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Lehren aus der Reformgeschichte
ОглавлениеDie Strukturen und Akteurskonstellationen des Politikfelds Gesundheit sind einem ständigen Wandel unterworfen. Rückblickend ist es daher sinnvoll, unterschiedliche Phasen zu differenzieren, die jeweils spezifische Blockaden und Reformpotenziale besonders verdeutlichen. Neben dem unmittelbaren analytischen Ertrag eines solchen Rückblicks ist die Reformhistorie für zukünftige Reformen relevant, weil sie das kollektive Gedächtnis der führenden Akteure des Politikfelds prägt.
Abbildung 2 bietet einen Überblick über die wichtigsten Ereignisse und gesundheitspolitischen Phasen seit 1949. Die Übersicht verdeutlicht den besonderen Einfluss externer Schocks (rot). Sie zeigt außerdem die wichtigsten Ereignisse und Reformelemente.
Abb. 2 Zeitstrahl der gesundheitspolitischen Phasen seit 1949
Die erste Phase der deutschen Gesundheitspolitik lässt sich vor allem dadurch charakterisieren, dass nach 1949 das Politikfeld Gesundheitspolitik als eigenständiges Handlungsfeld mit ausdifferenzierten Institutionen und spezialisierten Akteuren noch nicht vorhanden war. Die Krankenversicherungspolitik war institutionell dem Arbeitsministerium zugeordnet. Ein großer Teil der Gesundheitspolitik bis Mitte der 1970er-Jahre war inhaltlich wenig konflikthaft. In dieser Phase erfolgte der schrittweise Aufbau der umfassenden gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch die Erweiterung des versicherten Personenkreises und die Ausweitung der kollektiv finanzierten Leistungen. Angesichts der guten wirtschaftlichen Entwicklung war dieser Ausbau in den meisten Jahren wenig umstritten. Es gab nur situativ Blockaden.
In der zweiten Phase Mitte der 1970er-Jahre änderten sich die Voraussetzungen der deutschen Gesundheitspolitik grundlegend. Dies betrifft einerseits die wachsende Bedeutung von spezialisierten Akteuren und spezifischen gesundheitspolitischen Institutionen, die zur „Strukturbildung“ des Politikfelds Gesundheit beigetragen haben (Döhler u. Manow 1997). Für die gesundheitspolitische Auseinandersetzung war gleichzeitig die neue Akteurskonstellation zentral. In dieser Phase bildeten sich zwei recht stabile gegensätzliche ideologische Koalitionen heraus, die dem Konzept der Advocacy-Koalitionen aus der politischen Prozessforschung entsprechen (Sabatier 1998). Zwischen 1977 und 1989 kam es zu einer Reihe von Kostendämpfungsgesetzen (K-Gesetzen), die angesichts des grundlegenden Gegensatzes der politischen Ziele kaum grundlegende Strukturreformen umfassten. Da die Ergebnisse der 1977 einberufenen Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen weder im Hinblick auf Kostendämpfung noch im Hinblick auf Solidaritätssteigerung nachhaltig waren, wurde 1987 die Enquete-Kommission Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung einberufen.
In der dritten Phase eröffnete sich nach der deutschen Einheit auch in der Gesundheitspolitik ein Reformfenster. der Gesundheitspolitik. Die Phase war geprägt von programmatischen Gruppen und phasenweiser Überwindung ideologischer Blockaden.
Diese Reformen waren in der Regel das Ergebnis von übergreifenden Kompromissen zwischen der christlich-liberalen Bundesregierung und der Mehrheit der SPD-geführten Länder im Bundesrat. Auch die grundlegendste Gesundheitsreform der bundesdeutschen Geschichte, das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG), folgt diesem Muster. Das GSG entstand nach einer vergleichsweise kurzen Verhandlung zwischen CDU, CSU, FDP und SPD mit bewusster Minimierung des Einflusses von Interessengruppen.
Zentrales Merkmal der vierten Phase waren die dauerhaften Überschüsse der GKV, die mit einer geringen öffentlichen Aufmerksamkeit für Gesundheitspolitik verbunden waren. Nachdem in der Folge der Rezessionserwartungen nach der Finanzkrise mit dem AMNOG und weiteren frühen Reformen der damaligen christlich-liberalen Koalition eine nachhaltige Finanzierung der GKV gesichert werden konnte, waren die 2010er-Jahre von geringer struktureller Reformintensität geprägt. Besonders kennzeichnend waren die Pluralisierung und Fragmentierung der Interessen bei gleichzeitig geringem Problemdruck. Trotz der zuletzt beeindruckenden Vielzahl von Einzelgesetzen ist aus struktureller Perspektive diese Phase eher durch Stabilität als durch Wandel gekennzeichnet.