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Die Corona-Krise als Agenda-Setter
ОглавлениеWährend die Corona-Krise einige der vor der Pandemie diskutierten gesundheitspolitischen Reformen verlangsamt und andere beschleunigt, hat sie auch neue Themen auf die Agenda gesetzt, die zuvor eher im Hintergrund der gesundheitspolitischen Debatte angesiedelt waren. Sie kann damit zu einem gesundheitspolitischen Neustart beitragen, indem sie bisher nicht identifizierte Probleme des Gesundheitswesens aufdeckt und deren Adressierung durch die zukünftige Gesundheitspolitik antreibt. Dabei lassen sich institutionelle Herausforderungen von inhaltlichen unterscheiden, die durch die Corona-Pandemie neue Sichtbarkeit erlangt haben.
Als Konsequenz aus diesen Erfahrungen führt die Corona-Pandemie zu einer chancenreichen Diskussion der Verteilung von Bund-Länder-Kompetenzen und Kompetenzen zwischen den einzelnen Ressorts, hier vor allem zwischen dem Innen- und dem Gesundheitsministerium. Die Ressortierungen auf Bundesebene sind dabei auch abhängig von parteipolitischen Konstellationen. So zeigt die Forschung einen Zusammenhang zwischen den von Koalitionsparteien besetzten Ministerien mit den in ihren Wahlprogrammen salienten Themen (Bäck et al. 2011). Wie die Neustrukturierung des Senats in Hamburg nach der Bürgerschaftswahl im Februar 2020 und vor allem die nachfolgende Regierungsbildung gezeigt hat, sind die Gesundheitsressorts auf Bundes- und Landesebene keinesfalls unveränderlich. Der inhaltliche Zuschnitt der Ministerien ist mitunter auch von Personen abhängig. So hat das Innenministerium unter Horst Seehofer an Kompetenzen hinzugewonnen. Als Nachfolge von Spahn im Gesundheitsministerium lässt sich je nach parteipolitischer Konstellation der Koalitionsregierung eine stärkere Katastrophenschutz-Orientierung vorstellen, etwa im Sinne eines Ressorts, das auch die parteipolitischen Ziele der Partei Bündnis 90/Die Grünen – Klimaschutz, Gesundheitsprävention – umfasst.
Inhaltlich setzt die Corona-Krise vor allem mit den Themen Prävention und Public Health neue Bereiche auf die Agenda. In der bisherigen Gesundheitspolitik spielten diese Felder kaum eine Rolle. Die Halbzeitbilanz der Bundesregierung enthält Anfang 2020 noch ein Plädoyer für mehr ressortübergreifende Präventionsorientierung (Kolpatzik u. Schneider 2020). Auch unter dem Stichwort Patientenorientierung haben sich in den letzten Jahren viele Reforminitiativen versammelt, die eine stärkere Sicht auf die Nutzer des Gesundheitswesens vorantreiben. Die Corona-Pandemie rückt diese Themen stärker ins Blickfeld. Vor allem die Vorbereitung auf Krisen und soziale Gerechtigkeit werden als zentrale Determinanten eines effizienten Managements von Gesundheitskrisen eingestuft (Ahmed et al. 2020; Pollack 2020). Darunter lässt sich auch die Initiative „Neustart! Reformwerkstatt für unser Gesundheitswesen“ der Robert Bosch Stiftung fassen. Eine Optimierung von Public Health und Prävention beinhaltet eine Stärkung von Solidarität im Dreieckskonflikt mit Wachstum und Finanzierbarkeit, der bereits im zweiten Kapitel für das Gesundheitswesen aufgezeigt wurde.
Die Fragen von Public Health und Prävention sind somit gleichzeitig auch mit Finanzierungsstrukturen verbunden und mit der Herausforderung der Messung von qualitativ hochwertiger Prävention. Die Kosten-Nutzen-Bewertung bei Präventionsmaßnahmen, die zukünftige Krankheiten verhindern bzw. die Behandlungskosten durch Früherkennung senken, ist schwer in Verhältnis zu setzen mit den Behandlungskosten, die bei einer fehlenden Prävention höher wären, aber die Präventionsmaßnahmen nicht finanzieren müssten. Solche Fragen stellen auch das getrennte Krankenversicherungssystem zur Disposition und könnten ein Fenster für die Bürgerversicherung öffnen. Die Finanzierungsproblematik wird aber auch an anderen Stellen deutlich, von der Pflegeversicherung (und der Vergütung von Pflegeleistungen) bis hin zu den sinkenden Einnahmen bei steigenden Ausgaben von Krankenkassen. Auch hier eröffnen sich mögliche Reformwege, diese Herausforderungen zu lösen, etwa durch Initiativen, die nicht nur das Angebot, sondern auch die Nachfrage nach Pflegeleistungen steuern möchten und damit verbunden mehr Präventionsmaßnahmen fordern (Rott 2020).
