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Die Corona-Krise als Reformpotenzial
ОглавлениеAbgesehen von den sich unmittelbar durch die Krise zeigenden Vorteilen des deutschen Gesundheitssystems, deren Reform in der Folge zurückgestellt wurde, hat die Corona-Krise auch bisher bekannte Nachteile des Systems verstärkt sichtbar gemacht und den diskutierten Reformvorschlägen zur Verbesserung dieser Strukturen Aufwind gegeben. Während der Corona-Krise wurden in der ersten Jahreshälfte von 2020 im Wesentlichen zwei Arten von Maßnahmen durch das BMG verabschiedet. Einerseits dienten die Gesetze und Verordnungen einer effektiven Bekämpfung der Corona-Pandemie und hatten einen direkten Bezug zu Corona (etwa im Bereich der Organisation und Finanzierung von Tests auf das Virus). Darunter fällt auch die Ausweitung der Bundeskompetenzen, die zwar krisenbedingt begründet wurde, aber auch langfristige Wirkmechanismen in Richtung einer zunehmenden Zentralisierung und Stärkung von staatlichen Kompetenzen in der Gesundheitspolitik haben kann. Erste Anzeichen dafür zeigen sich bspw. in der erneuten Diskussion um die Beteiligung des BMG an der Methodenbewertung im G-BA.
Der Pflegebonus kann nur als ein erster Schritt Richtung Reformen in der Pflegepolitik gesehen werden.
Andererseits zielen einige Maßnahmen auch auf eine langfristige Perspektive zur möglichen Umstrukturierung des Gesundheitswesens, bspw. im Bereich der Trennung zwischen GKV und PKV sowie der Krankenhaus- und Pflegepolitik, ab. Die während der Corona-Pandemie verabschiedeten Maßnahmen beinhalteten bspw. eine Berücksichtigung von finanziell betroffenen PKV-Versicherten, denen ein Tarifwechsel innerhalb der PKV erleichtert wurde. Die Krankenhaus- und Pflegepolitik stand besonders im Fokus, da sich die Behandlung der schweren COVID-19-Fälle ausschließlich in Krankenhäusern vollzog und hier u.a. die Debatte um die angemessene Zahl an Intensivbetten und Kapazitäten sowohl von Kliniken als auch von Personal erneut entfacht hat. Der einmalige Pflegebonus kann hier nur als ein erster Schritt in Richtung tiefgreifender Reformen in der Pflegepolitik, vor allem in Bezug auf die Vergütung von Pflegepersonal gesehen werden.
Für die großen Reformbereiche (Digitalisierung, Strukturen integrierter Versorgung, Krankenkassenstrukturen und Vergütungen, Arzneimittel und Apotheken, Pflegepolitik), für die die Corona-Krise ein Treiber sein kann, ist als erster Politikbereich die Digitalisierung des Gesundheitswesens zu nennen. Die KBV hat an dieser Stelle nicht nur die rechtlichen Auflagen für Videosprechstunden gelockert, sondern auch die Motivation für ärztliches Personal und behandelte Menschen gefördert, Kommunikation zur Förderung von Sicherheit zu digitalisieren. Die Einbettung digitalisierter Lösungen in die ambulante Versorgung bietet darüber hinaus auch besonderen Schutz vor Ansteckungsgefahr etwa in niedergelassenen Arztpraxen und ermöglicht eine flexiblere und effizientere Organisation von Basisuntersuchungen mithilfe von Fernbehandlungen und Videosprechstunden.
Im Bereich der integrierten Versorgung wurden im Zuge der Corona-Krise bestehende Instrumente ausgeweitet, darunter vor allem die Selektivverträge. Die Neuerungen ermöglichen es den Krankenkassen, auch gemeinsam Selektivverträge abzuschließen oder bestehenden beizutreten sowie diese Verträge auch mit Leistungserbringern zu vereinbaren, die nicht Teil der vertragsärztlichen Versorgung sind. Darüber hinaus gilt unmittelbar in der Krise die Krankenhauspolitik als große Gewinnerin (Paquet 2020). Durch das COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz wurde den Krankenhäusern eine pauschale Entlastung für zwischen März und Oktober verschobene Operationen zugesichert sowie zusätzlich eine Vergütung für zur Verfügung gestellte Intensivbetten gewährt. Auch langfristige Maßnahmen wurden verabschiedet: Im Konjunkturpaket der Bundesregierung vom 3. Juni 2020 werden in einem „Zukunftsprogramm Krankenhäuser“ 3 Milliarden Euro für Krankenhäuser bereitgestellt, die damit Notfallstrukturen verbessern und Digitalisierung fördern können.
Die Corona-Krise könnte als Reformtreiber in Richtung einer Bürgerversicherung wirken.
