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Milieusklerose
ОглавлениеDer Befund der Sinusstudie wird von den Fachleuten freundlich und weich eine Milieuverengung genannt. Unfreundlich und hart kann man ihn auch als Krankheitsbild auffassen und als institutionelle Milieusklerose diagnostizieren. Die zweieinhalb traditionell-konservativen Lebenswelten sind handlungsleitend. Sie steuern alle Expressivitäten und Investitionen. Sie beanspruchen alle Ressourcen. Sie bestimmen und erhalten die Monokulturen in vielen Bereichen. One size fits all! Sie pflegen einen morphologischen Fundamentalismus, als habe der Heiland höchstselbst verfügt, was ihnen als Regelfall von Kirche gilt. Sie haben seit den Sechzigern des 20. Jahrhunderts eine unsichtbare Diktatur des ihnen Sichtbaren errichtet.
Um ein Beispiel zu bringen: In der Stadt Zürich stellen die beiden Lebenswelten der Postmateriellen und der Experimentalisten 57 % der Gesamtbevölkerung. Von 100 % Steuersubstrat und 100 % Staatsbeitrag, die dem Verbund der 34 Kirchgemeinden als Ressourcen zur Verfügung stehen, kommen aber mutmaßlich mindestens 75 % den beiden traditionell-konservativen Lebenswelten zugute, die in der Stadt nicht einmal 10 % der Gesamtbevölkerung ausmachen. Wen wundert es noch, dass Menschen austreten? Wer nicht vorkommt, ist eigentlich schon gegangen.
Milieuinkongruenz ist der zweite bedenkliche Befund der Fachleute: Wer einen kirchlichen Beruf ausübt, gehört in der Regel zur Lebenswelt der Postmateriellen. Diese Dissoziation kann bedeuten, dass er Kirche für Fremde veranstaltet statt mit Eigenen Kirche zu sein, dass er Angebote für eine Lebenswelt produziert, die ihm eigentlich wesensfremd ist. In jedem Fall fördert Milieuinkongruenz die stille Ökonomisierung der Kirche. Die Standardfragen jeder naiven Umfrage entsprechen dem: Wie finden Sie uns? Was hätten Sie denn gerne von uns? Zudem führt Milieuinkongruenz die Berufsperson in die Zerreißprobe: Macht sie es milieusensibel und lebensweltlich sehr gut, riskiert sie, sich selbst expressiv zu verlassen und selbst spirituell zu verhungern. Würdest du in deinen eigenen Gottesdienst gehen?, ist dafür die Gretchenfrage.
Freikirchen leiden übrigens ebenso an Milieusklerose, nur in einem anderen Milieu: Sie erreichen gut die Lebenswelt der Bürgerlichen Mitte, kommen aber mit ihrer Expressivität und trotz ihren Investitionen kaum über ihren Einzugsbereich hinaus. Die englischen Fresh Expressions, von denen sich mindestens 50 % evangelikal gebärden und verstehen, also zur Lebenswelt des Quiet Peaceful Britain zu zählen wäre, müssen sich, lebensweltlich betrachtet, daher fragen lassen, ob sie die Mission-shaped Church tatsächlich mit allen Lebenswelten verwirklichen oder nur einmal mehr alle anderen für Quiet Peaceful Britain erwecken und bewegen.