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Das 15. Jahrhundert (1407–1499): Zwischen Ruhe und tiefgreifendem Wandel Die Ratsherrschaft auf dem Weg zur Obrigkeit

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Ähnlich wie dies Ernst Voltmer überzeugend bereits seit dem 14. Jahrhundert für Speyer festgestellt hat207, lässt sich auch für Worms – wenngleich auf schmalerer Quellenbasis – in den Jahren um und bald nach 1400 ein mit der Verfassungsänderung von 1392 vermutlich in Zusammenhang stehender Prozess beobachten, der von vermehrter Schriftlichkeit, verstärkter Fixierung von rechtlichen Gegebenheiten sowie intensivierter Verwaltung und damit einer deutlicheren Nuancierung der auf eine breitere Basis gestellten Ratsherrschaft im Sinne obrigkeitlicher Tendenzen gekennzeichnet ist. Der Rat unternahm seither verschiedene Schritte zur Intensivierung und Betonung seiner Stellung gegenüber der Stadt und zur Untermauerung seines Herrschafts- und Regelungsanspruchs in immer mehr Bereichen des Lebens bis hin zu Fragen von Religion und Gottesdienst. Die verbesserte Überlieferungslage lässt nun auch – seit 1382 ununterbrochen – eine Liste der Wormser Bürgermeister rekonstruieren, die als Ausgangspunkt für prosopographische Forschungen angesehen werden kann208. Ein wichtiges Dokument für die neue Qualität der Ratsherrschaft ist die in die Zeit um 1390/1400 zu datierende Anlage des so genannten Eidbuches209, in dem während des 15. Jahrhunderts zahlreiche Rechtstexte, für die Stadtverfassung wichtige Urkunden (beginnend mit dem gefälschten Stadtfrieden Barbarossas von angeblich 1156), Eide städtischer Funktionsträger und zu Beginn des 15. Jahrhunderts geschlossen fixierte Verordnungen des Rates210 eingetragen wurden und das eine eigene Untersuchung verdient hätte. Auch die stets gefährdete jüdische Gemeinde erfuhr um 1410 die Auswirkungen der schärfer profilierten Ratsherrschaft, die sich in einem willkürlichen Vermögensentzug niederschlug: Der Rat beanspruchte in neuartiger Entschiedenheit seinen Herrschaftsanspruch gerade gegenüber den Juden211. Auch bauliche Aktivitäten scheint der Rat entfaltet zu haben212. Etwa zeitgleich nahm auch die Schriftlichkeit im Bereich der bischöflichen Herrschaft zu, was etwa an den bischöflichen Zollbestimmungen des frühen 15. Jahrhunderts ablesbar ist213.


Abb. 19: Altères städtisches Eidbuch, geßhrt ab etwa 1400, Pergamenthandschrift (StadtA Wo Abt. 1 B Nr. 23)

Gegenstand der intensivierten Verordnungstätigkeit ist unter anderem das Leprosenhaus, für das ab 1414 eine Reihe städtischer Verordnungen und um 1450 die Anlage eines Einkünfteverzeichnisses bezeugt ist214. Im Jahr 1417 lässt der Rat systematisch die der Stadt seit 1112 erteilten Königsdiplome in Form vidimierter Urkundenabschriften festhalten215. Dies alles sind Indizien für einen stärkeren Anspruch auf Herrschaft, für die Nutzung von Schriftlichkeit und den Ausbau von Verwaltung und Rechtsdenken. Zudem lassen sich jetzt Fleischtaxen (erstmals zum Jahr 1402) und ähnliche wirtschaftsgeschichtlich relevante Quellen greifen. Für die Jahre 1396 bis 1403 sind nicht weniger als neun Verordnungen aus dem Bereich des Handels und der Regelungen über das Ungeld im Eidbuch nachweisbar216.

