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5.3.4.1 Heutige krankheitsorientierte Leitlinien
ОглавлениеObgleich die Anwendung evidenzbasierter Leitlinien die Versorgung chronischer Erkrankungen verbessern kann und die Zahl der weltweit entwickelten Leitlinien in den letzten Jahrzehnten exponentiell angestiegen ist (Komajda et al. 2005, Shekelle et al. 2001, Thomas et al. 2000, Woolf et al. 1999), ist die unkritische Umsetzung von Empfehlungen aus mehreren verschiedenen Leitlinien bei einem Patienten mit Multimorbidität nicht nur impraktikabel, sondern sogar mit gesundheitlichen Risiken behaftet: Boyd et al. (2005) zeigten in einem aufsehenerregenden Artikel die potenziellen Folgen anhand einer hypothetischen (idealtypischen) Patientin auf. Exemplarisch stellten sie für diese Patientin (Alter 79 Jahre, fünf häufige chronische Erkrankungen) einen durchschnittlich ambitionierten Behandlungsplan aus neun fachlich zutreffenden, qualitativ hochwertigen Leitlinien zusammen, der elf Präparate enthielt, die zu sechs verschiedenen Zeitpunkten regelhaft eingenommen werden sollten, zudem ein Bedarfsmedikament. Den Leitlinienempfehlungen folgend sollte die Patientin dabei für acht Präparate wegen potenzieller Interaktionen mit Nahrungsmitteln auf spezielle Diäthinweise achten. Bei der Prüfung des Medikationsplans fielen neun potenzielle Arzneimittelwechselwirkungen auf, zudem wirkten sich fünf der Medikamente auf einige der Erkrankungen der Beispielpatientin ungünstig aus (Boyd et al. 2005).
Ursächlich dafür ist eine fehlende oder unzureichende Berücksichtigung von Ko- und Multimorbidität in den heutigen (krankheitsorientierten) Leitlinien: Boyd et al. (2005) fanden nur bei vier von neun US-amerikanischen, Vitry et al. (2008) bei neun von 17 australischen und Fortin et al. (2011) bei neun von 16 kanadischen Leitlinien irgendeine Berücksichtigung von Begleiterkrankungen, wobei keine Details berichtet wurden, welche Art von Empfehlungen zu Ko- und Multimorbidität darin identifiziert wurden. Lugtenberg et al. (2011) zeigten bei ihrer Untersuchung, dass pro Leitlinie im Schnitt drei Empfehlungen für Begleiterkrankungen abgegeben wurden, dass diese sich allerdings in Dreiviertel der Fälle auf sog. konkordante Komorbiditäten bezogen, d. h. auf Erkrankungen aus einem ähnlichen Krankheitsspektrum (ähnliches Risikoprofil, ähnliche Therapie- und Selbstmanagementansätze). Diskordante Komorbiditäten – wenn also voneinander unabhängige Erkrankungen untereinander ggf. negative Interaktionen aufweisen – wurden nur in jeder siebten Empfehlung über Begleiterkrankungen adressiert (Lugtenberg et al. 2011).
Hinter der inadäquaten Berücksichtigung von Ko- und Multimorbidität in Leitlinien stehen einerseits methodische Probleme bei der Entwicklung, andererseits fehlen oft die Evidenzgrundlagen. So werden in heutigen klinischen Studien (z. B. zur Wirksamkeit von Arzneimitteln) alte Menschen sehr häufig und Patienten mit Multimorbidität fast regelhaft ausgeschlossen (Bourgeois et al. 2017; Masoudi et al. 2003; van Deudekom et al. 2017; Van Spall et al. 2007).
Ein systematischer Ansatz zur Identifikation und Darstellung von Interaktionen in Leitlinien wurde in der sogenannten Interaktions-Matrix verfolgt (Muth et al. 2014a): in einer vergleichenden Analyse von evidenzbasierten Leitlinien zur chronischen Herzinsuffizienz sowie zu 18 häufigen und bezüglich Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko relevanten Komorbiditäten wurden insgesamt etwa 250 Interaktionen identifiziert und als Arzneimittelwechselwirkungen, Gegenanzeigen, Interaktionen zwischen Erkrankungen und synergistische Behandlungsprinzipien klassifiziert. Ein ähnlicher Ansatz wurde von Dumbreck et al. (2015) verfolgt, die relevante Interaktionen aus einer vergleichenden Textanalyse britischer Leitlinien identifizierten. Mit diesen Pilotstudien konnte gezeigt werden, dass eine Katalogisierung von Interaktionen zwar aufwändig und wegen unvollständiger Informationen mit Grauzonen behaftet ist, dass es jedoch möglich ist, Interaktionen in Leitlinien zu adressieren und damit die Entscheidungsfindung bei Patienten mit Mehrfacherkrankung zu unterstützen (Dumbreck et al. 2015; Muth et al. 2014a).