseitige Ekelschranken voneinander getrennt. Der aus der Kulturanthropologie stammende Begriff der Ekelschranken bezeichnet unwillkürliche, sehr starke und kaum zu kontrollierende Reaktionen, die reflexiv und kognitiv kaum aufgefangen werden können. Auch dem verwahrlosten Prekären gehört das Evangelium! Jawohl! Was aber, wenn er stark riecht und – für meine Begriffe – ungepflegt daherkommt? Muss er da nicht mal erst unter die Dusche, damit ich mit ihm kommunizieren, ihn ertragen kann? Auch dem Konservativ-Etablierten gehört das Evangelium! Aber diese Angeberei, dieser Protz, dieses Zeigen, was man hat und was man ist, das stößt mich ab. Das passt nicht in die Gemeinde Jesu – nota bene: meine Gemeinde Jesu. Wir dürfen sicher sein, dass unsere, auch unausgesprochenen Botschaften ankommen und „richtig“ verstanden werden.

(3) Das Milieu, das ich lebe und das meine Gemeinde bestimmt, liebe ich, weil es mein Milieu ist. Es passt zu mir und ich passe zu ihm. Ich möchte es nicht ändern lassen. Hier greift der soziologisch oft beschriebene Selbstrekrutierungsmechanismus sozialer Gruppen. Diese sind nicht einfach offen, auch wenn sie das noch so sehr als ihr Selbstverständnis und ihren Anspruch proklamieren. Sie ergänzen sich zuverlässig nur um solche Leute, die zur Prägung passen, und sie schrecken ebenso zuverlässig alle ab, die nicht passen. Da kann das Selbstverständnis noch so missionarisch, evangelistisch, einladend, offen sein.

Milieugrenzen überschreitender Gemeindebau wird nicht funktionieren, wenn wir diese elementaren Sachverhalte nicht ernst nehmen und übergehen. In der Konsequenz bedeuten sie etwa:

(1) Die Möglichkeiten, mit einem Veranstaltungsformat alle zu erreichen, sind begrenzt. Wer alle erreichen will, muss alternative, ergänzende Formate von Kirche im Milieu wollen, fördern und umsetzen.

(2) Auch die konservativ-traditionelle Gemeinde hat das Recht auf ihr Profil. Wird dies verwässert, etwa durch zu große Milieuspreizung, beheimatet sie nicht mehr.

(3) Die eigenen, persönlichen Möglichkeiten, andere mit dem Evangelium zu erreichen und dafür Milieuschranken zu überwinden, sind ebenfalls sehr begrenzt. Die mehrheitlich postmateriell geprägte Pfarrerschaft, die traditionell oder hin und wieder auch sozial-ökologisch geprägte Kerngemeinde muss aber vor dieser Aufgabe nicht verzweifeln. Auch wenn wir um unsere persönlichen Grenzen wissen, einem hedonistischen Jugendlichen Freund zu sein oder mit einem „Prekären“ unterwegs zu sein, können wir für das Ganze denken und planen. Wir können nach Menschen suchen, die können, was wir nicht können; die als Brückenpersonen in Milieus fungieren können, etwa weil sie die entsprechende Prägung mitbringen. Auch wenn eine Gemeinde kaum über ihre Milieugrenzen hinauskommt, kann sie Initiativen fördern, die über die sog. Kerngemeinde hinauszielen und spezielle, kirchenferne, nota bene: kirchengemeindeferne Milieus fokussieren.

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