Einher gehen damit wichtige Wandlungen in der Verfassungstopografie, also der Örtlichkeiten wichtiger Rechtshandlungen und der mit ihnen verbundenen zeremoniellen Formen der Ratsherrschaft. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts ist ein Prozess der Verlagerung der Beratungen der städtischen Gremien in den Bürgerhof zu verfolgen. Vom Bischof heftig bekämpft und in Verträgen zwischen beiden Seiten eigentlich unterbunden, setzte sich die Nutzung des Bürgerhofes und seines Umfeldes als Ort der Beratung der städtischen Gremien immer weiter durch. Eine detaillierte chronikalische Notiz städtischer Provenienz vom Jahr 1426/27 – angefertigt vor dem Hintergrund von Konflikten zwischen Bischof und Stadt um den Einritt des Oberhirten (s.u.) – gewährt Einblicke in die sich verstärkenden Funktionen des Bürgerhofes217. Bereits zu diesem Zeitpunkt finden die »normalen« Versammlungen und Beratungen des Rates im Bürgerhof statt; spätestens zu diesem Zeitpunkt hat der Bischofshof seine Monopolstellung eingebüßt. Die Ereignisse zwischen November 1426 und Februar 1427 um die umstrittene Ratsbesetzung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Am 8. November tagte der Rat im Bischofspalast, während sich der designierte Bischof Friedrich von Domneck noch in Neuhausen befand. Einen Tag später beriet man sich auf dem Bürgerhof: Der Einlass des Bischofs in die Stadt wurde dabei von einer Bestätigung der Freiheiten abhängig gemacht. Am 12. November trat der große Rat in der Trinkstube zum Sperberzagel zusammen, woran sich längere Verhandlungen mit dem Domkapitel anschlossen. Weitere Beratungen der Stadt über die Modalitäten des Einzugs fanden im Januar, wiederum im Bürgerhof, statt, bevor man Ende Januar zu einer Übereinstimmung kam. Eine Abordnung des Rates zog schließlich nach Neuhausen, um den Bischof in die Stadt zu geleiten, wobei hier auch das Stadtbanner (weißer Schlüssel auf rotem Feld) Erwähnung findet (stete baener). Der Bischof zog zum Bischofspalast, kleidete sich in der Stephanskapelle in seine priesterlichen Gewänder und ging mit Begleitung von Prälaten und Bürgermeistern in den Domchor. Nach dem Gottesdienst fand auf dem Bischofshof ein Essen statt. Die am 5. Februar schließlich feierlich vollzogene Ratsbesetzung wurde im Saal auf dem Bischofshof unter dreimaligem Läuten der Hofglocke und unter gegenseitigem Eidschwur abgehalten. Bereits für das Jahr 1253 ist der Einritt des Bischofs von Norden, das heißt durch die Martinspforte zum Dom hin nachgewiesen218.

Wandlung und Beharrung zugleich sind neben der Quelle von 1426/27 auch einem Notariatsinstrument über die näheren Umstände der Ratswahl von 1430 zu entnehmen219. Eine Ratssitzung fand demnach statt off dem sale zu Wormß in der großen stoben daselbist, do man spulget inne den rate zu Wormß besitzen. Zugleich wurde der traditionelle Eid gegenüber dem Bischof – unter ausdrücklichem Verweis auf das Herkommen – auf dem saal in seiner gnaden rathaus zu den heiligen geschworen. Offenkundig wurde, sobald feierliche Ratssitzungen mit Wahlen und Einführung von Amtsträgern stattfanden oder wenn der Bischof im Rat saß, am herkömmlichen Ort Rat gehalten, ansonsten im Bürgerhof. Dabei versuchten die Bischöfe während des 15. Jahrhunderts mehrfach, die Rechtmäßigkeit außerhalb des Bischofshofes abgehaltener Ratsversammlungen infrage zu stellen. Es verwundert daher nicht, dass aus dem 15. Jahrhundert noch weitere Zeugnisse über die Funktionen des Bürgerhofes als Rechtsort überliefert sind, so aus den Jahren 1425, 1441, 1449 und 1499220. Hinweise auf Eidschwüre an der für das städtische Verfassungsleben so wichtigen Saalstiege221 sind unter anderem aus Einträgen in dem schon erwähnten Eidbuch der Stadt überliefert, so aus den Jahren 1409, 1421 und 1431 222. Neben einem städtischen Treueschwur gegenüber dem Bischof im Saal des Bischofshofes 1430223 bezeugen verschiedene Quellen über die in dem Vergleich zwischen Bischof, Domkapitel und den Wormser Juden vom Jahre 1312 vereinbarte Einsetzung des so genannten »Judenrates« und die dafür zu zahlende Geldsumme während des späten Mittelalters, dass der Bischofshof auch für diese hoheitlich-monetäre Zeremonie gedient hat. So heißt es etwa in einem 1439 vereinbarten Übereinkommen zwischen dem Bischof und dem Judenrat, dass die bei einer Neuwahl eines Ratsmitgliedes fälligen Abgaben am Martinstag in unsern hofe zu Wormeß zu entrichten seien, dem Ort, an dem auch der Schwur geleistet werden soll224. Auch aus der Zeit um 1460 liegen wiederum Nachrichten über den Modus der Ratswahl vor.225 Der Bischof konnte faktisch zwar nur noch bei der Auswahl der Kandidaten mitbestimmen, jedoch erfuhr seine Rolle bis zur zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine Beschränkung auf zeremonielle Teile der Amtsübergabe. Allerdings verfügte der Bischof nach wie vor über prinzipiell mobilisierbare Reservatrechte, deren Realisierung von situativen Faktoren abhing.

