Читать книгу Damaged Goods - Группа авторов - Страница 9

Оглавление
TON STEINE SCHERBENWarum geht es mir so dreckig? [David Volksmund Produktion, 1971] Roger Behrens

»Wir fangen leer an«, beginnt Ernst Bloch (zwar ein expressionistischer Philosoph, fast anarchistischer Marxist, aber ohne Frage bürgerlich-geordneter Antipunk) sein fulminantes Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung, und dann schreibt er weiter: »Ich rege mich. Von früh auf sucht man. Ist ganz und gar begehrlich, schreit. Hat nicht, was man will.«

»Sich regen, bringt Segen«, sagt das Sprichwort. Damit lässt sich in einer beginnenden Jugend um neunzehnhundertachtzig, im kleinbürgerlichen Abseits einer behaglichen Klinker-Neubausiedlung am Hamburger Stadtrand, wenig anfangen. Segen gibt es hier nicht viel, der Haussegen hängt eh schief, oder vielmehr: Er soll ja schief hängen, wegen Generationskonflikt, Abschied von den Eltern, Aufmüpfigkeit, den Aufstand proben etc. Sich regen ist immer auch Sich aufregen. Gründe gibt es genug, gerade mit vierzehn, fünfzehn, und insbesondere in diesen Jahren ab neunzehnhundertachtzig ff: Wo die Eltern auf einmal glaubten behaupten zu können, langsam zu haben, was sie wollten, Partykeller, Ehe, Eigenheim und Pauschalurlaub, wo die Affluent Society postmodern überschäumte (die Yuppisierung konterkarierte das Parallelmodell für die ältere Generation: Dallas und Denver Clan …) und in der Bundesrepublik langsam im Rückschritt Schwung für die geistig-moralische Wende geholt wurde, da hatte man, wenn man einigermaßen wusste, was hier los war, mitnichten was man wollte, sondern die Schnauze voll: Wir fangen zwar leer an − aber laut! Und das bleibt auch erst einmal so, das ist Punk.

Wer in dieser Provokation eine Form von Politik entdeckte und nicht nur Unterhaltung, der hatte schnell ein paar Songs von Ton Steine Scherben im Ohr. Sie hatten, längst bevor das Wort Punk überhaupt hierzulande kursierte, die richtigen Fragen gestellt, wovon die eine und erste den Titel des ersten Albums abgab: Warum geht es mir so dreckig? Das waren acht Songs zum Mitsingen, bereits 1971 auf dem eigenen Label mit dem schillernden Namen David Volksmund Produktion in der selbst zusammengetackerten und bedruckten Papphülle veröffentlicht (dazu die Zwille als Logo − David Volksmund, das klang wie Florian Geyer, das roch nach Aufstand und Revolte, nulla crux, nulla corona). Ich bekam die Platte erst viel später in die Hände, schon kommerziell sauber im glanzkaschierten Cover verpackt; als der Punk losging, hatten sich Ton Steine Scherben längst auf ihren Bauernhof im nordfriesischen Fresenhagen zurückgezogen, machten statt Proto-Punk eher Kraut-/Folk-/Progrock. − Wenn die Nacht am tiefsten …, Doppel-LP 1975 (darauf auch: »Steig ein«, eine 20:50 Minuten lange Soundreise mit allerhand Zitaten älterer Stücke, die ein bisschen wie »Revolution No. 9« von den Beatles anmutet); 1981 kommt noch die sehr verspielte Doppel-LP IV. Von 1982 bis zur Bandauflösung 1985 hatte Claudia Roth das Management übernommen. Doch die Scherben-Konzerte Anfang der Achtziger haben einiges rausgerissen und auch einiges vom Punk eingeholt, was auf den Alben fehlte.

Dass 1983 die letzte Platte von Ton Steine Scherben eben nicht »Ton«, nicht »Stein«, sondern Scherben hieß, mit einem Cover, auf dem die Band hinter Pastellfarben verschwamm, mit Liedern, die mit schlagerhaften Synthiepop-Einlagen bloß Liebeslieder waren, illustriert nachgerade die politische, soziale und in meinem Fall auch familiäre Konstellation der Achtziger, die Otto Karl Werckmeister in seiner luziden Studie als Zitadellenkultur zusammenfasste: Postmoderne, Neue Unübersichtlichkeit, Risikogesellschaft, Katastrophenstimmung. Die konkrete Totalität des Sozialen, das gesellschaftliche Ganze, gab es nur noch als Totalitarismus, dem − das provozierte den dann so genannten Historikerstreit − alle Verbrechen zugeschlagen wurden, erklärt in logischer Konsequenz zueinander gleichsam, Auschwitz als Folge des Stalinismus. Manche raunten damals vom Ende der Geschichte; im Schatten des zusammenbrechenden Realsozialismus kündigte sich ohnehin an: ein Ende der Großen Erzählungen. Bei uns zu Hause lag auch die kleine Erzählung in Scherben, mein Papa stirbt an Krebs 1984. »Ich will nicht werden, was mein Alter ist.« Bis zuletzt hat er geschuftet. 1986 fliegt in Tschernobyl das Kernkraftwerk in die Luft. Anti-AKW-Proteste, Brokdorf, Kleve, der Hamburger Kessel, und immer wieder Scharmützel bei den besetzten Häusern in der Hafenstraße.

