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3 Gespaltene islamische Öffentlichkeit

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Neben der etablierten muslimischen Öffentlichkeit, die aus Deobandis, Barelwis, Ahl-e Hadith, Aligarhis und Nadwis sowie Schiiten und zahlreichen lokalen und volksreligiösen Gruppierungen bestand, drängte sich nun eine Reihe neuer, ganz verschiedener Vereinigungen in den Vordergrund – chiliastische, quietistische, faschistoide, islamistische, säkularistische, traditionalistische und modernistische, die hier natürlich nicht alle beschrieben werden können. Die Gemengelage forderte zunächst die Bildung7

• der millenarischen Aḥmadiyya unter Führung ihres charismatischen Führers Ghulam Ahmad (1835–1908) aus Qadian/Ost-Punjab. Durch seine Selbsterklärung zum Propheten zog er den Zorn der Orthodoxen und vieler Intellektueller auf sich, obschon seine häretischen Ideen – er widersprach dem Gedanken des Siegels der Propheten, Muhammad – weite Verbreitung fanden. Ein eigenes muslimisches Territorium hatten Ahmadis allerdings (noch) nicht im Sinn.8

• Im Gegensatz zum Hadith-Fundamentalismus der Ahl-e Hadith standen die Ahl-e Quran für einen koranischen Skriptualismus. Sie stellten die Validität der aus der Sunna hervorgegangen Normen und Praktiken in Frage. Ähnlich wie die Ahmadis erklärten sie den Koran als einzige gültige Quelle islamischer Normativität. Daher forderte ʿAbd Allah Chakralawi (gest. 1930) auch eine intra-textuelle Koraninterpretation (Tarjumat al-Qurʾan bi Āyāt al-Furqan; 1906).9

• Es brauchte eine Weile, bis sich eine weitere populäre Bewegung 1927 konstituierte: Die heute einflussreiche »Missionsgemeinschaft« (Tablighi Jamaʿat).10 Die Strategien und Aufforderungen zu moralischem Handeln dieses Deobandi-Zweiges aus der Region bei Delhi (Mewat) wurden bald vom »Rat der Gelehrten« (Nadwat al-Ulama) übernommen und weiterverwandt. Ihren quietistischen Charakter drückte der Begründer wie folgt aus:

Die Ziele der modernen politischen Autorität und des Islam decken sich nicht, und wenn der Islam als Glaubensform irgendeinen Fortschritt machen sollte, müsste er von der Politik getrennt werden.

• Mit dem Ende der Kalifatsbewegung stieg auch der in Europa promovierte und für seine persische Dichtung bekannte Dichterphilosoph Muhammad Iqbal (1873–1938) auf die politische Bühne. Er begann damit, Prinzipen einer ontologischen Dynamik zu politisieren und auf die Notwendigkeit muslimischer Autonomie in Südasien hinzuweisen. Ihm gemäß war Geschichte evolutionär und musste ethisch interpretiert werden. Anlässlich der Jahresversammlung der Muslim Liga Ende Dezember 1930 formulierte er erstmals die Idee eines »consolidated North Western Muslim State«:11

… der Islam ist […] der wichtigste formative Faktor in der Lebensgeschichte der Muslime Indiens gewesen [... und] hat sie in ein wohl definiertes Volk geformt. [...] die muslimische Gesellschaft, mit ihrer bemerkenswerten Homogenität und inneren Einheit, [ist] unter dem Druck der unlösbar zur Kultur des Islam gehörigen Gesetze und Institutionen zu dem geworden […], was sie ist. [...] Ist es möglich, den Islam als ethisches Ideal beizubehalten und ihn als Regierungsform zugunsten nationaler Herrschaftsformen, in denen die religiöse Haltung keinerlei Rolle spielen darf, aufzugeben? Diese Frage wird ganz besonders wichtig in Indien, wo die Muslime in der Minderheit sind. [...] Ich möchte [daher] den Pandschab, die nordwestliche Grenzprovinz, Sindh und Baluchistan in einen einzigen Staat verschmolzen sehen. […] die Bildung eines konsolidierten nordwest-indischen muslimischen Staates scheint mir die endliche Bestimmung der Muslime, zumindest derer in Nordwest-Indien, zu sein […] Ich fordere daher die Bildung eines konsolidierten muslimischen Staates im besten Interesse Indiens und des Islam. Für Indien bedeutet dies Sicherheit und Frieden, die sich aus einem inneren Kräfteverhältnis ergeben, für den Islam ist es eine Gelegenheit, sich von dem Stempel des arabischen Imperialismus zu befreien, um sein Recht, seine Bildung, seine Kultur zu mobilisieren und ihn enger mit seinem eigenen ursprünglichen Geist und dem Geist der Neuzeit in Kontakt zu bringen. Damit ist klar, dass mit Blick auf Indiens unendliche Vielfalt an Klimata, Rassen, Sprachen, Religionen und Gesellschaftssystemen die Schaffung autonomer Staaten, die sich auf die Einheit von Sprache, Rasse, Geschichte, Religion und Gleichheit der wirtschaftlichen Interessen gründet, der einzig mögliche Weg ist, eine stabile verfassungsmäßige Struktur in Indien zu schaffen.

