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6 Muslimische Reformbewegungen der Gegenwart
ОглавлениеDie soeben genannten Rahmenbedingungen für die Entwicklung muslimischer Gesellschaften in Afrika änderten sich weder in der Kolonialzeit noch in der Postkolonialzeit wesentlich. Bedeutender für den gesellschaftlichen, politischen und religiösen Wandel waren die Bemühungen der Muslime, eigenständige Wege in der kolonialen und postkolonialen Moderne zu finden und zu gehen. Diese Bemühungen führten im 20. Jahrhundert zu zahlreichen Konflikten zwischen etablierten religiösen und politischen Autoritäten und muslimischen Reformern und zum Entstehen einer neuen Generation von Salafi-orientierten Reformbewegungen seit den 1970er und 1980er Jahren.36 Im Kontext dieser Entwicklungen mussten sich muslimische Reformer immer wieder gegenüber den etablierten Gelehrten positionieren. Damit wurde eine Dialektik inner-muslimischer religiöser Auseinandersetzungen begründet, die auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgetragen wurden und dabei erneut die Besonderheiten des lokalen Kontextes widerspiegelten. Diese Tatsache erklärt, warum es sich bei Konflikten im postkolonialen Afrika nicht nur um Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen handelt, sondern auch um inner-muslimische Konflikte um Fragen der religiösen Deutungshoheit und des gesellschaftlichen Einflusses. In diesen Konflikten standen sich häufig muslimische Reformer unterschiedlicher couleur gegenüber.
Bei der Betrachtung muslimischer Reformbewegungen im subsaharischen Afrika ist zunächst zu beachten, dass »Reform«37 auch im subsaharischen Afrika auf einer langen Tradition reformerischer Bemühungen beruht, die im 18. und 19. Jahrhundert beispielsweise in den Dschihad-Bewegungen von Usman dan Fodio oder al-Ḥāǧǧ ʿUmar Taal im westafrikanischen Sahel- und Sudanraums ihren Ausdruck fanden. Die historischen Reformbewegungen waren in der Regel mit Sufi-Bruderschaften verbunden, meist Qādirīya und Tiǧānīya, und beschrieben ihre Reformbemühungen in der Regel mit dem arabischen Begriff taǧdīd (Erneuerung). Im 20. Jahrhundert traten neben diese Sufi-orientierten Reformbewegungen, neue, Salafi-orientierte38 Reformer, die ihre Reformbemühungen mit dem arabischen Begriff iṣlāḥ (Reinigung) beschrieben. Diese iṣlāḥ- oder salafi-orientierten Reformbewegungen kritisierten – wie auch in Nordafrika oder in Ägypten – populäre Bräuche und Glaubenspraktiken als »unislamische Neuerungen« (bidaʿ, sg. bidʿa). Sie propagierten eine stärker literalistische Lesart der heiligen Texte und einen ausgeprägten »anti-iconic turn«: Sie kritisierten Formen der Heiligenverehrung bis hin zur völligen Ablehnung des Sufismus in all seinen Ausprägungen, die Wallfahrten (ziyārāt) und Prozessionen zu den lokalen Heiligtümern und Heiligengräbern, die Rituale und Festlichkeiten der Sufis, besonders ihre Meditationspraktiken (ḏikr), die Feier des Prophetengeburtstages (maulid an-nabī) und die damit verbundenen Festlichkeiten. Darüber hinaus zeichneten sich die muslimischen Reformbewegungen durch assoziative (vereinsähnliche) Organisationsformen und neue Konzepte von moderner islamischer Bildung aus. Muslimische Reformbewegungen hatten jedoch nicht überall den gleichen Erfolg. Es stellt sich daher die Frage, wie sich der unterschiedliche Erfolg Salafi-orientierter Reformbewegungen im subsaharischen Afrika erklären lässt. Ich werde diese Frage im Folgenden am Beispiel von drei regionalen Kontexten (Senegal, Nordnigeria und die ostafrikanische Küste) diskutieren und dabei erneut auf die Bedeutung des lokalen Rahmens verweisen.
