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Blockadepotenzial im Föderalismus
ОглавлениеDie spezifische Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union (EU), Bund, Ländern und Kommunen kann Herausforderungen für einen gesundheitspolitischen Neustart bedeuten. Um dies zu verdeutlichen, gehen wir kurz auf die zentralen Kompetenzen und Bedeutungen dieser vier politischen Ebenen ein.
Die EU ist in der Gesundheitspolitik weit weniger einflussreich als etwa in der Umweltschutz- oder Verbraucherpolitik. Formal ist sie vor allem im Bereich der Arzneimittelzulassung bedeutsam. Für den Bereich der Krankenversicherungspolitik im engeren Sinn ist die EU nur indirekt relevant. Diese indirekte Bedeutung entsteht dann, wenn der Binnenmarkt nicht nur ein Recht auf Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen in verschiedenen Mitgliedsstaaten begründet, sondern so auch indirekt zu einer Angleichung der Leistungskataloge beiträgt (Urban 2003).
Die wichtigste Ebene für die Steuerung der GKV ist der Bund. Die formale Gesetzgebung in Deutschland unterliegt komplexen Prozessen, in denen das Bundeskabinett, Bundestagsfraktionen und der Bundesrat jeweils ein Initiativrecht für Gesetze besitzen. Ein Gesetzentwurf durchläuft im Anschluss mehrere Lesungen in Bundestag und Bundesrat, bevor es verabschiedet und im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wird.
Für die Formulierung und – nicht zuletzt – Umsetzung von gesundheitspolitischen Reformen sind neben Bundesregierung, Parlament (Bundestag) und der Vertretung der Länderregierungen (Bundesrat) auch weitere Akteure, vor allem aus der Selbstverwaltung relevant. Der Bundesrat ist formal an der Entstehung jedes Gesetzes beteiligt, hat oft aber nur beratende bzw. aufschiebende Funktion. In der Gesundheitspolitik sind insbesondere die Krankenhauspolitik, aber auch bestimmte Krankenkassenreformen zustimmungspflichtig. Faktisch wurden allerdings fast alle Gesundheitsreformen der letzten Jahre zustimmungsfrei konzipiert (Bandelow et al. 2020).
Die Bundeskompetenz basiert vor allem darauf, dass das Sozialversicherungsrecht und damit auch das Krankenversicherungsrecht unter die konkurrierende Gesetzgebung fallen (Art. 74 [1]). Faktisch ist das zuständige Fachministerium vor allem durch die Ausarbeitung der meisten Gesetzesentwürfe und dessen Einbringung über das Kabinett in den Gesetzgebungsprozess der zentrale Akteur der Gesundheitspolitik. Mittelfristig wird die Politik der Bundesregierung vor allem vom jeweiligen Koalitionsvertrag bestimmt, der systematisch abzuarbeiten ist. Neben dem Koalitionsvertrag können kurzfristig aktuelle Ereignisse zu Entscheidungen führen und Schwerpunktsetzungen der Ressorts erfolgen.
Deutlich weniger im Zentrum der Gesetzgebung als die Regierung steht in der Praxis der Bundestag mit dem federführenden Ausschuss für Gesundheit. Der Einfluss dieses Ausschusses der jeweiligen gesundheitspolitischen Sprecherinnen und Sprecher der dort vertretenen Fraktionen und auch der einschlägig verantwortlichen Mitglieder der Fraktionsvorstände hängt stark von der individuellen Reputation ab. Insofern ist der Bundestagsausschuss für Gesundheit kein kontinuierlich zentraler Akteur in der deutschen Gesundheitspolitik, sondern tritt nur selektiv und situativ maßgeblich bei Gesetzgebungsprozessen in Erscheinung. Formal liegt die Rolle des Bundestags teilweise darin, auf Wunsch der Regierung Gesetzentwürfe einzubringen, um deren Verabschiedung zu beschleunigen. In der Praxis sind die Einflüsse des Bundestages auf die Gesetzgebung im Einzelfall ohne detaillierte Prozesskenntnis schwer zu erkennen, da auch während der Beratungen des Bundestagsausschusses teilweise Änderungsvorschläge aus der Bundesregierung oder von Landesregierungen über den Bundestagsausschuss eingebracht werden. Dies kann dazu führen, dass in Gesetze zusätzliche Elemente eingefügt werden, die inhaltlich nicht auf das ursprüngliche Gesetzesthema bezogen sind (Omnibusgesetzgebung) (Paquet u. Rüsenberg 2019).
