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Partikularinteressen und Netzwerke

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In der Gesundheitspolitik existieren unterschiedliche überlagernde Konfliktlinien. Eine grundlegende Konfliktlinie ist normativ und betrifft vor allem das Spannungsfeld zwischen Eigenverantwortung und Solidarität. Eine andere Konfliktlinie betrifft die Frage der Organisation von Qualität und der Formulierung von Qualitätsindikatoren. Eine dritte und besonders prominente Konfliktlinie betrifft die wirtschaftlichen Interessen von Leistungserbringern im Gesundheitswesen einerseits und von Finanzträgern im Gesundheitswesen andererseits (Bandelow et al. 2020). Losgelöst von den Akteuren lassen sich die allgemeinen Konfliktlinien im Gesundheitswesen als magisches Viereck abbilden. Das Verhältnis zwischen diesen Zielen ist „magisch“, da es vergleichbar den Zielen aus der Wirtschaftspolitik nicht möglich ist, alle Ziele gleichzeitig in gleichem Maße zu realisieren.

Jenseits der allgemeinen Konfliktlinien finden sich verschiedene Spezialkonflikte, die sowohl normative Aspekte umfassen als auch konkrete ökonomische Interessen etwa von einzelnen Leistungserbringern oder Krankenkassen. Beispiele sind auf Kassenseite der sehr umstrittene Morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) innerhalb der GKV und das grundsätzliche Verhältnis zwischen GKV und anderen Finanzträgern des Gesundheitswesens. Der Morbi-RSA beinhaltet einen Ausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenkassen auf Grundlage der jeweiligen Versichertenstrukturen. Bei den Leistungserbringern sind es oberflächlich Ressourcenkonflikte zwischen den zentralen Sektoren, also etwa den Krankenhausträgern, den niedergelassenen Ärzten und Zahnärzten, den Arzneimittelunternehmen und anderen Leistungserbringern, etwa im Bereich der Heil- und Hilfsmittel und der Pflege. Innerhalb der Sektoren gibt es zusätzliche Konflikte zwischen großen forschenden Arzneimittelunternehmen und Generikaherstellern (Räker 2017).

Die unterschiedlichen Partikularinteressen im Gesundheitswesen verfügen über verschiedene Machtressourcen. Die Machtverhältnisse zwischen diesen Partikularinteressen und auch die Vernetzung zwischen diesen Partikularinteressen und zwischen einzelnen Partikularinteressen und politischen Parteien verändert sich im Zeitverlauf.

Für die Stärke von Partikularinteressen hat die Politikwissenschaft lange Zeit vor allem Maßzahlen genutzt, die für korporatistische Verhandlungen relevant sind. Darunter fallen insbesondere die Organisationsfähigkeit, die Konfliktfähigkeit, die Bündnisfähigkeit und Geld. Aus dieser Perspektive sind etwa kleinere Interessengruppen wie spezialisierte Ärztinnen und Ärzte besser organisierbar als große Gruppen wie die Versicherten der GKV. Konfliktfähigkeit umfasst eine Möglichkeit des klassischen Drohpotenzials, also der Möglichkeit, kollektiv Leistungen zu verweigern (Klenk 2018). Dies findet sich etwa bei der Pharmaindustrie, wenn diese mit Standortwechseln droht oder Forschungsgelder reduzieren möchte.

Geringe Konfliktfähigkeit wird wiederum eher Patientinnen und Patienten zugesprochen. Patienteninteressen sind institutionell nur durch eine beratende Funktion ohne Stimmrecht im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eingebunden. Dabei liegt eine Hauptproblematik in der Vertretung von Patienteninteressen darin, dass die Repräsentanten überwiegend ehrenamtlich tätig sind und mit deutlich weniger personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet sind, als für eine aus politikwissenschaftlicher Sicht einflussreiche Konfliktfähigkeit notwendig wären.

Im Vergleich zu Patienteninteressen sind Pflegeinteressen theoretisch konfliktfähiger, da es sich bei der Krankenpflege um eine systemrelevante Leistung handelt und durch die Androhung der Leistungsverweigerung politischer Druck aufgebaut werden könnte. In der Praxis fehlt es den Pflegekräften allerdings an einer einflussreichen Lobby. Die Gründe hierfür sind teilweise historisch, da in Deutschland Krankenpflege eng an kirchliche Einrichtungen gebunden war und eine kulturelle Prägung durch das Konzept der Schwesternschaft aufweist (Willems u. von Winter 2007).

