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SEX PISTOLSNever Mind the Bollocks … [Virgin, 1977] Olaf Karnik

Musik: Jenseits des Drei-Akkorde-Prinzips von Punkrock gab es bei den Sex Pistols wenig kreativen Spielraum. Auffällig war ein versierter Einsatz von Gitarren-Feedback gegen Ende der meisten Stücke sowie kurze, aber prägnante Gitarren-Soli. Für Furore und Chart-Erfolge sorgte der druckvolle Sound der Pistols ohne schiefe Töne, ohne jegliche Indie-Ästhetik. Im Vergleich zu vielen anderen, von Indie-Labels veröffentlichten Bands klangen die Sex Pistols fast schon wie Led Zeppelin. Das war aber kein Problem − ging es doch bei Punk weniger um Stümper-Musik, als um »einen Prozess des absichtlichen Verlernens: eine neue Pop-Ästhetik, die Vergnügen fand am grundlegenden Barbarentum des Rock« (Jon Savage). Abgesehen davon gilt: Ohne John Lydon alias Johnny Rotten wären die Sex Pistols nichts gewesen. Nach seinem Weggang im Januar 1978 wich der Sound von Raserei und Zerstörung realer Zerstörung und Selbstzerstörung zum Rhythmus schäbiger Rock’n’Roll-Covers.

Texte: Klartext rules − wie auch bei anderen Punkbands waren die Texte der Sex Pistols sehr konkret, realistisch, provokativ und meist auf England bezogen. Ungeachtet dessen konnte man sich auch als Teenager in der BRD sofort mit der außergewöhnlichen Drastik ihres staatsfeindlichen Contents identifizieren. Hier eine mögliche, von den Texten ausgelöste Assoziationskette: Ich weiß nicht, was ich will. Aber ich weiß, was ich nicht will: eure Gesellschaft, eure Werte, eure Identität. Werden statt Sein. Anarchie − statt autoritärem Sowjet-Kommunismus oder sozialdemokratischer Reform-Kosmetik. Es läuft über: Selbstermächtigung. Unabhängigkeit. Individualismus. Zur Hölle mit der Heuchelei von zu braven Bürgern mutierten Faschisten. Die Systemfrage steht im Raum. In der BRD stellt sie 1977 mit aller Macht und Gewalt die RAF. Sachbeschädigung ist das Mindeste, kreative Zerstörung das Gebot der Stunde, wir machen Tabula rasa. Du hast nichts zu erwarten, dein Leben ist jetzt schon vorbei.

Viel später wusste man mit Alice Miller: Mit der Erfahrung, nicht vorgesehen zu sein, beginnt der Eintritt ins Reale.

Cover: Das Original-Cover von »Anarchy in the U.K.« war monochrom schwarz, ohne jegliche Information. Malewitschs »Schwarzes Quadrat« lässt grüßen. »God Save the Queen«, »Pretty Vacant« und das Album Never Mind the Bollocks … bedienen sich mit ihren aus Zeitungsschnipseln zusammengesetzten Wörtern einer aus Fanzines bekannten Erpresserbrief-Ästhetik. »Holidays in the Sun« zierte ein Urlaubs-Cartoon, dessen Protagonisten den Songtext in Sprechblasen zitieren. Die Vorderseite von »Pretty Vacant« zeigt einen leeren Bilderrahmen, auf der Rückseite befindet sich das genialste Cover-Motiv der Sex Pistols: zwei Busse mit den Destinationen »Nowhere« und »Boredom«. Es bringt den Nihilismus von Punk vollends auf den Punkt.

Inszenierung vs. Authentizität: Mit den Sex Pistols einen ähnlichen Coup zu landen, wie zehn Jahre zuvor Andy Warhol mit Velvet Underground, ist dem Konzeptkünstler und Pistols-Manager Malcolm McLaren gelungen. Nur dass eben binnen anderthalb Jahren alles aus dem Ruder lief. Nach all den von McLaren initiierten, skandalträchtigen Situationen im Fernsehen, bei Konzerten oder mit Plattenfirmen (EMI, A&M, Virgin) zerbricht die Gruppe unter dem Druck, immer wieder aufs neue Gewalt und Provokationen zu verursachen. Johnny Rotten verlässt die Pistols im Januar 1978 nach einem Konzert in San Francisco; der heroinabhängige Sid Vicious wird des mutmaßlichen Totschlags an seiner Freundin Nancy Spungen angeklagt und setzt sich, zwischen Haft und Entzugsanstalt pendelnd, schließlich einen goldenen Schuss. Mit dem Posträuber Ronald Biggs in Brasilien als Gastsänger und dem Film The Great Rock’n’Roll Swindle (1979) schlachtet McLaren den Mythos Sex Pistols zum Schluss noch so gut es geht kommerziell und medial aus. Der Rest ist eine Geschichte von Gerichtsprozessen und überflüssigen Tour-Reunions ab Mitte der 1990er-Jahre.

Wenn man sich auch heute darauf verständigt, dass die Sex Pistols eine von McLaren gecastete Boygroup waren, so erklärt das nicht die Wucht des Einschlags und seinen Nachhall. Jon Savage betont in England’s Dreaming, dass die Pistols als neue Generation »eine sorgfältig abgestimmte Mischung aus Authentischem und Konstruiertem« waren. Es war jenes von Rotten drohend hingerotzte »We mean it, maaan …«, das die Inszenierung transzendierte und Punk so gefährlich nah ans eigene Leben rückte. No fun.

No Future: Die Sex Pistols konnten 1977 maximale Nowness beanspruchen, aber mit ihnen ging es nicht weiter. Wo »No Future« ausgerufen war und der Bus nach Nirgendwo fährt, war sofort klar, dass die Band auch in musikalischer Hinsicht einen Endpunkt markiert: das Ende der Rock-Kultur − zu einem Zeitpunkt, als Rock gerade zu Kultur geworden war. Wenn es im Geist des Punk überhaupt weiterging, dann nur als Neuanfang, als Auferstehung aus Ruinen − d. h. in einem Musikverständnis, das aus brauchbaren Trümmern der Pop-Geschichte eine andere musikalische Sprache entwickelt als die Linguistik des Rock. Genau das passierte in der Postpunk-Ära.

Auf ein bitteres gesellschaftliches Erbe von »No Future« wies Mark Fisher 2010 im Interview hin: »Negativität ist aus der britischen Kultur verschwunden. Negativität war mal eine treibende Kraft in der populären Musik Britanniens, man denke nur an ›I can’t get no satisfaction‹ oder ›No Future‹, und ist heute − ironischerweise in einer Zeit, die in vielerlei Hinsicht tatsächlich keine Zukunft mehr anbietet − ersetzt worden durch diese betäubte, positive Gut-Drauf-Haltung.«

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