Читать книгу Praxishandbuch Altersmedizin - Группа авторов - Страница 77
5.3.6 Fazit und Empfehlungen für die Praxis
ОглавлениеDer überwiegende Anteil der Erkenntnisse zur Multimorbidität stammt aus epidemiologischen Studien. Diese haben zu dem heutigen Problembewusstsein des Ausmaßes und der individuellen wie gesellschaftlichen Folgen von Multimorbidität beigetragen – insbesondere bei alten Patienten und in der hausärztlichen und altersmedizinischen Versorgung, wo mehrfacherkrankte Patienten bereits heute die Mehrheit der Behandelten darstellen. Demgegenüber gibt es bislang noch weitgehend theoretische (d. h. selten in der Praxis erprobte) Vorstellungen zur medizinischen Versorgung dieser Patienten. Belastbare Daten über wirksame Interventionen, die eine klinische Entscheidungsfindung unterstützen, fehlen weitgehend. Auch ist unklar, ob die unter anderen Bedingungen evaluierten (z. B. medikamentösen) Therapien auch bei alten Patienten mit Multimorbidität in ähnlichem Ausmaß wirksam sind, wie bei den untersuchten jüngeren Studienteilnehmern mit Einzelerkrankungen. Auch wenn erste Beobachtungsstudien ermutigende Ergebnisse zeigen, dass Patienten mit bspw. Herzinsuffizienz und COPD sowie weiteren Begleiterkrankungen hinsichtlich Mortalität profitieren, wenn sie leitliniengerecht hinsichtlich der Indexerkrankung behandelt werden (Tinetti et al. 2015), sind aus anderen Untersuchungen verminderte Nutzen bei Patienten mit multiplen Erkrankungen bekannt (Palmer et al. 2012).
Die in jüngster Zeit entwickelten Leitlinien für Patienten mit Multimorbidität bzw. Multimedikation bieten ebenfalls ermutigende Ansätze, obgleich die überwiegende Zahl der Empfehlungen nicht auf empirischer Evidenz beruht (Muth et al. 2018): sie decken in unterschiedlichem Maße ein breites Spektrum von Aspekten hinsichtlich klinischem Management und Selbstmanagement bei diesen komplexen Patienten ab. Die in Multimorbiditäts- und Multimedikationsleitlinien formulierten Empfehlungen reichen von eher abstrakten (und daher für unterschiedlichste Patienten und Situationen anwendbaren) Grundprinzipien bis hin zu detaillierten Empfehlungen bspw. zur Medikationsüberprüfung sowie Hinweisen zu hilfreichen Praxistools. Insbesondere stimmen sie darin überein, dass eine patientenzentrierte Herangehensweise unter Berücksichtigung aller relevanten biopsychosozialen Aspekte des Patienten sowie seiner Präferenzen von zentraler Bedeutung ist, um die gesundheitliche Versorgung und damit die Patientenoutcomes zu verbessern (Muth et al. 2018).
Darüber hinaus haben Untersuchungen gezeigt, dass Multimorbidität außerhalb der individuellen Arzt-Patienten-Beziehung und der rein medizinischen Versorgung eine starke gesellschaftliche bzw. systembezogene Dimension aufweist: Heutige Strukturen des Gesundheitswesens inkl. der herrschenden Anreizsysteme fördern häufig sogar bestehende Über-, Unter- und Fehlversorgung (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) 2009). Um dem entgegenzuwirken, ist u. a. eine stabile wohnortnahe hausärztliche Versorgung, die ambulante und stationäre spezialärztliche Versorgung langfristig koordiniert und darüber hinaus weitere Gesundheits- und Sozialprofessionen einbezieht, von zentraler Bedeutung (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) 2009).