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Zur Entwicklung der Stadtverfassung und der inneren städtischen Verhältnisse bis zur Rachtung von 1366

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Aufschlussreich für die Einschätzung sowohl der allgemeinen Machtverteilung zwischen den an der Stadtherrschaft beteiligten Kräften als auch speziell für die Entwicklung der jüdischen Gemeinde zu Beginn des 14. Jahrhunderts ist eine im Jahr 1312 getroffene Übereinkunft zwischen Bischof, Domkapitel und Judengemeinde über die Wahl und die Bestätigung des Judenbischofs und des zwölfköpfigen Judenrates. Offenbar war es zu Konflikten mit dem rade der Juden und der Jutscheyt zuo Wormsze gekommen. Daraufhin wurde unter Einbeziehung von Rat und Gemeinde von Worms als Garanten der Einhaltung der Bestimmungen durch ein aus dem Domkantor, einem Ritter und zwei Stadtbürgern gebildetes Gremium – also mit dem Bemühen um eine möglichst breite Absicherung – festgelegt, dass aus der Mitte des zwölfköpfigen Judenrates (der wohl von den Juden selbst gebildet werden sollte) vom Bischof der »Judenbischof« bestimmt wird139. Ratleute und Judenbischof waren anlässlich ihrer Amtsübernahme zu Abgaben und einem Eid gegenüber dem Oberhirten verpflichtet. Die Funktionen des Judenrates bestanden demnach im Richten nach Jutschem Recht gemäß dem Herkommen, also der Regelung der inneren Gemeindeangelegenheiten und der Hoheit über die interne Gerichtsbarkeit. Diese Austarierung der Kräfte hatte lange Zeit Bestand und bildete bis zum Ende des Mittelalters eine dauerhafte Rechtsgrundlage für die Stellung des autonomen Führungsgremiums an der Gemeindespitze.

Anfang 1315 erhielt Worms von König Ludwig dem Bayern eine Reihe von Privilegien bestätigt bzw. neu erteilt, die die enge Bindung an die Reichsspitze in der Tradition der herkömmlichen Beziehungen bekräftigt haben140. Bemerkenswert ist dabei unter anderem eine Anweisung von jährlich 300 Pfund Heller von den Juden für die Stadt als Entschädigung und Anerkennung der städtischen Mühen im Dienste des Herrschers. Die Entwicklung der städtischen Verfassungs- und Herrschaftsverhältnisse ist während des ersten Drittels des Jahrhunderts – im Gegensatz zu den benachbarten Städten141 – offenkundig ruhig und konfliktfrei verlaufen. Die im Jahr 1300 getroffenen Bestimmungen zur Integration der nachrückenden zünftischen Kräfte in das Verfassungsgefüge erwiesen sich viele Jahrzehnte lang als tragfähige Basis der Regelung der Machtbalance innerhalb der Stadt (s.o.). Überlagert wurde diese relative innere Ruhe allerdings von den angedeuteten Konflikten mit Adligen des Umlandes, den Bemühungen um den Landfrieden und dem ab 1330 auch die Stadt erfassenden Konflikt zwischen dem Reichsoberhaupt und der Kurie, die zur Verhängung des Interdikts über die Stadt geführt hat142.

Vor den 1360er Jahren kam es offenbar nur ein einziges Mal, im Jahr 1341, zu einem nicht näher bekannten Verfassungskonflikt, als eine Reihe von Bürgern der Verbannung anheimfiel. Lediglich durch den Bericht der von Ludwig dem Bayern mit einer Untersuchung beauftragten Räte von Speyer und Mainz an den Herrscher erfahren wir, dass in dieser Sache Rat, Sechzehner und »ehrbare Leute« wie auch Hausgenossen und Gemeinde verhört worden seien143. Die genauen Hintergründe sind unklar; die Vermutung, hier habe eine Art Oppositionsbewegung bestanden, ist nicht zu belegen.

