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8.2.6 Rolle des Vertreters und des Betreuungsgerichts
ОглавлениеIst der Patient nicht mehr in der Lage seinen Willen zu äußern, muss ein Vertreter an seiner Stelle die notwendigen Entscheidungen treffen. Dies kann nach der momentanen Rechtslage nur ein vom Betreuungsgericht mit dem Aufgabenkreis der Gesundheitssorge bestellter Betreuer oder ein vom Patienten selbst im Wege einer schriftlichen Vorsorgevollmacht eingesetzter Bevollmächtigter sein. Am 1. Januar 2023 wird für den Fall einer bisher nicht bestehenden Betreuung oder Bevollmächtigung ein auf 6 Monate befristetes gesetzliches Notvertretungsrecht des Ehegatten des entscheidungsunfähig gewordenen Patienten eingeführt. Mit diesem Teil einer umfassenden Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts (BT-Drs. 564/20) will der Gesetzgeber einer verbreiteten Vorstellung über die Vertretungsbefugnisse von Ehegatten in Gesundheitsangelegenheiten entsprechen und eine Lösung für Eilfälle anbieten.
Bei der Errichtung einer Vorsorgevollmacht ist zu beachten, dass ein Bevollmächtigter nur dann über die Vornahme bzw. Begrenzung einer lebenserhaltenden Behandlung entscheiden kann, wenn er dazu in der Vollmacht ausdrücklich befugt wird [§ 1904 Abs. 5 Satz 2 BGB]. Der BGH verlangt einen Vollmachttext, der dem Bevollmächtigten explizit die Befugnis auch zu Behandlungsentscheidungen einräumt, die mit der Gefahr des Todes verbunden sind („qualifizierte Gefahrensituation“, BGHZ 211, 67, Rn 19). In Notfällen, in denen keine Zeit zur Einholung einer Vertreterentscheidung oder einer Eilentscheidung des Betreuungsgerichts über eine Betreuerbestellung oder unmittelbar über die Vornahme der konkreten Behandlung bleibt, entscheidet der Arzt auf der Grundlage des (mutmaßlichen) Patientenwillens. Eine Information des Betreuungsgerichts per Fax(-Vordruck) ist ratsam. In allen anderen Fällen entscheidet der ggf. noch zu bestellende Vertreter des Patienten auch mit Wirkung gegenüber dem Arzt über die (Nicht-)Vornahme ärztlich indizierter Maßnahmen zur Lebenserhaltung oder Leidenslinderung. Entscheidungsmaßstab ist wiederum der Wille des Patienten [§§ 1901 a Abs. 1, 2 und 5 BGB]. Der Arzt ist folglich an die Vertreterentscheidung nur dann nicht gebunden, wenn sich der Vertreter in offensichtlichen Widerspruch zum Patientenwillen setzt [Beckmann 2009]. In diesem sowie allen anderen Fällen, in denen der Arzt Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Vertreterhandelns hat, kann und sollte er das Betreuungsgericht als Kontrollinstanz anrufen, was im Übrigen auch jeder anderen Person möglich ist (sog. Missbrauchskontrolle). Stimmen Arzt und Vertreter dagegen darin überein, dass (weitere) lebenserhaltende Maßnahmen nicht dem Patientenwillen entsprechen, muss eine Behandlungsbegrenzung auch nicht vom Betreuungsgericht genehmigt werden [§ 1904 Abs. 4 BGB].
Die Begrenzung einer medizinisch indizierten Behandlung bedarf nur dann einer betreuungsgerichtlichen Genehmigung, wenn zwischen Arzt und Betreuer/Bevollmächtigtem unterschiedliche Auffassungen über den Patientenwillen bestehen.
Der Arzt sollte die Zuständigkeit des Vertreters, über die Vornahme medizinisch indizierter Maßnahmen auf der Grundlage des Patientenwillens zu entscheiden, und die Notwendigkeit einer betreuungsgerichtlichen Genehmigung bei einem Dissens über die Beurteilung des Patientenwillens nicht als Bevormundung ansehen, sondern den darin liegenden Gewinn an Rechtssicherheit schätzen. Zwar kommt es aus strafrechtlicher Sicht letztlich nur darauf an, ob die konkrete Behandlungsentscheidung dem Patientenwillen entspricht und nicht, ob die Vorschriften des Betreuungsrechts eingehalten wurden. Die insoweit missverständlichen Ausführungen im Fall Fulda hat die Vorsitzende Richterin klargestellt [Rissing-van Saan 2011, 548]. Jedoch setzt sich der betreuungsrechtswidrig handelnde Arzt der erheblichen Gefahr einer unzutreffenden Beurteilung des Patientenwillens aus und könnte sich in einem Strafverfahren kaum noch darauf berufen, einem unvermeidbaren Irrtum erlegen zu sein. Auf der sicheren Seite ist dagegen der Arzt, der im Einvernehmen mit dem Patientenvertreter handelt und bei Zweifeln über den Patientenwillen oder die Richtigkeit der Vertreterentscheidung einen Antrag auf betreuungsgerichtliche Genehmigung stellt. Die klare Zuweisung der Entscheidungsverantwortlichkeit an den Vertreter macht den in Kapitel 8.2.5 beschriebenen Entscheidungsfindungsprozess keineswegs entbehrlich, da Vertreter ebenso wie Ärzte ein Interesse daran haben, eine zumindest vertretbare und einer eventuellen strafrechtlichen Überprüfung standhaltende Therapieentscheidung zu treffen und dafür auf einen Informationsaustausch angewiesen sind. Die Vorschrift des § 1901 b Abs. 1 BGB verpflichtet Ärzte und Betreuer bzw. Bevollmächtigte sogar ausdrücklich zu einer Erörterung des Patientenwillens, möglichst unter Einbeziehung von nahen Angehörigen und sonstigen Vertrauenspersonen (Abs. 2). Im Übrigen sollte die Entscheidung schon deswegen im Einvernehmen aller Beteiligten, jedenfalls unter deren Beteiligung, getroffen werden, um nicht nachträgliche juristische Auseinandersetzungen, insbesondere Strafanzeigen der „übergangenen“ Seite zu provozieren.