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8.1 Einleitung: Zum Verhältnis von Recht und Ethik

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Den rechtlichen Rahmen aufzuzeigen, in dem sich ärztliche Entscheidungen über die Einleitung, Fortführung oder Begrenzung intensivmedizinischer Maßnahmen bewegen, ist eine fortwährende, heute jedoch besonders dringlich erscheinende Aufgabe des interdisziplinären Diskurses. Das liegt nicht etwa daran, dass die ethischen Maximen medizinischen Handels und die Kriterien der juristischen Beurteilung wesentlich voneinander abweichen würden oder dass sich bei den für die Intensivmedizin praxisrelevanten Behandlungsfragen grundlegende Änderungen der Rechtslage ergeben hätten. Zwar ist infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.2.2020 über die Verfassungswidrigkeit von § 217 StGB (BVerfGE 153, 182) eine gesetzliche Regelung des (ärztlich) assistierten Suizids zu erwarten (s. Kap 8.2.7), doch betrifft dies eine Konstellation, deren medialer Aufmerksamkeitswert im Gegensatz zur klinischen Bedeutung steht. Befragungen von Ärzten, aber auch die Erfahrungen, die die Autoren ebenso wie andere Medizinrechtler aus zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen gewonnen haben, zeigen, dass eine verbreitete und tiefe Verunsicherung darüber besteht, welche Grenzen das geltende Recht und insbesondere das Strafrecht (Intensiv-)Medizinern bei Behandlungsentscheidungen setzt. Die zumeist unbegründete, in Konfliktfällen aber mitunter auch von Angehörigen oder sogar Kollegen instrumentalisierte Furcht vor „juristischen Konsequenzen“ und die Annahme vermeintlicher rechtlicher Vorgaben können unmittelbaren Einfluss auf das ärztliche Entscheidungsverhalten haben. Die Gründe für das eigenartige Auseinanderdriften von „gefühlter“ und „tatsächlicher“ Rechtsunsicherheit sind vielfältig und können hier nur insoweit aufgegriffen werden, als es zum Verständnis des im Folgenden skizzierten rechtlichen „Koordinatensystems“ erforderlich ist. Schon jetzt sei jedoch vor überzogenen Erwartungen an die Leistungsfähigkeit solcher juristischen Handreichungen gewarnt. Auch wenn Mediziner diesen Wunsch immer wieder an Juristen herantragen, kann das Recht ebenso wenig wie die Medizin Entscheidungsvorgaben machen, die nur gleichsam algorithmisch ausgefüllt und umgesetzt zu werden bräuchten, um für jeden Einzelfall das „richtige“ Ergebnis zu erhalten. Selbstverständlich gibt es eindeutige Fälle, aber gerade in der Intensivmedizin auch viele Grenzsituationen, in denen schwierige Entscheidungen unter Heranziehung unterschiedlicher Gesichtspunkte getroffen werden müssen. Diese Entscheidungslast kann das Recht den Verantwortlichen nicht abnehmen, wohl aber einen inhaltlichen und auch prozeduralen Rahmen bereitstellen, innerhalb dessen sich intensivmedizinische Entscheidungen bewegen können und dessen Einhaltung zugleich die Gefahr späterer zivil- oder strafrechtlicher Haftung minimiert. Hier ist nicht der Raum, auf alle rechtlichen Aspekte der intensivmedizinischen Praxis einzugehen, vielmehr sollen im Folgenden nur die herkömmlich mit dem Begriff der „Sterbehilfe“ bezeichneten Fälle und dabei insbesondere die besonders belastenden Entscheidungen über Therapiebegrenzungen in den Blick genommen werden. Erfreulicherweise haben sich in der letzten Zeit sehr hilfreiche rechtliche Präzisierungen sowohl durch den Gesetzgeber als auch die Zivil- und Strafrechtsprechung ergeben. So besteht seit dem 1.9.2009 eine gesetzliche Grundlage für den Umgang mit Patientenverfügungen (sog. Patientenverfügungsgesetz), die auch klärt, wie bei einwilligungsunfähigen Patienten ohne Patientenverfügung zu verfahren ist (s. Kap. 8.2.5 und 8.2.6). Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat in dem viel beachteten „Fall Fulda“, in dem es um das Durchschneiden einer Magensonde ging (s. Kap. 8.2.2), deutlich gemacht, worin der Unterschied zwischen erlaubter Behandlungsbegrenzung (bisher sog. passive Sterbehilfe) und verbotener Tötung auf Verlangen (bisher sog. aktive Sterbehilfe) besteht. Auch zu Problemen im Zusammenhang mit dem Suizid eines Patienten gibt es neue Entscheidungen. Das BVerfG hat die zu viel Rechtsunsicherheit führende Kriminalisierung der geschäftsmäßigen Suizidhilfe durch den 2015 in Kraft getretenen § 217 StGB für nichtig erklärt und der BGH hat seine seit langem kritisierte Rechtsprechung zur Rettungspflicht von Ärzten nach freiverantwortlich durchgeführten Suizidversuchen jedenfalls teilweise korrigiert (s. Kap. 8.2.7). Entscheidungen des 12. Zivilsenats haben sich um eine Konkretisierung der Vorgaben des Patientenverfügungsgesetzes, insbesondere der Anforderungen an die Bestimmtheit von Patientenverfügungen bemüht (s. Kap. 8.2.5).

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