Zu einer dramatischen Zuspitzung in der Stadt kam es in den durch Judenpogrome und der Furcht vor der Pest geprägten Jahren 1348/49 auch in Worms. Gut ein Jahr nachdem König Karl IV. der Stadt im Privilegienwege Anfang 1348 die gerichtlichen und nutzbaren Rechte an den Juden sowie ihr gesamtes Hab und Gut bzw. ein Eigentumsrecht daran übertragen hatte144, wurde am 1. März 1349 – wenige Wochen nach einer vergleichbaren Katastrophe in Speyer – ein Pogrom an den Juden verübt, dem offenbar der weit überwiegende Teil der Gemeindemitglieder durch Brand und Totschlag gewaltsam zum Opfer fiel145. Die Memorbücher enthalten die Namen von mehr als 580 Märtyrern. In einem weiteren Privileg Karls IV. vom 29. März 1349 regelte dieser nach der Katastrophe die Entschädigung von Verlusten der Stadt und übertrug dem Rat alles Judengut, das ihm während des Brandes und danach zugefallen war, zudem überließ er alle Häuser und Grundstücke der Juden sowie den gesamten Besitz der Gemeinde; Gleiches wurde für Speyer geregelt. Leider sind die genauen Hintergründe des Geschehens aus den Quellen nicht ersichtlich. Die Bedeutung dieses Ereignisses für die Entwicklung jüdischen Lebens in Worms kann jedoch kaum überschätzt werden. Mit dem Pogrom und dem damit einhergehenden kurzzeitigen und folgenschweren Bruch in der jüdischen Existenz in Worms ging eine fundamentale Verschlechterung rechtlicher Rahmenbedingungen einher, in deren Verlauf die Stadt zwar zur Eigentümerin und Hoheitsinstanz für die Juden wurde, jedoch nie eine wirkliche Monopolisierung der Aufsicht erreichte. Vier Jahre später – 1353 – kam es auch in Worms unter dem Eindruck erheblicher Folgeprobleme der Vertreibung der Juden für die Stadt in besonders betontem Einvernehmen aller städtischen Kräfte146 zu ihrer Wiederaufnahme (haben burgermeister rath und sechzehner gemeiniglich zu Worms mit wißen willen und rath der husgenoßen und der zunft um ihrer nutzen willen mit gewissen beding und conditionibus wieder eingenommen die juden). Der Rat bekundete in einer Verkaufsurkunde vom Mai 1354147, man habe lange Zeit beratschlagt, wie den auf die Stadt zukommenden Ansprüchen entgegengetreten werden könne, und man habe sich dazu entschlossen, die Häuser der Juden zu beschlagnahmen und zu verkaufen (keine andere wege finden, dan daz wir griffen an der Juden husere und die vorkeuften), um somit finanzielle Forderungen abzudecken. Den Juden gelang trotz schwierigster Umstände der Wiederaufbau der früheren Gemeindeeinrichtungen und die erneute Besiedlung ihres traditionellen Siedlungsschwerpunkts in der Judengasse. Im Jahr 1377 lässt eine hebräische Urkunde, in der alle 36 unterzeichnenden Familienvorstände die Zahlung einer Zwangsabgabe an die Stadt bekunden, eine Gemeindegröße von ca. 180 bis 200 Personen erkennen148. Die Gemeinde hatte dabei dauerhaft nicht nur an rechtlichem Spielraum, sondern auch stark an Größe und somit auch Wirtschafts- und Finanzkraft verloren149.

Von dauerhafter Bedeutung für die Verteilung der Gewichte in Recht und Herrschaft der Stadt war die um 1360 abgeschlossene rechtliche Absicherung einer eigenständigen städtischen Gerichtssphäre. Die durch die Einführung eines neuen Gerichtssiegels symbolisierte Gerichtsgewalt des Rates samt dem Schöffengericht förderte potenzielle Konflikte mit dem Bischof150. Um diese Zeit, 1359/60, kam die Stadt erneut unter das Interdikt151, die politische Situation begann sich zu destabilisieren. Erstmals belegen zwei Urkunden aus dem Jahr 1357 den in Umrissen erkennbaren Versuch exponierter Vertreter der städtischen Führungsgruppe und Hausgenossen, der Brüder Richer und Konrad Bonne (burger zuo Wormsze) und Mitglieder seiner zwischen dem 14. und dem 15. Jahrhundert vielfältig aktiven und äußerst einflussreichen Familie mit zahlreichen Verbindungen auch in die Stiftsgeistlichkeit (v.a. von St. Paulus), die Vorrangstellung der alten Familien in der Politik des Rates wiederherzustellen. Dies war gleichbedeutend mit dem Versuch, den steten Machtzuwachs der seit 1300 in der Verfassung verankerten Zunftkräfte, die nun immer selbstverständlicher gemeinsam mit dem Rat agierten bzw. zusammen handelnd hervortreten (in der Urkundenformel hieß es seit etwa 1342 gewöhnlich der rat von Wormße und die sehtzehen), zu bremsen. Die anlässlich der Versöhnung abgefassten Quellen berichten von dem ausdrücklich ausgesprochenen Verzicht auf »Zweiungen, Krieg, Auflauf und Versammlungen«, die offenkundig in der Art einer Familienfehde gegen den Rat inszeniert worden waren152. Die Familie Bonne war während des 13. Jahrhunderts in die Dienstmannschaft des Domkapitels eingetreten, gehörte zu den einflussreichsten Geschlechtern der städtischen Führungsgruppe und bewahrte ihre Vorrangstellung bis in das 15. Jahrhundert. Zahlreiche ihrer Angehörigen traten im Zeitraum von ca. 1320 bis etwas 1440 als Geistliche in den Dienst des von ihnen stark geförderten Paulusstifts und nahmen hier nicht selten vermittelnde Position bei den Konflikten zwischen Rat und Geistlichkeit ein153.