Senegal (nördlich des Gambia) hatte seit der Mitte des 19. Jahrhundert zumindest zwei größere Reformschübe zu verzeichnen, die allerdings von unterschiedlicher gesellschaftlicher Tragweite waren: Zum einen die Dschihad-Bewegungen der 1850–1880er Jahre, die sich gegen die etablierten Feudalfürstentümer der Wolof und Sereer wandten und die überwiegend von religiösen Gelehrten geführt wurden, die mit der Sufi-Bruderschaft der Tiǧānīya verbunden waren. Angesichts des Vordringens der französischen Kolonialmacht waren diese Dschihad-Bewegungen letztendlich nicht in der Lage, dauerhafte neue gesellschaftliche und politische Strukturen aufzubauen. Erst im Jahre 1953 entstand unter der Führung von Cheikh Touré (gest. 2005) mit der »Union Culturelle Musulmane« (UCM) eine iṣlāḥ-orientierte Reformbewegung. Die UCM zeichnete sich durch ihre Ablehnung der Sufi-Bruderschaften und volksreligiöser Praktiken aus und bezog sich dabei auf die in Senegal mächtigen Führer (Marabouts) der Tiǧānīya und der Muriden. Ebenso setzte sich die UCM für die baldige Unabhängigkeit des Landes ein, während sich die führenden Vertreter der Sufi-Bruderschaften mit der Ausnahme von Ibrāhīm Niass (Tiǧānīya) und Cheikh Aḥmad Mbakke (Muriden) gegen eine rasche oder gar sofortige Unabhängigkeit aussprachen. In den 1960er und 1970er Jahren wurde die UCM politisch gleichgeschaltet und erst seit dem Ende der 1970er Jahre entwickelte sich eine zweite Generation iṣlāḥ-orientierter Reformgruppierungen wie die Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān oder die ḥarakat al-Falāḥ, welche die Forderungen der UCM aufgriffen und weiterführten. Die iṣlāḥ-orientierten Reformer traten für neue moderne Formen islamischer Erziehung ein, betonten die Bedeutung der Grundlagen der Religion (uṣūl ad-dīn), vor allem Koran und Sunna des Propheten, unterstützten aber auch die Übersetzung arabischer heiliger Texte in die lokalen Verkehrssprachen und in das Französische und predigten in Wolof oder Fulfulde. Sie bedienten sich der Möglichkeiten moderner Medien, waren vor allem in den städtischen Ballungsräumen präsent und setzten sich für die Integration der Jugendlichen und Frauen in »islamische« Sozial- und Bildungsprogramme ein.
Bereits im frühen 20. Jahrhundert waren aber auch unter den Sufi-Bruderschaften Reformströmungen entstanden, die sich für die Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Umbruchsituation der Kolonialzeit einsetzten. In den ländlichen Regionen entwickelte sich so die Sufi-Bruderschaft der Muriden unter der Führung von Scheich Aḥmad Bamba zu einer sozial-religiösen Bewegung, die es verstand, die Bauern der Region Baol in religiös-ökonomischen Kooperationsverbünden zu organisieren und an sich zu binden. Ähnliches gelang der Tiǧānīya in der Region Saloum unter der Führung der Niass-Familie. Die führenden Marabouts der Muriden wie Aḥmad Bamba und der Tiǧānīya wie al-Ḥāǧǧ Malik Sy, ʿAbdallāh Niass oder Ibrāhīm Niass waren so maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich die Muriden und die Tiǧānīya im Senegal des 20. Jahrhunderts zu religiösen Massenbewegungen entwickelten. Diese Massenbewegungen zeichneten sich durch ihr starkes und religiös sanktioniertes Engagement in der modernen Kolonialwirtschaft (Erdnuß-Produktion) aus. Im Lauf der Zeit wurden sie zentrale Stützen des kolonialen und später auch postkolonialen Staates. In religiöser Hinsicht verwiesen die Führer der Muriden und der Tiǧānīya auf die Notwendigkeit der Umsetzung der Normen des islamischen Rechts im Alltagsleben. Daneben betonten sowohl die Führer der Muriden wie der Tiǧānīya bestimmte Aspekte des Rituals.39 Seit den frühen 1980er Jahren entwickelte sich aus den Kreisen der Sufi-Bruderschaften eine Reihe neuer religiöser Massenbewegungen wie die Dāʾirat al-Mustaršidīn wa-l-Mustaršidāt (DMM) für die Tiǧānīya oder die Hizbu Tarkhiya (eigentlich: Ḥizb at-tarqīya, die »Partei des Fortschritts«) für die Muriden, die zum einen Inhalte und Organisationsformen der UCM und ihrer Nachfolgeorganisationen aufgriffen, zum anderen aber auch die Öffnung der Sufi-Bruderschaften für eine globalisierte Moderne propagierten und sich dabei für neue Bildungskonzepte sowie für die Interessen der Jugend und der Frauen einsetzten. Der Erfolg dieser taǧdīd-orientierten Reforminitiativen innerhalb der Sufi-Bruderschaften in Senegal erklärt, warum die iṣlāḥ-orientierte Reformbewegung in Senegal bislang keine größere Breitenwirkung entfalten konnte, wenngleich die Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān in den städtischen Zentren einige Anhänger gewinnen konnte.40
Während im Senegal des 19. Jahrhunderts die etablierte Gesellschaftsordnung zerbrach, bevor sich ein islamisches Emirat bilden konnte, kam es in den Hausakönigreichen des heutigen Nordnigeria zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu der von Usman dan Fodio geführten Dschihad-Bewegung, die zwischen 1804 und 1808 zur Etablierung des sogenannten Sokoto-Kalifats führte.41 Trotz der Niederlage des Sokoto-Kalifats gegen die Briten im Jahre 1903 bestimmt das religiös-politische Erbe des Kalifats die Gedankenwelt der Muslime Nordnigerias bis heute. Dies gilt insbesondere für die beiden großen Sufi-Bruderschaften, Qādirīya und Tiǧānīya. Die Qādirīya und die Tiǧānīya sind freilich im 20. Jahrhundert in rivalisierende Familiennetzwerke zerfallen, aus denen wiederum einige taǧdīd-orientierte Reformgruppierungen hervorgegangen sind, die von Ibrāhīm Niass (gest. 1975, Tiǧānīya) und Nasiru Kabara (gest. 1996, Qādirīya) geführt wurden. Dabei beriefen sich die Reformer innerhalb der Qādirīya vor allem auf das Erbe des Sokoto-Kalifats, während sich die Reformer innerhalb der Tiǧānīya auf das Erbe des mit der Tiǧānīya verbundenen Dschihad-Führers al-Ḥāǧǧ ʿUmar Taal bezogen. Die Reformbemühungen von Ibrāhīm Niass und Nasiru Kabara waren seit den 1950er Jahren von der Öffnung des Rituals und der Popularisierung der esoterischen Lehren der Bruderschaften gekennzeichnet. Die Öffnung des Rituals wurde symbolisch untermauert durch die Einführung neuer ritueller Elemente (qabḍ statt sadl bei der Tiǧānīya, der bandiri-ḏikr und der maukib ʿAbd al-Qādir bei der Qādirīya),42 mit denen sich die Reformer der Tiǧānīya und der Qādirīya von den etablierten Gelehrten beider Bruderschaften abgrenzten.
Seit dem Ende der 1970er Jahre hat sich aber auch in Nordnigeria eine Salafi-orientierte Reformbewegung entwickelt, die, wie die Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān in Senegal, assoziativ verfasst ist, die die Übersetzung der heiligen Texte in die Vernakularsprachen, insbesondere das Hausa, propagiert, neue Bildungsmodelle vertritt und sich für die Integration der Jugendlichen und Frauen in islamische Sozialprogramme ausspricht. Diese sozialrevolutionäre aber politisch konservative Reformbewegung ist die Ǧamāʿat Izālat al-bidʿa wa-iqāmat as-sunna (Hausa: Yan Izala). Wie die Union Culturelle Musulmane in Senegal so wandten sich auch die Yan Izala gegen die bidaʿ der Sufi-Bruderschaften. Die Yan Izala betrieben jedoch überaus erfolgreich den weitflächigen Ausbau eines modernen islamischen Bildungswesens, das sich gezielt den muslimischen Frauen öffnete. Sie bekämpften zudem die in der Hausagesellschaft Nordnigerias verbreiteten und kostenintensiven Traditionen sozialen Schenkens, etwa im Kontext von Eheschließungen, und sie waren bereit, die Rebellion der Jugend und der muslimischen Frauen gegen die Autorität der etablierten religiösen Gelehrten zu unterstützen.43 Die sozialpolitischen Bemühungen der Yan Izala erklären, warum sich diese Reformbewegung in Nordnigeria – in Gegensatz zur Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān in Senegal seit den 1970er Jahren zu einer religiösen Massenbewegung entwickeln konnte.