Ganz offenbar hatte sich die Gemengelage zwischen Muslimen und Hindus dermaßen zugespitzt, dass die Rede von einem unabhängigen muslimischen Territorium immer lauter wurde, und zwar zunächst in der Region der nord-westlichen muslimischen Mehrheitsregionen. Östliche muslimische Mehrheitsregionen – Bengalen – waren hier noch gar nicht benannt. Allerdings wurde die Rede zu einem Meilenstein im Kampf um einen unabhängigen Staat, obwohl ihr Text eher die Frustration städtischer Berufsgruppen im Punjab zum Ausdruck zu bringen schien als ein gut durchdachtes Schema. Deshalb schenkte ihm die Muslim Liga anfangs auch nicht viel Aufmerksamkeit. Außerdem konnte sich nur eine kleine Zahl dieser Gruppierungen für einen muslimischen Staat erwärmen, nicht aber folgende Kräfte:

• eine der Aḥmadiyya vergleichbar gewaltlose aber anti-koloniale Vereinigung pakhtunischer Stämme im Nordwesten unter Leitung ʿAbd al-Ghaffar Khans (1890–1988). Seine »Gottesdiener« (Khudaʿi Khidmatgar) – auch »Rothemden« genannt – sympathisierten mit den Methoden und Inhalten Gandhis (daher wurde Ghaffar Khan auch Frontier Gandhi genannt), und lehnten daher Iqbals Idee vom »consolidated North Western Muslim State« ab.12

• 1931, kurz nachdem Iqbal seine Idee verkündet hatte, gründete der Naturwissenschaftler ʿInayat Allah Khan al-Mashriqi (1888–1963) im Punjab die para-militärische Vereinigung der »Demütigen« (Khaksar). Auch er lehnte die Zusammenarbeit mit Muslim Liga (s. u.), Islamgelehrten und Sufis ab. Stattdessen strebte er eine unabhängige totalitäre islamische Regierung in Gesamt-Indien an, die sich von Demokratie und Kommunismus gleichermaßen abgrenzte. Ideologisch und institutionell orientierte er sich an den deutschen Nationalsozialisten. Obgleich er mystische Inhalte ablehnte, nutzte er sufische Ordnungsprinzipien, um weite Bevölkerungskreise anzusprechen. Während der Weltwirtschaftskrise gelang es al-Mashriqi in kürzester Zeit, städtische Kleinhändler sowie Binnenmigranten zusammenzuführen.13

• Auch die Islamgelehrten unterstrichen nochmals ihre Position, als der Deobandi Husain Ahmad Madani 1938 in einer Debatte mit Iqbal den territorialen Nationalismus für Muslime ablehnte und stattdessen einen »gemeinsamen/zusammengesetzten Nationalismus« (muttahida qawmiyyat) vertrat; d. h. Muslime würden in einem gemeinsamen Territorium eine religiöse Vereinigung unter mehreren konstituieren:

Mit zusammengesetztem Nationalismus meine ich hier einen ›Nationalismus‹, dessen Grundlage der Prophet Muhammad in Medina gelegt hat. Das heißt, dass das indische Volk als Inder, als eine Nation (trotz religiöser und kultureller Vielfalt) vereint, eine solide Nation werden und Krieg gegen die fremde Macht führen sollte, die deren natürliche Rechte an sich gerissen hat. Es ist für jeden Inder verpflichtend, gegen solch ein barbarisches Regime anzukämpfen und die Fesseln der Sklaverei abzulegen. Es ist (dabei) wichtig, sich nicht in die Religion eines anderen einzumischen – vielmehr ist es allen in Indien lebenden Nationen (Gemeinschaften) freigestellt, ihre Religion auszuüben, nach ihren moralischen Werten zu leben und gemäß ihren religiösen Traditionen zu handeln: Während sie Frieden und Ruhe bewahren, sollten sie ihre jeweilige Ideologie verbreiten und ihrer Kultur folgen, die Zivilisation fördern und ihr Personenstandsrecht schützen. Weder sollte sich eine Minderheit in die persönlichen Angelegenheiten anderer Minderheiten oder der Mehrheit einmischen, noch sollte die Mehrheit danach streben, die Minderheit zu assimilieren. Dies ist es, was (auch) der indische Nationalkongress seit seiner Gründung anstrebt.14

Das Konzept eines gemeinsamen, zusammengesetzten Nationalismus, der die Zusammenarbeit mit Polytheisten vorsah, war einmalig in der islamischen Ideengeschichte.

