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Politik der langen Linien

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Anstatt vieler kleiner technokratischer Veränderungsschritte ist für die Neugestaltung des Gesundheitswesens die Bereitschaft gefragt, in langfristig zu erreichende Ziele zu investieren. Dafür muss ressortübergreifend ein gemeinsames Verständnis wachsen. Eine Reformpolitik des langen Atems gibt Raum für ernsthaftes und rationales Nachdenken über alternative Wege, denen beherzte Umsetzungsmaßnahmen folgen müssen und die durch kluge Evaluationen begleitet werden. Um zu überprüfen, ob die strategischen Ziele erreicht werden, werden Kennzahlen definiert wie die Lebenserwartung, Lebensqualitäts- und Partizipations-Scores, Prävalenz und Inzidenz vermeidbarer und vom Lebensstil beeinflussbarer chronischer Erkrankungen u.v.m.

Die Kernthemen einer Politik der langen Linien müssen sein:

Weil Gesundheit keine Ware ist, sondern „Common Good“ und Grundlage einer leistungsfähigen Gesellschaft, muss das Zusammenspiel von Markt, Staat und Selbstverwaltung ebenso permanent neu überdacht werden wie die Anreize: Marktmechanismen müssen im Sinne der Gesundheitsziele klug und mit Bedacht genutzt werden und dürfen die auf Solidarität ausgelegten Strukturen nicht aushöhlen. Solidarität ist zu stärken. Anreize müssen in erster Linie die Steigerung der Versorgungsqualität und die Förderung von Innovationen bewirken. Vergütungen müssen ausgewogen sein und im Verhältnis zum Nutzen stehen.

Das Gesundheitssystem muss sich dauerhaft auf potenzielle Krisen einstellen: Auf Basis der Erkenntnis, dass Krisen wie Pandemien und Katastrophenfälle infolge des Klimawandels zukünftig eine Art von Normalfall darstellen, muss eine Krisenvoreinstellung verankert werden. Potenzielle Krisen müssen mit Frühwarnsystemen antizipiert, mit Szenarien unterlegt und mit geeigneter Vorsorge bedacht werden. Benötigt wird eine qualifizierte Datenbasis, anhand derer Entscheidungen getroffen und Blindflüge vermieden werden können. Ein weiteres Element langfristig agierender Gesundheitspolitik bildet die sachgerechte Kommunikation zwischen Wissenschaft (alle relevanten Fachrichtungen), Politik und Bevölkerung. Die Wissenschaftskommunikation ist zu stärken. Entscheidungsträger und Vermittler von Kommunikation wie Medienvertreter müssen ein Grundverständnis von gesundheitlichen Zusammenhängen entwickeln. Gleichzeitig müssen Kommunikationskanäle von der Alltagsebene „nach oben“ geöffnet werden.

Das Krankheitsspektrum in Deutschland muss stärker in den Fokus genommen werden: In den nächsten zehn Jahren wird ein demografischer Ruck durch Deutschland gehen. Die Alterung der Gesamtbevölkerung wird das bereits jetzt vorherrschende Krankheitsspektrum an chronischen, individuell oft komplexen Erkrankungen zementieren. Angesagt sind daher Investitionen in Gesundheitsförderung und Prävention zur Reduktion des Versorgungsbedarfs, eine gestärkte Primärversorgung zur Stabilisierung chronischer Erkrankungen sowie eine höchst professionelle Pflege wider die strukturelle Lieblosigkeit und zur Sicherung der Pflegequalität in der Breite.

Bildung – Bildung – Bildung: Sie ist der größte Einflussfaktor für die individuelle Gesundheit. Ein hoher Bildungsstand verspricht gute Gesundheitsergebnisse. Gesundheitskompetenz – ergänzt um Digitalkompetenz – ist ein Schlüsselelement für die zukünftige Gesundheitsversorgung. Bildung brauchen jedoch nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch die Gesundheitsberufe. Ihre Curricula sind kontinuierlich anzupassen. Pflege- und Therapieberufe benötigen in wachsendem Ausmaß akademische Qualifizierung.

Über Bildung hinaus braucht das Gesundheitssystem als Ganzes eine funktionierende Lernkultur. Es kann sein potenzielles Leistungsniveau nicht entfalten, ohne permanent zu lernen und sich anzupassen. Unbedingte Voraussetzung dafür ist Innovationsoffenheit in jeder Hinsicht: für Verbesserungen bei der Bildung und beim Engagement der Akteure, für neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung und für neue technologische Entwicklungen. Der Innovationsfonds kann als Initialzündung verstanden werden, seine Problemlösungsfähigkeit und seine Wirkkraft für eine durchgehende Verbesserung der Versorgungsqualität sind jedoch noch nicht absehbar. Aus dem Innovationsstau in der Digitalisierung des Gesundheitswesens müssen Schlüsse für eine wirksame Lern- und Innovationskultur gezogen werden. Am Vorabend der Einführung von Künstlicher Intelligenz und von Erbgut verändernden Technologien ist es höchste Zeit für tragfähige Meinungs- und Entscheidungsfindungsprozesse unter Beteiligung der Bürger. Die Grundlage dafür ist eine transparente Nutzen- und Folgenabschätzung.

Flexiblere Governance ist ein Muss: Regulierungen und Bürokratie sind notwendig, damit komplexe Systeme wie das Gesundheitswesen funktionieren. Sie müssen jedoch auf ihre tatsächliche Notwendigkeit beschränkt und damit Gegenstand kontinuierlicher Anpassung sein. Politik muss die Fähigkeit entwickeln, sich in ihrer Zuständigkeit selbst zu hinterfragen und diese sachgerecht zu ändern. Das beinhaltet, die Sozialgesetzgebung konsequent auf die Anforderungen der Zukunft auszurichten und sie einer grundlegenden Überarbeitung bis zu einer Neusortierung ihrer Bücher zu unterziehen. Ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem muss in diesem Zusammenhang einen konstruktiven Umgang mit den Partikularinteressen finden, denn es ist mehr denn je auf gute Zusammenarbeit angewiesen: zwischen den Gesundheitsberufen, zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, zwischen Bund, Region und Kommune, zwischen Administration und Praxis, zwischen allen Ressorts für „Gesundheit in allen Politikbereichen“ und zwischen Deutschland, der EU und dem weiteren internationalen Raum.

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