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Der Auszug des Stiftsklerus 1499 als Wendepunkt

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Seit dem Jahresende 1498, nachdem erneut eine Ratswahl ohne bischöfliche Bestätigung stattgefunden hatte, verschärfte sich die Lage zusehends. Wenige Wochen nach der Wahl setzten die Zünfte einen 100-köpfigen Ausschuss zur Unterstützung des Rates in seinem Kampf gegen den Klerus ein, womit sich der neu gewählte Rat einer weitgehenden Hilfe durch die Kräfte der Gemeinde versichert hat284. Bereits im März 1499 erließen Bürgermeister und Rat ein an die Kirchentüren angeschlagenes Mandat zur Unterbindung des Weinausschanks, um den Verlust von Ungeldeinkünften zu vermeiden285. Einher ging diese Maßnahme mit einer verschärften Überwachung der Einhaltung gegenüber der Gemeinde; der Rat verhängte und vollstreckte drastische Strafen gegen Zuwiderhandlungen. Im Frühjahr 1499 gelangte der Druck der Stadtrechtsreform bei Peter Drach in Speyer zum Abschluss. Er zeigt erstmals das neue Wappen der Stadt mit den beiden Lindwürmern als Schildhaltern, womit der Rat das seit dem hohen Mittelalter in Siegeln, Maßgefäßen (Abb. 17) und anderswo präsente Drachensymbol – auch und gerade Zeichen der entmachteten Hausgenossen – offiziell übernahm. Zum Jahr 1505 wird berichtet, dass römische Rechtsquellen in städtischem Auftrag gedruckt worden seien, was als weiteres Indiz für die zunehmende Bedeutung vor allem des römischen Rechts gewertet werden kann286.

Im April 1499 reagierte Bischof Johann von Dalberg, indem er im Rahmen einer Synode einen in Heidelberg gedruckten Erlass an den Klerus seiner Diözese herausbrachte, in dem liturgisch-gottesdienstliche Anordnungen gegeben und die Geistlichen ermahnt werden, in den gegenwärtigen und kriegerischen Zeiten, da sie selbst nicht in den Krieg ziehen und den Feind bekämpfen könnten, unablässig den Allmächtigen und Herrn über Krieg und Frieden im Gebet anzuflehen, den Frieden zu gewähren. Der Klerus wird moralisch gleichsam gerüstet für die Auseinandersetzung, die Aufrechterhaltung der gottesdienstlichen Ordnung und Liturgie wird als Moment der Standhaftigkeit und in seiner äußeren Zeichenhaftigkeit beschworen287. Zwei Monate später konterte der Rat seinerseits mit einem gedruckten Ausschreiben, in dem er ausführlich über die Vorgeschichte des Konflikts berichtet hat; die 500 Exemplare gingen an Fürsten, Herren, Städte in nah und fern288.

Im August 1499 wurde dann mit offenbar großem äußeren Gepränge die erwähnte Stadtrechtsreformation verkündet und – in den Worten von Reinhart Noltz – der gemeine verkündet. Deutlich wird hier ein nochmals gesteigertes Obrigkeitsverständnis des Rates, dessen Herrschafts- und ordnungsgebende Machtansprüche neue Höhen erreichten. Der Rechtstext beanspruchte eine über die Stadt hinausgehende Allgemeingültigkeit; das aus überlieferten Quellen ermittelte kaiserliche Recht sei bewahrt und zur Stabilisierung der städtischen Obrigkeit, zur Förderung des »Gemeinen Nutzens« verfügbar gemacht worden. Wenige Wochen später, Mitte September 1499, zog dann der Klerus aus der Stadt aus, die Stiftsherren verteilten sich auf verschiedene Exilorte im Umland289. Über die genauen Hintergründe des spektakulären Aktes, über dessen Anlass und die organisatorischen Vorbereitungen sind wir kaum informiert. Auch ist die Reichweite der Maßnahme nicht ganz klar zu erkennen: Berichtet wird vom Widerstand gerade der armen gemeynen pfaffen gegen die Entscheidung des Klerus. Der Schritt stellte für die Geistlichkeit ein ganz erhebliches, offenkundig vollkommen falsch eingeschätztes Wagnis dar. Die städtischen Quellen registrieren den Vorgang mit großer Bitterkeit: Empört und voller Verachtung wird festgehalten, die Geistlichen hätten bei ihrem Auszug alle kirchengezierde mitgenommen, brachen dafeln ab an den wenden, namen seyle und swengel von den glocken; bereits vorher hätten sie damit begonnen, die heyligthum, kleynot, kirchengezierde, kelche, monstranzen, mesz- und singbücher, meszgewandt, chorkappen und dergleichen, die durch fromme Stiftungen der Vorfahren zu Stande gekommen seien, mitzunehmen, ohne das sie ir eygen seien. Sie hätten darüber hinaus die vielfach verehrte Marienstatue im von der Stadt maßgeblich mit errichteten Liebfrauenstift ir gewonlichen kleydung und gezierde abgezogen beraubt heimlich und heliklich ausz unser statt gefuret und entpfremdet. Der Klerus beraubt die Stadt ihrer Gnadenmittel und damit – in der Sicht der städtischen Führung – sich selbst jeder Legitimation seiner Tätigkeit und seiner bevorrechteten Sonderstellung. Dieses Bild vermitteln die städtischen Quellen in drastischer Form, wobei hier eine durchaus ehrliche Empörung durchscheint.

