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8.2.2 Missverständlichkeit der herkömmlichen Terminologie

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Die Beurteilung der strafrechtlichen Zulässigkeit von Maßnahmen der Sterbehilfe erfolgte bisher durch die Einordnung in eine mit den Begriffen „aktiv/ passiv“ und „direkt/indirekt“ arbeitende Kasuistik. Diese Fallgruppenbildung ist dem Umstand geschuldet, dass sich dem Strafgesetzbuch nur das Verbot der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und neuerdings der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB, s. Kap. 8.2.7) entnehmen lässt. Es muss daher geklärt werden, welche Fälle von diesen Vorschriften erfasst werden und welche Behandlungsentscheidungen, die zu einer Verkürzung medizinisch möglicher Lebenszeit führen, dagegen erlaubt, ja womöglich sogar geboten sind. Für diese Grenzziehung hat sich die Unterscheidung zwischen verbotener direkter aktiver Sterbehilfe einerseits und grundsätzlich erlaubter passiver und indirekter aktiver Sterbehilfe andererseits etabliert. Tatsächlich sind diese überkommenen Bezeichnungen in hohem Maße verwirrend und haben insbesondere zu dem Missverständnis geführt, dass sich die juristische Beurteilung von Behandlungsentscheidungen danach richtet, ob Ärzte eine zum Tode des Patienten führende Aktivität entfaltet oder es unterlassen haben, lebenserhaltende Maßnahmen zu ergreifen bzw. fortzuführen. Der BGH hat die sich im Fall Fulda (s. u. Fallbeispiel, BGHSt 55, 191) bietende Chance genutzt, diesem verbreiteten, sogar unter Juristen vorkommenden Irrtum entgegenzutreten. ln den ersten beiden Leitsätzen seines Urteils stellt er fest:

„Sterbehilfe durch Unterlassen, Begrenzen oder Beenden einer begonnenen medizinischen Behandlung (Behandlungsabbruch) ist gerechtfertigt, wenn dies dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen entspricht (§ 1901 a BGB) und dazu dient, einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen.

Ein Behandlungsabbruch kann sowohl durch Unterlassen als auch durch aktives Tun vorgenommen werden.“

Damit hat die Rechtsprechung einen schon lange geforderten terminologischen Wandel vollzogen, auch wenn der vom BGH gewählte, allein auf die lebenserhaltenden Maßnahmen bezogene Oberbegriff „Behandlungsabbruch“ nicht optimal erscheint. ln der Sache besteht aber zu den differenzierteren, die Fortführung palliativer Maßnahmen einschließenden Formulierungen in den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung [Bundesärztekammer 2011] kein Unterschied. Darin wird von „Begrenzungen“ lebenserhaltender Therapien oder allgemein von einer „Änderung des Behandlungsziels“ in der Weise gesprochen, dass an „die Stelle von Lebensverlängerung und Lebenserhaltung (…) palliativ-medizinische Versorgung einschließlich pflegerischer Maßnahmen (tritt)“. Anschaulicher als der Begriff der indirekten Sterbehilfe ist auch die in den Grundsätzen enthaltene Beschreibung, dass „bei Sterbenden (…) die Linderung des Leidens so im Vordergrund stehen (kann), dass eine möglicherweise dadurch bedingte unvermeidbare Lebensverkürzung hingenommen werden darf.“

Fallbeispiel

Die Tochter und Betreuerin der infolge einer Hirnblutung irreversibel bewusstlosen Patientin versuchte, deren zuvor mündlich geäußerten Willen durchzusetzen, in einem solchen Fall nicht künstlich ernährt zu werden. Nach Einschaltung eines Rechtsanwalts wurde schließlich mit der Leitung des Heims, in dem die Patientin untergebracht war, vereinbart, dass die Tochter die Reduktion der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr selbst durchführen soll. Nachdem bereits der letzte Tropf durchgelaufen war, forderte die übergeordnete Geschäftsleitung des Heims die Tochter unter Drohung mit einem Hausverbot dazu auf, der sofortigen Wiederaufnahme der Ernährung zuzustimmen. Um dies zu verhindern, schnitt die Tochter auf den telefonischen Rat ihres Anwalts den Schlauch der PEG-Sonde über der Bauchdecke ab. Der Rechtsanwalt wurde in erster Instanz vom LG Fulda wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten auf Bewährung verurteilt. ln der Revisionsinstanz erging dagegen ein auch von der Bundesanwaltschaft beantragter Freispruch [BGHSt 55, 191, zu den Hintergründen Verrel 2010a].

Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin

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