Die erneute Verschärfung der hier angedeuteten Konfliktebene an der Spitze der Stadt, wie sie kurze Zeit später, im Jahr 1360, in den Quellen greifbar wird, ist vor dem Hintergrund erheblicher finanzieller Probleme der Stadt zu sehen. Das Ausmaß der desaströsen Lage in Worms ist an einem im Oktober 1360 beurkundeten Rentenverkauf154 an den Junker Dieter Kämmerer den Jungen durch Anweisung auf das städtische Ungeld für einen Betrag von 400 Pfund zu erkennen, für den ein ungewöhnlich hoher Zins vereinbart wurde; Bürgermeister, Rat und Schöffen haben dazu sogar persönlich für den Fall ausbleibender Zahlungen eine Verpflichtung zum Einlager im Schönauer Klosterhof übernommen. Wiederum nur anhand der von Schiedsleuten aus Mainz und Speyer vermittelten Sühne vom Juli 1360 können wir in Umrissen den Gegenstand der vorangegangenen Konflikte erkennen, einen Streit zwischen Sechzehnern, den Zünften und der Gemeinde samt ihren »Helfern, Freunden und Dienern« zum einen und den Hausgenossen zum anderen155. Der Rat, der um die Mitte des 14. Jahrhunderts (theoretisch) aus 31 Personen bestand, nämlich 15 lebenslänglichen Ratsherren (bürgerliche und ritterliche) und 16 im Wesentlichen durch Selbstergänzung jährlich sich erneuernden Vertretern der Zünfte bzw. der Gemeinde, bleibt interessanterweise unerwähnt. Wiederum hatten offenbar einige Mitglieder der den Hausgenossen zugehörigen Familien und ihre Helfer die gemeinsame Phalanx des städtischen Handelns verlassen und waren dafür aus der Stadt verbannt worden. Konkrete Forderungen der handelnden Personen oder Genaueres über den Ablauf des Geschehens (es wird in den üblichen Worten umschrieben als zweyunge missehelle und kriege) lassen sich nicht erkennen. Die Beteiligten sollen sich unter anderem eidlich gegenseitig zu Hilfe zu Gunsten des Wohls der Stadt verpflichten. Zeitgleich mit diesen Schwierigkeiten für Rat und Sechzehner kam ein Konflikt mit Bischof Dietrich Bayer von Boppard um eine Reihe strittiger Fragen hinzu, der im September des Jahres 1360 im Wege einer von Kaiser Karl IV. gestifteten Sühne einvernehmlich geregelt werden konnte156. Allerdings hielten die friedlichen Zeiten nicht lange an, da es in den Jahren 1365/66 zu ganz erheblichen Verwerfungen in Fragen der Stadtherrschaft und der Verfassung kommen sollte, die im Ergebnis eine neue Einigung aller Seiten über die Ausbalancierung der Macht nach sich gezogen haben. Bereits durch die Erneuerung des Bündnisses der Wormser Stifte im Jahr 1364 wird die Verschärfung des Klimas zwischen Stadt und Klerus deutlich157.

Entscheidend für die Bereitschaft der Stadt, sich auf neue Regelungen für die zentralen Fragen der Ratsbesetzung und der Verteilung von Kompetenzen und Rechten einzulassen, wurde es, dass das auf der Seite des Bischofs stehende Reichsoberhaupt, Kaiser Karl IV., durch sein Hofgericht Worms in die Acht erklärt hatte. Relativ zügig und geräuschlos, jedenfalls ohne erkennbare Konflikte, wurde eine am 25.11.366 abgeschlossene Urkunde vermittelt und besiegelt, die von Pfalzgraf Ruprecht und Vertretern aus Mainz und Speyer eingefädelte sogenannte Vierte Rachtung158. Diese detaillierte Regelung, welche die Stellung des Bischofs, der Geistlichkeit und des Hochstifts gestärkt bzw. deren Interessen in starkem Umfang berücksichtigt hat, wurde zur Grundlage für die städtische Verfassung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts, vor allem hinsichtlich der umstrittenen Frage nach den Rechten des Bischofs bei der Ratswahl; weitere Regelungen erfolgten für die Gerichtsbarkeit und die Frage der Besteuerung. Die Notwendigkeit neuer Festlegungen für die Zusammensetzung und Wahl des Rates ergab sich unter anderem aus der seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts zu beobachtenden Tendenz zur Nichtbesetzung der seit 1233 bestehenden sechs Stellen der ritterlichen Ratsleute. Diese Familien waren vermehrt im regionalen Niederadel aufgegangen und zogen aus der Stadt weg, sodass es immer schwieriger wurde, die 1233 für sie festgelegten sechs Plätze zu besetzen.