Die korporatistische Perspektive geht von einem verhandlungstheoretischen Ansatz im engeren Sinn aus. Dies bedeutet, dass sie stabile Interessen und benennbare Interessenkonflikte annimmt, die es vor dem Hintergrund von Druck und Gegendruck durchzusetzen gilt. Die moderne Politikwissenschaft hat allerdings gezeigt, dass in politischen Prozessen die Ausübung von Druck selten die erfolgreichste Methode zur Erreichung von Zielen ist. Langfristige politische Strategien setzen vielmehr voraus, dass es individuellen Akteuren gelingt, Vertrauensbeziehungen zu anderen Personen des Politikfelds und ggf. auch zur Öffentlichkeit aufzubauen. Hierfür sind individuelle Ressourcen erforderlich. Dazu zählen zum Beispiel Fachkompetenz, strategische Kompetenz, Verlässlichkeit, individuelle Durchsetzungsfähigkeit sowie individuelle Kommunikationskompetenz und Charisma (Bandelow et al. 2013, S. 26).

Wendet man die verschiedenen und teilweise gegensätzlichen Perspektiven zur Identifikation politischer Macht auf die Akteure im Gesundheitswesen an, ergibt sich ein komplexes Bild. Im Hinblick auf korporatistische Machtquellen gehören vor allem die forschenden Pharmaunternehmen, kleinere Arztgruppen und Teile der Krankenhausträger, insbesondere private Krankenhausträger, zu den einflussreichsten Akteuren. Die empirischen Befunde bestätigen diese Annahme teilweise, allerdings ist zu beachten, dass sich die Verbandsstrukturen im Zeitverlauf verändert haben. Die Pharmaindustrie wird immer weniger allein durch übergreifende Dachverbände vertreten und nutzt verstärkt eigene Lobbyisten zur Durchsetzung von Partikularinteressen. Dies hat dazu geführt, dass weniger die Pharmaindustrie als kollektive Gruppe als vielmehr einzelne Pharmaunternehmen mit guten Organisationsstrukturen erfolgreich ihre Interessen durchsetzen können. Eine analoge Entwicklung mit etwas anderen Auswirkungen findet sich bei den Ärzteverbänden. Auch hier fragmentiert sich die Interessenvertretung infolge der gestiegenen Verteilungskonflikte nach den Reformen seit 1992. Die Durchsetzungsfähigkeit der Krankenkassen auf der korporatistischen Ebene hat sich eher verstärkt. Hier ist ein gegenläufiger Prozess zu beobachten. Statt einer Fragmentierung haben die politischen Reformen zu einer starken Reduktion der Zahl der Einzelkassen von mehreren Tausend auf inzwischen ca. 100 geführt. Auch die kassenartenspezifischen Körperschaften wurden auf den GKV-Spitzenverband reduziert (Knieps 2016).

Die Existenz einer zweiten Arena, nämlich der Öffentlichkeit und des Parteienwettbewerbs, ist nur bei wenigen Themen wichtig, da sich die Öffentlichkeit für einen großen Teil der gesundheitspolitischen Themen kaum interessiert bzw. diese Details der Öffentlichkeit kaum vermittelbar sind. Eine repräsentative Untersuchung hat etwa gezeigt, dass es nur bei ausgewählten Finanzierungsfragen einer Mehrheit der Wahlberechtigen gelingt, parteipolitische Positionen richtig zuzuordnen (Bandelow et al. 2015).

Der letzte Bereich der informellen Netzwerke verdeutlicht vor allem das Potenzial strategischer Einflussnahme einzelner Akteurgruppen. Im Gesundheitswesen basiert der Einfluss individueller Personen oft auf der Anerkennung der fachlichen Kompetenz durch andere gesundheitspolitische Akteure. Teilweise wird diese Kompetenz formal zugesprochen, etwa wenn Medizinerinnen und Mediziner den Status der Kollegin bzw. des Kollegen als zentral für einen Austausch auf Augenhöhe annehmen. Neben der formalen Ausbildung ist es oft aber auch die Kenntnis von Prozessen und Personen, auf der politisches Kapital beruht. Hier zahlt sich langjährige Zugehörigkeit zu dem Politikfeld aus. Fachliche Kompetenz wird dabei einerseits von anderen Akteuren bewertet und andererseits auch von den Medien. Letzteres wird etwa deutlich, wenn der aktuell im Gesundheitswesen ohne formale Position agierende SPD-Politiker Karl Lauterbach immer noch der Hauptansprechpartner für viele Medienformate ist, während seine Nachfolgerinnen in der SPD-Fraktion medial kaum in Erscheinung treten können (Schneider u. Feistner-Schneider 2020, S. 276). Der Überblick zeigt, dass es eine Vielfalt gegensätzlicher und starker Interessengruppen gibt, die neue Reforminitiativen blockieren können.

Es gibt eine Vielfalt gegensätzlicher und starker Interessengruppen, die neue Reforminitiativen blockieren können.

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