• Ebenfalls in den dreißiger Jahren formulierte Abu al-Aʿla al-Maududi (1903–1979) aus Aurangabad im Dekkan seine staatspolitischen Ideen, die bald großen Einfluss auch auf die arabische Welt ausübten und z. B. von den Muslimbrüdern rezipiert wurden. Ähnlich wie die Deobandische »Vereinigung der Gelehrten Indiens« (JUH) lehnte auch Maududi die Idee Muhammad Iqbals von einem muslimischen Staat ab; aber auch die Idee von einem gemeinsamen Nationalismus war ihm nicht geheuer. Er begann stattdessen, den politischen Diskurs der Nationalisten zu islamisieren: Muslime stellten keine Nation dar. Vielmehr sollte die Partei Gottes als Agent oder Repräsentant (Kalifen) auf Erden wirken. Voraussetzung dafür sei eine Selbstreinigung oder Wiedergeburt (in diesem Punkt entsprach er den Postulaten früherer Pietisten). Ende der dreißiger Jahre war er überzeugt davon, dass die Verfechter der Schaffung eines Staates für Muslime – wie ihn Iqbal vorsichtig formuliert hatte – nicht den Idealen eines guten Muslims entsprachen und daher auch keinen islamischen Staat herstellen könnten. Zur Umsetzung seiner Ideen gründete Maududi 1941 die »Islamische Gemeinschaft« (Jamaʿat-e Islami) und postulierte bald die Idee von der Souveränität Gottes auf Erden in einer universalen, ideologisch-islamischen Nation. Diese imaginierte Nation versuchte er ab 1947 in Pakistan verfassungsmäßig durchzusetzen (s. u.), wohin er und der Großteil seiner »Gemeinschaft« nach der Teilung Indiens schließlich auswanderten.15 Seither hat seine »Gemeinschaft« an Einfluss gewonnen, hauptsächlich unter jungen Intellektuellen und in der Mittelschicht.

• Die Schia war gespalten zwischen den traditionellen Gelehrten mit Zentrum in Lucknow und neuen gesellschaftlichen Formationen sowie Gutsherren. Die Schaffung einer einheitlichen schiitischen Gemeinschaft (qaum) wurde besonders für die All India Shiʿa Conference bedeutsam, nicht zuletzt weil die koloniale Volkszählung Schiiten nicht als separate Einheit anerkannte. Auf dem Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten während der Tabarra-Agitation in Lucknow 1938–39 begannen Schiiten vermehrt darüber nachzudenken, ob sie die hinduistische Mehrheit in Indien zugunsten eines sunnitisch dominierten Pakistans verlassen sollten. Nicht nur zeigte sich Jinnah (s. u.) gegenüber der Wahrung schiitischer Rechte in einem muslimischen Territorium indifferent. Auch träumten Pakistan-freundliche Deobandis von einer Inkarnation der vier »rechtgeleiteten Kalifen«. Während schiitische Gelehrte aus Lucknow die Muslim Liga als sunnitisch unterwandert betrachteten und an der Idee eines zusammengesetzten Nationalismus festhielten, unterstützten schiitische Magnaten und Unternehmer die Liga, da sie für sich eine glänzende Zukunft im neuen muslimischen Territorium wähnten. Politisch mobilisierend wirkte die traditionelle schiitische Semantik; ähnlich wie 1857 wurde die Märtyrologie um die Ereignisse von Karbala besungen. Der Groß-Ayatullah aus Lucknow, ʿAli Naqi Naqwi (1905–1988), entwickelte eine Husainologie, die den Sohn ʿAlis und Enkel Muhammads zum politischen und sozialen Paradigma stilisierte:

im ›säkularen‹ Indien [...] ist dieses Opfer [von Husain] eine Richtschnur für jede Sekte und regionale Gemeinschaft (qawm); selbst wenn sie ›säkular‹ sind, können die Inder nicht aus ihrer [besonderen] Sekte und regionalen Gemeinschaft austreten. Deshalb gleicht das Gedenken an das Opfer von Husayn b. ʿAli den Ansprüchen auf ein freies Indien jenen anderen Sekten und regionalen Gemeinschaften ... [Daher] gehört Husain keiner bestimmten Gemeinschaft oder Religion an, sondern zur Menschheit.16

In den späten 1930er Jahren und während der Quit-India Bewegung 1942 wurden die Tugenden eines solchen transkommunalen und transreligiösen Paradigmas angewandt, um Satyagraha (ziviler Ungehorsam) mit Shahada von Husain (Selbstaufopferung) symbolisch zusammenzuführen. Die von überwiegend Zwölfer Schiiten angeführte All India Shiʿa Conference hielt sich im Gegensatz zu den mächtigen Ismaʿilis aber zurück.17

• Die prominenteste der muslimischen Vergemeinschaftungsformen wurde allerdings die Muslim Liga, als sie sich kurz vor der politischen Unabhängigkeit für die Schaffung des souveränen Staates Pakistan einsetzte:

Islam III

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