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5.4.2 Was ist Plastizität?

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Der Begriff der Plastizität ist nicht neu in der wissenschaftlichen Literatur: Baldwin und Poulton (1902) beispielsweise verstanden hierunter die Fähigkeit eines Organismus, sich an verschiedene Lebens- und Umweltbedingungen anzupassen. Auch für die (Entwicklungs-) Psychologie spielte der Begriff der Plastizität in der Ontogenese bereits früh eine zentrale Rolle (s. bspw. Baltes 1990; Lerner 1985), der auf unterschiedliche und eher vage Weise definiert worden ist (Concelmann 1999), und ist bis heute ein zentrales Forschungsanliegen auch in den Neurowissenschaften (Lindenberger et al. 2017; Wenger et al. 2017). Es lassen sich mehrere Eigenschaften benennen, welche den verschiedenen Auffassungen von Plastizität gemeinsam sind:

1. Vielfalt von Entwicklungsverläufen: Entwicklung von Verhalten und kognitiven Fähigkeiten verläuft nicht universell, sondern zwischen verschiedenen Personen unterschiedlich (interindividuelle Variabilität) und sogar unterschiedlich innerhalb einer Person über die Zeit hinweg (intraindividuelle Variabilität). Die letztere Form von Variabilität wird gemeinhin als Plastizität, sog. »Bildsamkeit« einer Person über die Lebensspanne (Thomae 1990), bezeichnet.

2. Multidirektionalität: Entwicklung verläuft nicht stets gleichgerichtet, sondern kann unterschiedliche Richtungen und Geschwindigkeiten für unterschiedliche Funktionen innerhalb der Lebensspanne aufweisen. So stellte sich heraus, dass die Pragmatik der Kognition (d. h. erlernte Fertigkeiten und erworbene Wissensbestände) bis in das hohe Erwachsenenalter stabil bleibt oder sich gar noch verbessert, während die Mechanik der Kognition (d. h. Genauigkeit, Geschwindigkeit und Koordination elementarer kognitiver Prozesse) ab dem frühen Erwachsenenalter abnimmt.

3. Umwelteinflüsse: Die menschliche Entwicklung entsteht durch bzw. in Anpassung an die ökologische und kulturelle Umwelt (Lerner 1985), die idealerweise ein stimulierendes Informationsangebot bietet. Bei ungünstigen Umweltbedingungen kann es zu einer Anpassung an diese kommen, die sich negativ auf die Entwicklung auswirkt (z. B. anregungsarme Lebenswelten alter Menschen).

4. Übungseinfluss: Die Leistungsfähigkeit hängt stark davon ab, wie viel Zeit und gezielte Anstrengung in Erwerbs- und Trainingsprozessen für einen bestimmten Funktionsbereich investiert werden, d. h. wie regelmäßig das umweltbezogene Informationsangebot genutzt wird, um die Anforderungen flexibel und erfolgreich zu bewältigen (Zihl et al. 2009).

5. Genetische Prädispositionen: Diese bestimmen die Grenzen und Möglichkeiten, menschliche Entwicklungsverläufe durch Umwelteinflüsse zu modifizieren, wobei traditionell davon ausgegangen wurde, dass frühe Lebensaltersabschnitte als Zeiten mit besonders hoher Plastizität anzusehen sind.

6. Aktive Rolle bei der eigenen Entwicklung: Hiermit ist die flexible, situationsangepasste Form gemeint, Informationen aus der Umwelt aufzunehmen, zu verarbeiten und auf diese zu reagieren. Dabei nimmt der Mensch eine aktive Rolle in seiner Entwicklung im Rahmen der begrenzten Plastizität ein, in dem er sich seine Umwelt zu einem gewissen Grad selbst aussucht bzw. schafft.

7. Verknüpfung von psychischer und neuraler Plastizität: Plastizität bezieht sich auf die fortlaufende Anpassung der sich entwickelnden Funktionssysteme des Gehirns an die Umwelt. Dabei wurden in Tier- und Humanstudien am intakten und verletzten Gehirn verschiedene Prinzipien identifiziert, die der kurz- und längerfristigen Neuromodulation bzw. -plastizität zugrunde liegen (z. B. Zihl et al. 2009).

Plastizität kann also als die Fähigkeit charakterisiert werden, unterschiedliche Verhaltensformen und Entwicklungswege zu erproben und latentes Entwicklungspotenzial zu realisieren (Brehmer und Lindenberger 2007; Lövdén et al. 2010). Entwicklungsplastizität fokussiert demgegenüber auf die sich im Verlauf der Entwicklung verändernden Möglichkeiten, bereitstehende (Umwelt-)Informationen zu verwerten, wobei diese jeweils auch ein Ergebnis der jeweiligen Entwicklung ist.

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