Читать книгу Praxishandbuch Altersmedizin - Группа авторов - Страница 70
5.3.4.2 Vertikale Ausrichtung des Gesundheitswesens
ОглавлениеDie gesundheitliche Versorgung ist in entwickelten Industrieländern zunehmend in vertikal orientierten Versorgungspfaden organisiert bspw. im Rahmen von Disease Management Programmen (DMPs). Für Patienten, die an häufigen chronischen Erkrankungen leiden, wie z. B. an Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz oder einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, existieren in Deutschland auf die jeweilige Erkrankung zugeschnittene DMPs. Darüber hinaus gibt es (meist lokal begrenzte) Versorgungsangebote mit Case Management Programmen oder bspw. Telemonitoring.
Problematisch daran ist, dass – wie in unserem Fallbeispiel (Frau M) – die betroffenen Patienten nicht nur an Diabetes oder Herzinsuffizienz leiden, sondern häufig an beidem, und dass sie darüber hinaus zusätzliche Erkrankungen aufweisen. Patienten wie Frau M könnten also z. B. in mehreren DMPs (DMP Diabetes, DMP KHK und DMP Herzinsuffizienz) teilnehmen, von einer »Herzinsuffizienzschwester« (Case Management) betreut werden und telemedizinische Daten übermitteln. Daraus entstehen für Frau M eine Vielzahl von regelmäßigen Arztkontakten (wie Augenarzt, Kardiologe etc.), Schulungen und Beratungen zu Ernährung und Lebensstilmodifikation, Telefontermine mit der »Herzinsuffizienzschwester« und regelmäßige telemedizinische Kontakte. Nicht allein aufgrund ihrer Depression und ihrer spärlichen sozialen Einbindung wäre Frau M mit diesem gut gemeinten, aber sehr komplexen Programm nachvollziehbar überfordert. Zudem würden Frau M die für das jeweilige Versorgungsprogramm vorgesehenen – und mit Qualitätsindikatoren belegten – Medikamente verordnet. Da im Rahmen der heutigen, zumeist fragmentierten Versorgung häufig Kommunikationsdefizite zwischen den verschiedenen Behandlern bestehen und die Behandlungen oft unkoordiniert erfolgen (Gensichen et al. 2006), ergeben sich daraus nicht nur Belastungen, sondern auch relevante Risiken für unangemessene Verordnungen (z. B. unbeabsichtigte Doppelverordnungen, Nichtbeachtung von Gegenanzeigen oder Arzneimittelwechselwirkungen).
Patienten mit Multimorbidität sind daher nicht nur den gesundheitlichen Risiken für unangemessene Behandlungen, den Belastungen durch ihre Krankheiten, sondern in hohem Maße auch den Belastungen, die aus der Diagnostik und Therapie dieser Erkrankungen entstehen, ausgesetzt. Bei multimorbiden Patienten ist es oft nicht möglich oder sinnvoll, alle Erkrankungen gleichzeitig (oder gleichrangig) zu behandeln, da o. g. Interaktionen zwischen Erkrankungen und Behandlungen u. U. mehr schaden als nutzen und/oder ein umfangreicher Behandlungsplan eine hohe Belastung für den Patienten darstellt (Tinetti et al. 2004). Es müssen Prioritäten in der Diagnostik, Therapie und Prävention gesetzt werden. Nach Fried et al. (2008) ist es insbesondere dann erforderlich, die Präferenzen des Patienten zu priorisieren, wenn es um konkurrierende Therapieziele geht - das eine Ziel also nur auf Kosten des anderen erreicht werden kann. Bislang orientieren sich Patienten und ihre behandelnden Ärzte ganz überwiegend an krankheitsspezifischen Zielen. Bei Multimorbidität treten diese jedoch gegenüber krankheitsübergreifenden Zielen in den Hintergrund, wie bspw. dem Erhalt von Lebensqualität, Autonomie und Funktionalität oder einer Verlängerung des Lebens. Daneben ist es Patienten oft wichtig, bestimmte ungewollte Ereignisse zu vermeiden, wie z. B. das Auftreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, wie Benommenheit, Schläfrigkeit oder Schwindel oder das Eintreten eines Schlaganfalls, der mit dem Verlust von Funktionalität und ggf. Autonomie verbunden sein kann (Fried et al. 2008; Fried et al. 2011a; Fried et al. 2011b).
Aus den Beobachtungen, dass chronisch erkrankte Patienten – insbesondere Patienten mit multiplen chronischen Erkrankungen – häufig ein immenses Pensum an Aufgaben erfüllen sollen, die ausschließlich der Behandlung ihrer gesundheitlichen Probleme dienen und häufig stark in ihre »normalen« Lebensabläufe eingreifen, entstand der Ansatz der sog. minimal disruptive medicine (May et al. 2009). Er zielt darauf ab, die Belastungen der medizinischen Versorgung an die individuelle Belastbarkeit der Patienten anzupassen und die erforderlichen Behandlungen möglichst gut mit ihrer Alltagswirklichkeit in Einklang zu bringen, um die medizinische Versorgung, die Adhärenz (Therapietreue) und damit die gesundheitlichen Ergebnisse, wie z. B. die gesundheitsbezogene Lebensqualität, zu verbessern (May et al. 2009).
Die Entwicklung von Versorgungsmodellen, die Multimorbidität angemessen berücksichtigen und die bestehende vertikale Orientierung zugunsten einer Patientenzentrierung mit einer höheren Versorgungskontinuität überwinden, ist wünschenswert, jedoch komplex, da hier Veränderungen über alle Ebenen und Sektoren des Gesundheitswesens hinweg erfolgen müssen (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) 2009, Tacken et al. 2011). Innerhalb dieser Versorgungsmodelle kommt Generalisten, wie Hausärzten und – in der Betreuung alter Menschen – Altersmedizinern eine zentrale Bedeutung zu: Sie verfolgen einen krankheitsübergreifenden, patientenzentrierten Ansatz und koordinieren die Versorgung verschiedener Behandler. Hausärzte stellen darüber hinaus auch die langfristige Betreuung sicher (Starfield et al. 2003, 1976).