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Schrifttexte und ihre Sinnkarriere
ОглавлениеSo sehr mit der KanonisierungKanonisierung einer Schrift bzw. eines Schriftkorpus als Heiliger Schrift einer Glaubensgemeinschaft der Verschriftlichungsprozess einen normativen Abschluss gefunden hat, die je neue Rezeption dieser normativen Schrift unter veränderten sozialen, kulturellen, politischen, geistesgeschichtlichen oder individuellen Bedingungen lässt sich in Analogie zu schriftlichen Fortschreibungsprozessen deuten. Hier hat die Rezeptionsästhetik zu ihrer Aufgabe gefunden. Die Rezeptionsästhetik reflektiert auf die gedankliche und im weitesten Sinne ästhetische Wahrnehmung von Schrifttexten bzw. künstlerischen Werken und stellt die Frage: Wieweit ist die Wahrnehmung und das Verstehen eines literarischen bzw. künstlerischen Gegenstandes bereits im Gegenstand selbst angelegt bzw. wieweit entstehen Wahrnehmung und Verstehen erst im Prozess der Rezeption? Der konsequente Konstruktivismus verlagert alles Verstehen ausschließlich in die Konstruktionsleistung des jeweiligen Subjekts. Zutreffender und zielführender ist es jedoch, mit einer dynamischen Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt zu rechnen. Von einer solchen auf die Leser- oder Hörer*innen zielenden Dynamik biblischer Texte spricht Paul Ricœur:
„Diese Welt des Textes regt den Leser, den Hörer an, sich selbst angesichts des Textes zu verstehen und, in Imagination und Sympathie, das Selbst, das fähig ist, diese Welt zu bewohnen, indem es darin seine eigenen Möglichkeiten entfaltet, zu entwickeln.“ (RICŒUR 1981: 73)
Zu dem sich hier öffnenden hermeneutischen Zirkel merkt Ricoeur programmatisch an:
„Ich werde mich kühn im Zirkel halten, in der Hoffnung, dass mir durch die Übertragung des Textes auf das Leben das, was ich riskiere, unter den Formen eines Zuwachses an Verständnis, Wachsamkeit und Freude hundertfach zurückgegeben wird.“ (RICŒUR 1981: 46)