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Schriftauslegung im Alten und im Neuen Testament
ОглавлениеDie von Christ*innen als Altes Testament bezeichnete Heilige Schrift Israels verdankt sich selbst und bezeugt einen intensiven Prozess der Schriftauslegung. Sie selbst ist in gewisser Weise geronnene und ab einem bestimmten Zeitpunkt dann auch kanonisierte Schriftauslegung. Die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift verdanken sich in ihrer überlieferten Gestalt selbst und in ihrer Wechselbeziehung untereinander einem komplexen Wachstumsprozess, der sich maßgeblich als Auslegung der Schrift bzw. des in der Schrift bezeugten und bewahrten Willens Gottes versteht. Biblische Bücher sind weithin als Fortschreibungsliteratur zu entziffern und zu verstehen. Dies lässt sich exemplarisch an den beiden Chronikbüchern aufzeigen, die als auslegende (!) Nacherzählungen der Samuel- und Königsbücher verstanden werden können – mit eigenen Interpretationsinteressen und mit Blick auf die aktuelle Gegenwartsrelevanz. Dabei sind diese Fortschreibungen mit Jan Christian Gertz als „situationsbedingte Explikationen des vorgefundenen Sinngehalts“ (GERTZ 2014: 21–24) zu verstehen. Gertz schlussfolgert zu RechtRecht: „In diesem Sinne sind das Alte Testament und seine Schriften nicht nur normativer Text, sondern Text und Auslegung in einem, womit die Notwendigkeit und Dynamik der Auslegung schon in der Schrift selbst angelegt ist und ein biblizistisches oder historistisches Festlegen auf den einen Textsinn weder biblisch noch historisch ist“ (GERTZ 2014: 25).
Martin Buber, der jüdische Theologe und Übersetzer des ↗︎ TanachTanach, hat dieses Verständnis prägnant formuliert:
„Die hebräische Bibel will als Ein Buch gelesen werden, so dass keiner ihrer Teile in sich geschlossen bleibt, vielmehr jeder auf jeden zu offen gehalten wird; sie will ihrem Leser als Ein Buch in solcher Intensität gegenwärtig werden, dass er beim Lesen oder Rezitieren einer gewichtigen Stelle die auf sie beziehbaren, insbesondere die ihr sprachidentischen, sprachnahen oder sprachverwandten erinnert und sie alle einander erleuchten und erläutern, sich miteinander zu einer Sinneinheit, zu einem nicht ausdrücklich gelehrten, sondern dem Wort immanenten, aus seinen Bezügen und Entsprechungen hervortauchenden Theologumenon zusammenschließen. Das ist nicht eine von der Auslegung nachträglich geübte Verknüpfung, sondern unter dem Wirken dieses Prinzips ist eben der KanonKanon, kanonisch entstanden, und man darf mit Fug vermuten, dass es für die Auswahl des Aufgenommenen, für die Wahl zwischen verschiedenen Fassungen mitbestimmend gewesen ist.“ (BUBER 1962: 3).
Die VerkündigungVerkündigung Jesu, wie sie sich in den vier neutestamentlichen Evangelien spiegelt, die ersten Bot*innen der Auferstehung Jesu von den Toten, Paulus und seine missionarische Bewegung sowie durchgehend alle neutestamentlichen Autor*innen stehen in einer fundamentalen Kontinuität zum GlaubenGlaube Israels, wie er sich im ↗︎ TanachTanach und den frühjüdischen Schriften niederschlägt. Diese Kontinuität bezieht sich insbesondere
auf den monotheistischen GlaubenGlaube an die Einzigkeit Gottes,
die Erwählung Israels und den irreversiblen Bundesschluss mit dem erwählten Volk,
die Gültigkeit der Verheißungen Gottes für sein Volk Israel und die ganze SchöpfungSchöpfung, Geschöpf,
die Anerkennung der Schriften Israels als Heilige Schrift und
die Geltung der ethischen Forderungen der ToraTora.
Am Beispiel der ↗︎ ToraTora lässt sich die Kontinuität der Begründung des ethisch Gebotenen in Gottes Heilshandeln klar aufzeigen: In den Schriften des ↗︎ TanachTanach werden die sozialen Gebote an Gott, seinen Willen, sein Wort, sein Handeln an Israel zurückgebunden. Das gilt für den Dekalog insgesamt (vgl. Ex 20,1–21Ex20,1–21; Dtn 5,1–22Dtn5,1–22), das gilt ebenso für den besonderen Schutz der Alten, WitwenWitwen und WaisenWaisen, der Armen, Schutzbürger*innen und AusländerAusländer*innen sowie für die Wirtschaftsgesetze (Zinsverbot, Schuldenerlass, Eigentum).
Die neutestamentliche Botschaft von Jesus, dem Christus, ist fundamental in die Matrix bzw. das theologische Koordinatensystem der Heiligen Schrift Israels eingeschrieben. Bei aller Unterschiedlichkeit der konkreten Schriftrezeption und -auslegung bei Paulus, in den Evangelien und den weiteren neutestamentlichen Schriften zeigt sich doch ein hoher Konsens im Blick auf diese unablösbare Verwurzelung der christlichen VerkündigungVerkündigung in der Verheißungs- und Heilsgeschichte Israels. Gerade die neuere bibelwissenschaftliche Forschung zeigt auf, in welch hohem Maße sich die neutestamentlichen Autor*innen selbst als versierte Schriftkundige zu erkennen geben. Das gilt für Paulus in einem exponierten Sinn, das gilt ebenso für die Evangelisten und die weiteren neutestamentlichen Zeugnisse. Dabei gilt:
„Deutlich ist damit, dass die ganze Jesus-Geschichte, nicht nur Einzelzüge oder einzelne Worte bzw. Taten Jesu, von der ganzen Schrift her, nicht nur von einzelnen Schriftstellen, verstanden werden soll.“ (NIEBUHR 2014: 62).
Auf dieser Basis sind alle Denkschablonen, die von einer wie auch immer gearteten grundlegenden Diskontinuität zwischen Altem und Neuem Testament ausgehen, zurückzuweisen. Diese Denkschablonen haben nicht nur antijüdische, nicht selten antisemitische Auslegungen hervorgerufen bzw. haben sich für diese in DienstDienst nehmen lassen. Sie sind auch im Blick auf die konkrete Auslegung der neutestamentlichen Texte unangemessen, schlicht falsch. Insbesondere das Vorurteil, die alttestamentliche ↗︎ EthikEthik sei ausschließlich auf die eigene Ethnie bezogen, wohingegen erst die neutestamentliche Ethik – getrieben vom Doppelgebot der LiebeLiebe – universalistisch sei, ist keine textkonforme Auslegung und daher zurückzuweisen (→ 2.4 Ansätze biblischer Ethik).