Auch die Umsetzung von Bundesgesetzen obliegt teilweise dem Bund, hier insbesondere dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) als oberster Bundesbehörde und den Bundesoberbehörden wie etwa dem Robert-Koch-Institut. Außerdem kommt dem Bund die Aufsicht über alle bundesweiten und in mehr als zwei Bundesländern vertretenen Körperschaften im Gesundheitswesen (insbesondere die Krankenkassen) zu. Zu den formalen Bundeskompetenzen gehören auch die Gebührenordnungen für Ärzte und Zahnärzte (GOÄ und GOZ).
Die wichtigste Kompetenz der Länder liegt in der Beteiligung an der Gesetzgebung des Bundes über den Bundesrat. Im Bundesrat finden sich verschiedene Konfliktlinien. In allen 16 Ländern gibt es Koalitionsregierungen, aktuell mit sehr unterschiedlichen Konstellationen. Die klassische Konfliktlinie zwischen den SPD-geführten A-Ländern und den unionsgeführten B-Ländern hat auch dadurch an Bedeutung verloren.
Andere Konfliktlinien betreffen reichere und ärmere Länder, teilweise Ostländer und Westländer, Stadtstaaten und Flächenstaaten und Länder mit spezifischen gesundheitsrelevanten Industrie- oder Forschungsstandorten gegen Länder ohne diese Standorte. Eigenständige Kompetenzen haben die Länder vor allem in den Bereichen Krankenhausplanung, Notfallversorgung, Präventionspolitik, öffentlicher Gesundheitsdienst und Psychiatrie. In diesen Bereichen koordinieren sich die Länder über die Gesundheitsministerkonferenz. Dabei kann den verantwortlichen (koordinierenden) Landesministerien eine zentrale Rolle zukommen, wenn die federführenden Landesministerien die Gesundheitspolitik einzelner Parteien wesentlich koordinieren; dies ist umso mehr der Fall, wenn in den Landesministerien einflussreiche Einzelpersonen beteiligt sind.
Die Struktur der für Gesundheit zuständigen Landesministerien ist uneinheitlich. Sie spiegelt unter anderem die Größe der Länder, Traditionen und die inhaltlichen Schwerpunkte der jeweiligen Regierungsparteien wider. In zwölf Bundesländern ist Gesundheit Teil von Sozialministerien. Nur in vier Ländern finden sich Ministerien mit vorherrschender Denomination für Gesundheit. Auch hier ist das Politikfeld aber mit anderen Bereichen verbunden. Dazu gehören mit Arbeit und Wirtschaft teilweise auch Themenfelder, die von anderen großen Ressorts auf Bundesebene verantwortet werden. Auch die interne Ausdifferenzierung und die Größe der jeweiligen Ressorts unterscheidet sich stark (Stand 2020, basierend auf Organigrammen der Landesregierungen).
Die Kommunen sind in das Netz des Öffentlichen Gesundheitsdienstes eingebunden. Ihnen unterstehen kommunale Gesundheitsämter (teilweise unter anderem Namen). Für grundlegende Gesundheitsreformen sind die Kommunen vor allem dann relevant, wenn kommunale Krankenhäuser betroffen sind. Vor der COVID-19-Pandemie war dies vor allem im Kontext um Auseinandersetzungen um Schließungen und Umwidmungen relevant. Diese wurden oft von den verantwortlichen Kommunen abgelehnt. Die Kommunen sind keine eigenständige Entscheidungsebene im deutschen Föderalismus, sondern faktisch an die Vorgaben der jeweiligen Bundesländer gebunden (Kuhnt 2019).