Außerordentlich bedeutsam ist nun, wie der Rat auf diese Provokation und den unweigerlich drohenden Verlust der geistlichen Gnadenmittel samt weiterer politischer Isolierung reagiert hat290. Das entstandene Vakuum der religiösen Versorgung und Daseinsvorsorge wird rasch, energisch und – wie es scheint – erfolgreich ausgefüllt. Unter Fortführung bereits seit längerem angelegter Tendenzen wird nämlich das laikal-städtische Kirchenregiment massiv ausgebaut und institutionell verfestigt. Der Rat sucht der Gemeinde und dem Klerus gleichermaßen zu beweisen, dass man die »Pfaffen« nicht benötige und die religiöse und damit öffentliche Ordnung nicht von den alten Institutionen abhänge. Vor dem Hintergrund der erwähnten, in den 90er Jahren verfestigten Ideologie des Rates und seiner Rolle im Bereich der Kirche und der Tradition städtischer Religiosität werden zunächst die ohnehin im Bürgerrecht stehenden, mit den städtischen Familien aufs engste verbundenen Bettelorden in die Pflicht genommen, von denen allein die Dominikaner mit nicht weniger als 24 Geistlichen einen starken Konvent bildeten291.

Der Rat bemühte sich, die verwaisten Pfarrkirchen mit angestellten Priestern zu besetzen und führte Klage darüber, dass die ausgezogene Geistlichkeit unter Missachtung der von den Vorfahren getragenen, nun eigenwilliglich abgestellten Stiftungen und Leistungen ihre Aufgabe ruhen lasse. Ein Grundproblem des geistlichen Handelns war die mangelnde Konsequenz in der Durchsetzbarkeit des Anspruchs auf alleinige Verwaltung der Gnadenmittel. Bereits 1500 erfolgte auf Ratsseite eine erste Zusammenstellung der städtischen Pflegschaften, Aufsichts- und Mitbestimmungsrechte in wirtschaftlichen und Finanzfragen, demonstrativ mit dem neuen städtischen Wappen versehen292. Der Rat ordnete sofort das Geläut an Feiertagen an, die zum Teil verbliebenen, zum Teil neu verpflichteten Geistlichen füllten die Lücken aus, organisiert wurden mehrfache Prozessionen mit den Pfarrern und Kaplänen sowie den Priestern aus den Klöstern hinaus zur Liebfrauenkirche, an die sich der alte und der neue Rat sowie die Zunftvertreter mit Kerzen in den Händen anschlossen, da sang man und las viel messen und bredigten. Darzu was das gemeyn volck so willig und andechtig mer dann vor ye. In das Haus zur Münze lud man zum Essen die Pfarrer und Priester, die die Messen gelesen hatten und gab jedem darzu eyn albus. Von besonderer Bedeutung für die weitere Herausbildung einer städtischen Religiosität war das Liebfrauenstift, auf dessen spezifische Rolle um 1500 noch einzugehen ist293. Worms reiht sich damit in die große Zahl mittelalterlicher Städte ein, in denen der Rat zu diesem Mittel der »ritualisierten Ausdrucksform kollektiver Frömmigkeit« griff294. Hinzu treten die bemerkenswerten städtischen Bemühungen um die Einrichtung einer eigenen Lateinschule während des Jahres 1499, auf die Burkard Keilmann aufmerksam gemacht hat295. Der Versuch zur Beschneidung des klerikalen Bildungsmonopols verweist wie vieles andere bereits auf die wenig später so durchschlagend erfolgreiche reformatorische Bewegung.