In Gegensatz zu Nordnigeria und Senegal kannte die ostafrikanische Küste im 19. Jahrhundert keine Tradition der radikalen Reform, etwa in Gestalt eines Dschihads. Vielmehr kam es unter der Vorherrschaft des Sultanats Oman, das seit 1840 von Sansibar aus regiert wurde, in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Reihe von taǧdīd-orientierten Reforminitiativen, die mit Gelehrten der Sufi-Bruderschaften der Qādirīya und der ʿAlawīya verbunden waren. Führende Gelehrte der ʿAlawīya (wie Aḥmad b. Sumaiṭ oder ʿAbdallāh Bā Kaṯīr al-Kindī) und der Qādirīya (wie Muḥammad Uwais al-Barāwī und ʿAbd al-ʿAzīz b. ʿAbd al-Ġānī al-Amawī) setzten sich dabei für die Öffnung des Rituals ein und betonten dies symbolisch mit der Propagierung neuer ritueller Praktiken wie der Feier des Prophetengeburtstages (maulid) für die ʿAlawīya und neuer Formen des ḏikr bei der Qādirīya. Einige Gelehrte der ʿAlawīya bemühten sich zudem um die Entwicklung neuer Formen islamischer Bildung, die an entsprechenden Reformschritten im jemenitischen Hadramaut orientiert waren.44
Die Genese einer iṣlāḥ-orientierten islamischen Reformbewegung an der ostafrikanischen Küste begann in der frühen Kolonialzeit. Insbesondere in Sansibar gab es im späten 19. Jahrhundert eine arabophone Gelehrtenschicht, die direkt mit den Zentren der islamischen Welt verbunden war. Mehrere Gelehrte aus Sansibar waren Ende des 19. Jahrhunderts in Istanbul, im Ḥiǧāz und in Kairo und hatten den ägyptischen Reformer Muḥammad ʿAbduh persönlich getroffen und lasen die wichtigste Zeitschrift der arabischen Reformer, al-Manār. Ab 1910 gab es aber auch eine erste reformistische Organisation namens Ḥizb al-iṣlāḥ, die von Nāṣir b. Sulaimān al-Lamkī und Nāṣir b. Sālim ar-Ruwāḥī begründet worden war.45 Zunächst blieben die Bemühungen der Ḥizb al-iṣlāḥ aber auf die arabophone Intelligenzia beschränkt, die sich weniger zur kolonialen Beherrschung Ostafrikas als vielmehr zu Fragen kolonialer Bildungspolitik äußerte und dabei vor allem die Pflege der arabischen Sprache forderte.