Der Anteil der Zünfte an der Stadtherrschaft wurde zusätzlich gestärkt, als am 3. Juli 1430 der verbindliche Zunftzwang für alle Bürger eingeführt wurde226. Nahezu zeitgleich mit einem Ratsstatut und Plänen für eine Verfassungsänderung in Speyer und wenige Wochen nach der Einführung einer neuen, wenngleich kurzlebigen Ratsverfassung in Mainz erlangten die Zünfte bzw. die Vertreter der Gemeinde unter der Bezugnahme auf Ehre, Nutzen und Bestes der Stadt bei Verhandlungen über Forderungen, Klagen und Wünsche in 26 Artikeln wichtige Zugeständnisse, wobei auch hier wieder die Transparenz bei Fragen des städtischen Finanzgebarens und der Kreditwirtschaft verbessert und die Gültigkeit vorhandener urkundlicher Freiheiten der Zünfte anerkannt wurde. Der von Boos gewählte Begriff »Freiheitsbrief« für die Übereinkunft von Bürgermeistern und Rat zum einen mit Zunftmeistern und der Gemeinde zum anderen ist sicher eine zu hoch gegriffene Einschätzung und auch die Bemerkung, Worms habe sich 1430 »zu einer vollständigen Zunftdemokratie« ausgebildet, muss aus heutiger Sicht zurückgewiesen werden. Es handelt sich im Grunde auch nicht um eine Verfassungsänderung, wenngleich etwa die Amtszeiten begrenzt und die Rolle der Gemeinde gestärkt wurden. Lediglich der städtische Baumeister sollte länger als ein Jahr amtieren. Der Einigung war offenbar Unmut auf Seiten der Zunft- und Gemeindevertreter vorausgegangen, die Quelle spricht allgemein von unwill groll nid und hasz sowie von einzelnen Unzufriedenen innerhalb und zwischen den beiden genannten Lagern. Die Quelle ist auch wegen der Erwähnung eines anzulegenden Monatsrichter-Buches und von Rechnungsbüchern für die Kenntnis der städtischen Verwaltung von Bedeutung und zeigt einmal mehr den Zusammenhang von Verfassungswandel und Schriftlichkeit auf. Wieder einmal gelang mit den (nur mangelhaft überlieferten) Bestimmungen eine friedliche und ausgewogene Regelung. Durch einen Überlieferungszufall enthält ein zeitnah ausgestelltes Notariatsinstrument vom 3. Oktober 1430227 ein vollständiges Verzeichnis der 54 Ratsmitglieder, eine weitere Liste datiert vom 7. März 1431 228. Diese Quellen ermöglichen ansatzweise eine Bewertung der Zusammensetzung des Gremiums und sind bislang nur unzureichend genutzte Ausgangspunkte für prosopografische Studien zur Zusammensetzung des Rates und der bis 1491 mit einer Sonderstellung weiter bestehenden Hausgenossenschaft.

Die Zahl der Zünfte – zahlreiche von ihnen gehörten dem Bereich der Land- und Weinwirtschaft an, was an der Existenz eines wirklich sehr differenzierten Gewerbes in der Stadt zweifeln lässt – ging nach den im Eidbuch vorhandenen Verzeichnissen aus dem Beginn und der Mitte des 15. Jahrhunderts und weiterer Quellen der Zeit um 1500 von 22 bzw. 23 auf 17 zurück229. Die Folgen der fortwährenden, nicht erkennbar umstrittenen Stärkung der Zünfte für die Zusammensetzung der oligarchisch gefügten städtischen Führungsgruppen und damit die Frage nach Geschlechtern und Patriziat in Worms können derzeit kaum näher beschrieben werden. Fest steht jedoch, dass es im benachbarten Mainz230 zu einer grundsätzlich andersartigen Entwicklung gekommen ist. Dabei hat allerdings auch die finanziell-ökonomische Krisenlage ihre Folgen gezeitigt: In der erzbischöflichen Metropole kam es bis 1462 immer wieder zu teilweise blutigen Konflikten um die Stadtherrschaft.