Abb. 18: Regelung zentraler Verfassungsfragen in der so genannten Vierten Rachtung, 1366 (StadtA Wo Abt. 1 A I Nr. 195)

Der Bischof erhielt zunächst das Recht auf Einsetzung der ritterlichen Ratsherren, womit er nun alle Stellen des 15-köpfigen Rates besetzen konnte. Dabei durfte er nur solche Ritter wählen, deren Wohnsitz auch in Worms war. Zum Ausgleich seines durch den starken Rückgang des ritterlichen Elements geschwundenen Einflusses auf den Rat erhielt er zusätzlich das Recht zugesprochen, jährlich am Martinstag vier Bürger in den Rat einzusetzen, die ausschließlich von ihm bestimmt werden durften (Bischofsmänner); allerdings mussten von ihnen zwei der Gemeinde angehören. Die Bestimmung der Sechzehner wurde dahingehend geändert, dass der Bischof künftig die Wahl aus 24 (vorher 20) Personen der vier Pfarreien vorzunehmen hatte, die ihm von den vorher amtierenden Sechzehnern vorgeschlagen wurden. Die Sechzehner sollten nun endgültig einen vollwertigen Teil des Gesamtrates bilden. Die Position des Bischofs als Gerichtsherrn wurde bekräftigt, was auf Kosten der städtischen Gerichtsbarkeit und der Rechtssetzungskompetenz des Stadtrates gehen musste. Die Eigenständigkeit des weltlichen Gerichts wurde zwar formal anerkannt, aber gleichzeitig in ihrem Kompetenzbereich eingeschränkt. Dies zeigt zweierlei auf: Der Bischof besitzt eine (zumindest formal) recht starke, im Prinzip rechtlich einklag- bzw. mobilisierbare Position und der über das Gremium der Sechzehner ausgeübte, leider nicht näher definierbare Einfluss der Zünfte ist bereits zu dieser Zeit weiter im Wachsen begriffen. Die Bedeutung der im 13. und frühen 14. Jahrhundert dominierenden, der Ministerialität entstammenden ritterlichen Familien in der Stadt ging wegen ihrer Orientierung am Niederadel zurück. »Verlierer« dieser Regelung waren am ehesten die noch 1357/60 kurzzeitig hervorgetretenen Familien der traditionellen städtischen Führungsgruppe.

Eine Reihe von Regeln betraf die Besteuerung des Klerus, die zwar in der Zeit vor 1365 nicht Gegenstand akuter Konflikte war, jedoch stets ein Feld latenter Spannungen darstellte. Die Schlussbestimmungen zeigen allerdings, dass es Schädigungen und Übergriffe gegeben haben muss. Insgesamt gelang es dem Klerus hier, seine traditionellen Positionen durchzusetzen. Entscheidend war die grundsätzliche Befreiung der Stifte und Geistlichkeit von Zoll, Schatzung und Ungeld für die von ihren Besitzungen stammenden Produkte. In einem Zuge mit dem erfolgten Abschluss der Übereinkunft bestätigte der Bischof die städtischen Privilegien, hob von Neuhausen aus die Exkommunikation auf und auch die kaiserliche Acht wurde beendet159.

Bei der Bewertung des Gehaltes dieser Rachtung ist allerdings zu beachten, dass allein aus dem normativen Text selbst sich die wesentlichen Elemente der Verfassungswirklichkeit kaum ableiten lassen. Entscheidender als formale Rechte und Vorbehalte war die Fähigkeit der Akteure und handelnden Verbände, Familien und Gruppen, die Bestimmungen mit Leben zu erfüllen. Darüber, wer wie erfolgreich gehandelt hat, sind wir leider kaum informiert. Von daher ist die Frage nach einem »Gewinner« oder »Verlierer« der Regelungen müßig, ja geradezu falsch gestellt. Bemerkenswert gerade im Vergleich mit anderen Bischofsstädten ist, dass dieser Kompromiss ohne die Existenz einer (erkennbaren) innerstädtischen Opposition und ohne innerstädtische Konflikte allein im Verhandlungswege zu Stande gekommen ist. Hinzu tritt die bemerkenswerte Dauerhaftigkeit der Regelungen, die immerhin bis zum Ende des 15. Jahrhunderts einem geordneten Zusammenleben aller in der Stadt lebenden Gruppen den Rahmen gegeben haben.

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