Seit den 1930er Jahren entwickelte sich an der ostafrikanische Küste eine zweite Generation iṣlāḥ-orientierter Reformer, die sich unter der Führung von Scheich al-Amīn b. ʿAlī al-Mazrūʿī (gest. 1947) und ʿAbdallāh Ṣāliḥ al-Farsī (gest. 1982) stärker an die muslimische Öffentlichkeit wandte, etwa in Gestalt der 1932 publizierten Zeitung al-iṣlāḥ oder mit der Übersetzung arabischer heiliger Texte, insbesondere des Koran, ins Kiswahili. Die Vertreter der zweiten Generation iṣlāḥ-orientierter Reformer kooperierten jedoch eng mit der Kolonialmacht: Scheich al-Amīn b. ʿAlī al-Mazrūʿī war von 1937 der Chief Qāḍī Kenyas und ʿAbdallāh Ṣāliḥ al-Farsī arbeitete seit 1934 als Lehrer und Schulinspektor in den Diensten der britischen Protektoratsmacht in Sansibar.46
Die Gegenwart Ostafrikas ist geprägt von einem Spektrum muslimischer Reformer, die häufig ob ihrer ausgeprägten Agitation gegen die »unislamischen Neuerungen« (bidaʿ) der Sufi-Bruderschaften als watu wa bidaa (Leute der bidaʿ) bezeichnet werden, obwohl sie sich selbst als Anṣār as-sunna bezeichnen, und damit ihre Ablehnung all derjenigen religiösen Strömungen unter den Muslimen Ostafrikas deutlich machen, die sich nicht ihrer spezifischen Interpretation der Sunna verbunden fühlen. Wie die jüngeren Reformströmungen in Nordnigeria und in Senegal stehen die Anṣār as-sunna Ostafrikas für eine Popularisierung des arabischen Texte-Kanons in Kiswahili, für neue Formen islamischer Bildung und die Integration von Jugendlichen und Frauen in islamisch gefasste gesellschaftliche Programme. Sie sind politisch radikal und attackieren den von »Christen« (insbesondere der katholischen Kirche) kontrollierten Staat (Tansania), setzen sich aber auch mit den evangelikalen Kirchen auseinander, die, ähnlich wie in Nordnigeria, als eine besondere Bedrohung der Muslime gesehen werden. Im Gegensatz zu den Yan Izala in Nigeria oder selbst zur Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān in Senegal haben die gegenwärtigen muslimischen Reformer an der ostafrikanischen Küste bislang aber kein umfassendes soziales Reformprogramm entwickelt.47
Der historisch variierende take-off der iṣlāḥ-orientierten Reformbewegungen im subsaharischen Afrika und ihr ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Erfolg kann nur vor dem Hintergrund unterschiedlicher lokaler Kontexte verstanden werden: Weder in Senegal noch in Nigeria noch an der ostafrikanischen Küste gab es vergleichbare politische und gesellschaftliche Strukturen oder vergleichbare historische Erfahrungen. Die besonderen sozialen und politischen Rahmenbedingungen eines Landes, historische Fragmentierungen, wirtschaftliche Krisen und Umbrüche förderten somit entsprechende Dynamiken gesellschaftlicher Entwicklung und bedingten die Entwicklung und Ausformung eines bestimmten Typus von Reform als auch den Zeitpunkt des take-off einer iṣlāḥ-orientierten Reformbewegung. Im Kontext dieser Entwicklungen mussten sich muslimische Reformer immer wieder gegenüber den etablierten Gelehrten positionieren. Damit wurde eine Dialektik religiöser Auseinandersetzungen begründet, die auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgetragen wurden und dabei erneut die Besonderheiten des lokalen Kontextes spiegelten. Dies galt auch und insbesondere für die Frage, unter welchen spezifischen Bedingungen iṣlāḥ-orientierte Reformbewegungen Rückhalt in der Bevölkerung erlangen konnten. Die Beispiele Nordnigeria, Senegal und Ostafrika haben gezeigt, dass iṣlāḥ-orientierte Reformbewegungen nur dann religiöse Massenbewegungen werden konnten, wenn es ihnen gelang, über ihre theologisch-dogmatische Botschaft hinaus ein überzeugendes soziales Programm zu entwickeln. Die Salafi-orientierten Gruppierungen an der ostafrikanischen Küste waren hierzu bislang nicht in der Lage, die Ǧamāʿat ʿibād ar-Raḥmān in Senegal nur ansatzweise, die Yan Izala in Nordnigeria hingegen sehr wohl. Bemerkenswerterweise gab es aber sowohl in Nordnigeria wie in Tansania immer wieder Zeiten, in welchen Salafi-orientierte Reformbewegungen bereit waren, sich gemeinsam mit Sufi-orientierten Gruppierungen gegen die vorgebliche Vormacht christlicher Kirchen (insbesondere Pfingstkirchen) oder den »von Christen dominierten Staat« zu stellen. Vergleichbare inner-muslimische »ökumenische« Bestrebungen sind typisch für Länder, in welchen die Muslime keine eindeutige Mehrheit der Bevölkerung stellen, sie sind hingegen unbekannt in Ländern wie Senegal, in welchen die Christen eine klare Minderheit (und somit keine politische Bedrohung der Muslime) darstellen.