Offenbar ganz untergeordnet und ohne feste Verankerung in der Stadtverfassung blieb in Worms die Bedeutung eines nur in den Konflikten des Jahres 1407 (s.o.) bezeugten erweiterten Rates, der durch Zusammentreten des alten und neuen Rates sowie von Vertretern der Zünfte zusammenkam und in diesem Fall aus nicht weniger als 104 Mitgliedern bestand (unser herren alten und nuwen, die den rat beseszen hant und darczu der zunffte frunde231). Die Versammlung hatte über ein Detail des Vorgehens gegen die Geistlichkeit abzustimmen und tat dies, wobei das Eidbuch auch das Ergebnis (91 zu 13) mitteilt. Ein eigenständiges Handeln der Gemeinde oder ihrer Vertreter ist während des späten Mittelalters kaum zu beobachten, allerdings ist für das Jahr 1440 die Beteiligung von vier Gemeindevertretern bei der Rechnungslegung bezeugt232.

Erstaunlich mutet in vergleichender Perspektive das für Worms zu konstatierende Fehlen einer Ratskapelle bzw. eines funktionalen Äquivalents dazu an233. Der profane Mittelpunkt der bürgerlichen Stadt blieb in Worms ohne eigentliches religiös-kultisches Zentrum. Hier gab es in vergleichbaren Städten ganz unterschiedliche Lösungen: Während in Straßburg ein Teil des seit dem 13. Jahrhundert in hohem Maße als quasi-städtischer Bau errichteten Münsters selbst als Ratskapelle diente, bestanden unter anderem in Speyer und Konstanz eigenständige Ratskapellen. Die besondere Stellung einer Pfarrkirche für die Stadtbürgerschaft wie in Trier oder Speyer lässt sich in Worms ebenso wenig beobachten wie die Herausbildung eines Hospitals als Kristallisationspunkt bürgerlicher Schenkungen und Identität. Einige Indizien sprechen dafür, dass der dem heiligen Laurentius geweihte Dom-Westchor als Versammlungsort für den Rat fungiert hat, der jedoch nicht mit einer üblichen Ratskapelle im engeren Wortsinne zu vergleichen ist. Wichtig sind allerdings die um 1500 zu beobachtenden Funktionen des Liebfrauenstifts als Ort bürgerlicher sakraler Identität und Ziel städtischer Prozessionen zu der auch als Wallfahrtsziel wichtigen Marienfigur234. Beim Neubau der Kirche (vgl. Tafeln 10a, 24) hat sich die Stadt seit der Mitte des 15. Jahrhunderts auch organisatorisch, finanziell (Vermögensverwaltung) und personell (Kirchenpfleger) am Baufortgang ebenso aktiv beteiligt wie die durch Stiftungen hervortretenden Zünfte (s.u. S. 256–258).

Ebenfalls nur schwer erklärbar sind die äußerst spärlichen Indizien für die Existenz von Trinkstuben des Rates und der Zünfte, die in vergleichbaren Städten in der Regel weitaus besser überliefert sind und die als »Gradmesser für die Intensität zünftigen Lebens« gelten können235. Während etwa in Speyer diese Versammlungshäuser in großer Zahl nachgewiesen sind, liegt für Worms lediglich ein einziger, bei einer Urkundenausstellung vor dem Rat fassbarer Beleg für eine dringstube genannt daz nuwehuß für das Jahr 1447 vor. Wichtiger als dieses ist allerdings das zwischen 1426 und 1483 mehrfach als Versammlungs- und Beratungsort des Rates bezeugte Haus am Sperberzagel. Hier wurde zum Beispiel 1430 von Rat und Zünften gemeinsam ein Verbot von Zusammenkünften der Zunftmitglieder in diesem Haus, einem nur hier als solchem genannten Haus »Zur goldenen Krone« und anderen Orten genannt, was immerhin auf die Existenz von Treffpunkten außerhalb der ausdrücklich erlaubten Zunft- oder öffentlichen Wirtshäuser hinweist236. Ob es sich beim Haus zum Sperberzagel tatsächlich um eine Trinkstube gehandelt hat, ist unklar.

Eine Gesamteinschätzung der Entwicklung der Ratsherrschaft kann von den für Speyer beschriebenen Charakteristika ausgehen237: Die gewandelte Herrschaftsauffassung des Rates geht mit einer Steigerung von Ausdruck und Praxis der Herrschaftsausübung einher. Die Durchsetzung des »Zunftregiments« ändert am oligarchischen Grundzug der Ratsherrschaft fast nichts, dieser bleibt während des gesamten Spätmittelalters erhalten. Die dominierenden Familienverbände bilden nach wie vor den Unterbau und den Zusammenhalt des Herrschaftssystems. Die von einer ständig auf Ausgleich bedachten Oligarchie getragene Ratsherrschaft funktioniert als kompliziertes System der Verteilung von Macht, Würden, Kompetenzen und Kontrollen und markiert im Grunde ein relativ stabiles Ordnungsprinzip.

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