Ralph Möbius nannte sich schon längst Rio Reiser und wollte nun König von Deutschland werden. Die alten Fragen indes waren offen geblieben: »Warum geht es mir so dreckig? Was kann ich allein dagegen tun?« Oder? Eigentlich wurden sie ja durchaus auf diesem Album beantwortet: »Ich weiß, wir werden kämpfen, ich weiß, wir werden siegen, ich weiß, wir werden leben, und wir werden uns lieben. Der Planet Erde wird uns allen gehören, und jeder wird haben, was er braucht.« Denn: »Alles verändert sich, wenn du es veränderst. Doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist!« Und: »Was wir wollen, können wir erreichen. Wenn wir wollen, stehen alle Räder still. Wir haben keine Angst zu kämpfen. Denn die Freiheit ist unser Ziel.« Deshalb: »Der Kampf geht weiter! Und sie wissen: die Wahrheit wird siegen!« Schließlich: »Macht kaputt, was euch kaputt macht.« Der Rest ist Bertolt Brecht und Hanns Eisler, Klassenkampf statt sozialer Frieden, Selbstbefreiung als realer Humanismus.

Was an dieser Songtextmontage vielleicht auffällt: gerade das erste Ton-Steine-Scherben-Album ist liturgisch aufgebaut, klingt auch und wegen seiner punkigen Rotzigkeit nach Befreiungstheologie. Was hier Punk ist, klärt sich wie der Materialismus auf, den Marx in den Thesen über Feuerbach aus dessen Wesen des Christentums herausschälte: Die Kritik der Gegenwart setzt die Religionskritik voraus. »Uns fehlt nicht die Hoffnung, uns fehlt nicht der Mut! Uns fehlt nicht die Kraft, uns fehlt nicht die Wut!« Drei Jahre zuvor, im passenden Jahr 1968, hatte Ernst Bloch geschrieben: »Wo Hoffnung ist, ist auch Religion.«

Wie weit dies allerdings über die Religion auch hinausgeht, die hier herauszuhörende Befreiungstheologie also auch von jeder Theologie befreit, macht ja gerade der energischste Songs klar: »Macht kaputt, was euch kaputt macht« − der Song soll schon 1969 arrangiert worden sein, als Ton Steine Scherben noch nicht gegründet waren, für die Agit-Prop-Theatergruppe Hoffmann’s Comic Teater. Angeblich sei »Macht kaputt …« von Bob Dylans »Subterranean Homesick Blues« inspiriert; irgendwie lag der Song aber ohnehin in der Luft (so wie Gil Scott-Herons »The Revolution Will Not be Televised«, 1970). Am 6. September 1970 spielten Ton Steine Scherben »Macht kaputt …« auf dem Love-and-Peace-Festival auf Fehmarn; die Veranstalter hauten mit der Kasse ab, Gage gab es nicht; als das Lied zuende war, stand die Bühne in Flammen. Und dann noch Nikel Pallat, der 1971 bei der WDR-Talkshow Ende offen ein Handbeil zückte und den Studiotisch zertrümmerte, die Tischmikrophone abmontierte und die illustre Runde, bestehend Heinz-Klaus Metzger, Hans G. Helms, Rolf-Ulrich Kaiser und Wolf Conrad Veit, verließ: »Fernsehen ist ein Unterdrückungsinstrument in dieser Massengesellschaft … Die Mikrophone brauche ich für Leute, die in Jugendstrafanstalten sitzen.« − Was Ton Steine Scherben auch zum Punk machte, war ein Nihilismus, der Nietzsche in den Wahnsinn trieb, der sich allerdings jetzt, aufgeklärt, zur politischen Kraft der Solidarisierung wendete; »Warum geht es mir so dreckig?« war der Soundtrack einer Großen Weigerung, dessen Echo aus den Achtzigern (Slime) noch bis in die Neunziger zu hören war.

Damaged Goods

Подняться наверх