Während das Wachstumsziel in der Reformperiode unter dem Zeichen von Wettbewerb in einer solidarischen Rahmenordnung der Vereinbarkeit der Ziele Solidarität und Finanzierbarkeit weichen konnte, rückt es aktuell stärker auf die gesundheitspolitische Agenda. Zur Ausdehnung des Umsatzes auf dem Gesundheitsmarkt hat Jens Spahn bereits vor der Corona-Pandemie beigetragen, etwa durch die Herausrechnung der Pflegekosten aus den Fallpauschalen in der Krankenhausvergütung, die ein erster Schritt dahingehend sind, das Pflegepersonal stärker am ökonomischen Erfolg der Gesundheitseinrichtungen teilhaben zu lassen. Zweitens ist auch die Verpflichtung zum Abbau der Krankenkassenrücklagen ein Anreiz für erhöhte Umsätze, auch im Hinblick auf mögliche Präventionsleistungen. Drittens hat sich als Resultat der Corona-Krise auch die Forderung nach einer Rückholung der Arzneimittelproduktion nach Europa erhoben. Das bereits vor der Corona-Krise präsente Thema der Arzneimittellieferengpässe wurde durch die Pandemie noch verstärkt, u.a. weil viele Wirkstoffhersteller mittlerweile in China und Indien sitzen. Eine Verlagerung dieser Produktion an europäische Standorte wird auch mit Kostensteigerungen verbunden sein, da die Produktionskosten in Europa erfahrungsgemäß höher sind als in Asien.
Zusätzlich zu diesen inhaltlichen Schwerpunkten stellt sich durch die Corona-Krise die Frage nach der angemessenen Integration von Evidenz und Expertenwissen in den politischen Prozess. In Zeiten großer Unsicherheit in Bezug auf die Gründe und Auswirkungen bestimmter Phänomene vor allem im fachwissenschaftlichen Bereich, wobei Infektionskrankheiten und Klimaveränderungen nur Beispiele bilden, ist die systematische Einbeziehung von Forschungsergebnissen in politische Entscheidungen gewinnbringend. Gleichzeitig muss aber auch reflektiert werden, dass wissenschaftliche Erkenntnisse Teil von Prozessen sind, die in andere Systeme eingebettet sind als das politische System und dadurch anderen Systemlogiken folgen. Vor allem die Kommunikation von wissenschaftlichen Ergebnissen ist im Wissenschaftssystem anders und wird von den jeweiligen Rezipienten anders verstanden, als das im gesellschaftlichen oder politischen System der Fall ist. Die Corona-Pandemie hat hier die Herausforderung verdeutlicht, die die Kommunikation politischer Entscheidungen im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen mit sich bringt.
Zwar erleichtert eine Evidenzbasierung von Maßnahmen kurzfristig die Legitimation gegenüber der Bevölkerung. Langfristig kann sie jedoch potenziell das Vertrauen in die Regierung schwächen, wenn Maßnahmen kontinuierlich an den aktuellen Stand der Forschung angepasst werden und somit teilweise widersprüchlich und kontraintuitiv sind. Hier bedarf es eines ausgearbeiteten Konzepts der Wissenschaftskommunikation, um den unterschiedlichen Systemlogiken Rechnung zu tragen und der Bevölkerung eine transparente und begründete Grundlage für politische Entscheidungen zu liefern.
Zudem löst die naturwissenschaftliche Expertise der Virologie, Epidemiologie und Medizin schrittweise die bisher dominierenden ökonomischen und wirtschaftswissenschaftlichen Perspektiven im Gesundheitswesen ab. Diese Entwicklung wird nicht nur positiv gesehen. Verschiedene Akteure im Gesundheitswesen fordern in Thesenpapieren die systematischere Einbindung von Verhaltenspsychologie, Kognitionswissenschaften, Public Health, Soziologie, Ökonomie, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft in gesundheitspolitische Entscheidungen (Schrappe 2021). In der Corona-Pandemie dominierten wenige Virologen als Experten für die öffentliche Kommunikation und die Beratung von politischen Entscheidungsträgern. Inwiefern sich diese Entwicklung nach der akuten Corona-Zeit fortsetzen wird, bleibt abzuwarten.