Für die in sich nicht einige Geistlichkeit hatten die Ereignisse die fatale Folge, dass ihre Legitimation in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß infrage gestellt wurde und insbesondere die Stiftsgemeinschaften irreparabel in Misskredit gerieten296: Noch gefährlicher wurde die Situation, als die Stadt Anfang 1500 in einem Ausschreiben die Ereignisse beschrieb und ihre Haltung rechtfertigte. Hier wurde ein ganz neuer, umfassender Regelungsanspruch festgeschrieben, der zu einer dramatischen Defunktionalisierung, ja geradezu einer »Entzauberung« der Geistlichkeit im Sinne des bekannten Diktums von Max Weber samt einer fundamentalen Infragestellung ihrer Aufgaben in der Stadt und für diese führen konnte. Erst 1509, nach zehn Jahren, kehrte der Klerus nach Worms zurück. Immerhin haben sich die Wogen um die so heftig umstrittene Ratswahl der Jahre 1501 und 1502 wieder geglättet, sodass diese erstmals wieder nach altem Herkommen durchgeführt werden konnten. Auf städtischer Seite geht die Zeit ab 1480 mit einer Tendenz zur verstärkten Oligarchisierung an der Spitze der Stadt einher. Auftrieb erhielten die Tendenzen zur Ausweitung der obrigkeitlichen Stellung des Rates, massiv verstärkt durch die Stadtrechtsreformation 1499. Ganz neue Formen der Kommunikation und Selbststilisierung des Rates und seiner Herrschaft entstehen, ein neues kommunales Symbolreservoir, neue Legitimationsmöglichkeiten, ja eine neue Ideologie werden erkennbar.

Stark waren die Tendenzen zur fortschreitenden Verrechtlichung, die sich auf städtischer Seite auf die Hilfe des Reiches und seines Oberhauptes stützen konnte, wobei die schwankende Haltung des Herrschers nicht unwesentlich zur nach modernem Verständnis unverständlich langen Verzögerung von Entscheidungen beigetragen hat. Für Bischof und Geistlichkeit fällt das Urteil für die Zeit seit 1483 ambivalent aus. Im Grunde vermochte weder Johann von Dalberg, in hohem Maße von der seit den 1490er Jahren schwindenden Unterstützung der Kurpfalz abhängig, seine Ansprüche durchzusetzen, noch konnte die Geistlichkeit ihm bei der Durchsetzung seiner Vorstellungen und damit auch ihrer Ansprüche helfen. Im Gegenteil: Der fatale Auszug 1499 und die unerwarteten Reaktionen des Rates bedrohten die ohnehin schwierige Stellung der Geistlichkeit ganz massiv. Gerade auch im Hinblick auf die gut 20 Jahre später einsetzende reformatorische Bewegung und ihre Sprengkraft besitzen diese Vorgänge allergrößte Bedeutung; sie bedürften in vergleichender Perspektive einer eigenen umfassenden Analyse.

Zusammenfassend kann man als Charakterzüge der Entwicklung nennen: Die Schärfe der Konflikte, die verstärkte Bedeutung des Rechtslebens und die Zuspitzung auf Rechtsfragen, eine beidseitig umfassende »Propaganda« (Druck, Bauten und Inschriften; Chronistik), der Wegfall intermediärer Gewalten und die extreme Steigerung der Ansprüche auf beiden Seiten, der Ausfall traditioneller Schlichtungsmöglichkeiten, eine neu genutzte Legitimationsbasis des Ratshandelns unter Bezug auf die Reichsebene, die sich verändernde Zusammensetzung und damit auch eine schwindende Verankerung des Stiftsklerus in der Stadtbevölkerung, die fortschreitende Differenzierung der Geistlichkeit, massive Bestrebungen zu einer ratsobrigkeitlichen Kirchenordnung und das Hervortreten neuer Kräfte und Persönlichkeiten an der Stadtspitze.

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