Die Krankenkassenstrukturen und Vergütungen stehen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vor allem im Hinblick auf die Kostenübernahme von Tests, Schutzausrüstungen und Medizinprodukten im Fokus. Kritik an der Politik der Bundesregierung gab es hier unter anderem deshalb, weil für die Finanzierung der Tests von PKV-Versicherten auch GKV-Ressourcen herangezogen werden. Die Trennung des PKV- und GKV-Systems ist durch die Corona-Krise verstärkt sichtbar geworden und hat neben unmittelbaren Finanzierungsfragen auch Mitglieder- und Strukturfragen aufgeworfen. So erleichterte bereits das erste Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite den Tarifwechsel innerhalb der PKV aufgrund finanzieller Probleme bei den Versicherten. Die Tarifunterschiede und gegensätzlichen Orientierungen an Solidar- bzw. Äquivalenzprinzipen stehen damit erneut im Blickfeld. Die Corona-Krise könnte hier als Reformtreiber in Richtung einer Bürgerversicherung wirken.
Darüber hinaus ist zu befürchten, dass die Finanzierung von gesetzlichen Krankenkassen zunehmend instabil wird, da durch die Corona-Krise bedingte Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und Einnahmeneinbußen aufseiten der Arbeitnehmer und Versicherten die Beitragsfinanzierung der GKV auf weniger stabile Einkünfte setzen kann, als vor der Krise geplant. Nicht zuletzt deshalb erwarten die gesundheitspolitischen Akteure, darunter vor allem die Krankenkassen, für die nächsten Jahre Kostendämpfungsgesetze, wie sie seit den 2000er-Jahren faktisch nicht mehr notwendig waren (Hornung u. Bandelow 2020a). In diesem Zusammenhang wird wiederum eine stärkere Rolle für die Steuerfinanzierung der GKV diskutiert, was dem Bund möglicherweise mehr Mitspracherecht bei den Ausgabenentscheidungen der GKV einräumen könnte und vor allem die Rolle des Finanzministeriums stärken würde. In Bezug auf die Ausgabenpolitik haben die vor der Krise intensiv diskutierten Vergütungsformen für die Ärzteschaft an Sichtbarkeit verloren. Obwohl die Ärzte sich in der Corona-Krise ebenfalls als wichtige Säule für die Bekämpfung und Eindämmung des Virus erwiesen haben, stehen sie bei den nun diskutierten Reformen nicht im Mittelpunkt und die Pandemie bietet hier auch kein begünstigendes Reformpotenzial. Gleiches gilt für die ambulanten Pflegekräfte, die im Vergleich zu den stationären Pflegekräften in der Pandemie nahezu unsichtbar waren.
Arzneimittellieferengpässe galten auch vor der Corona-Krise bereits als ein von den gesundheitspolitischen Akteuren identifizierter Reformbedarf. Die Corona-Krise hat dieses Problem noch verschärft. Da die Arzneimittelproduktion, aber auch die Produktion von Schutzkleidung, überwiegend nach Asien verlagert wurde, kam es während der Hochphase der ersten Welle der Pandemie zu Lieferengpässen. Im Ergebnis plant die Politik eine Rückholung der Produktion nach Deutschland und Europa, idealerweise im Rahmen eines europäischen Projekts (Hermann u. Wienands 2021). Der Konflikt mit der EU-Kommission um das Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ist in den Hintergrund gerückt. Stattdessen hat die Corona-Pandemie Botendienste und deren angemessene Vergütung beeinflusst sowie die Abgabe von alternativen Arzneimitteln ermöglicht, wenn das Präparat des Rabattvertrags nicht verfügbar ist. Mit der Eil-Verordnung zur Arzneimittelversorgung wurde damit verbunden auch der Sicherstellungsauftrag der Vertreiber (v.a. Apotheken) und Hersteller in der Bereitstellung der für eine Epidemie nationaler Tragweite versorgungsrelevanten Produkte des medizinischen Bedarfs gestärkt. Hier gibt es Potenziale für eine gestärkte Flexibilisierung von Strukturen (Grunenberg u. Bäumler 2021).
Nicht zuletzt wurden durch die Corona-Pandemie erneut die Arbeitsbedingungen und Lohnverhältnisse des Pflegepersonals deutlich, was auch zu einem verstärkten Verständnis für die Situation des Pflegepersonals seitens der Bevölkerung geführt hat. Neben den Vergütungen hat sich auch die Situation der Pflegekapazitäten verschärft. Bilder von der Corona-Situation in Italien haben an dieser Stelle ein Worst-Case-Szenario gezeigt, wie es aus unzureichenden Behandlungskapazitäten resultierten kann. Dies betrifft neben der Personalknappheit auch die Strukturen integrierter Versorgung. In der Anfangsphase der Corona-Krise wurde die relativ hohe Krankenhausbettendichte in Deutschland, die zuvor immer als Schwäche bezeichnet wurde, als Stärke aufgefasst. Obwohl das Gesundheitswesen bisher nicht an seine Auslastungsgrenzen gekommen ist, gab es starke Belastungen des Pflegepersonals in Krankenhäusern. Eine künftige Pflegereform muss deshalb darauf zielen, sowohl die Finanzierung als auch die Bereitstellung und Kapazitäten von Pflegeleistungen, die miteinander korrelieren, zu gewährleisten.