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bb) Originäres Organisationsverschulden

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Der modernere Ansatz (Rn. 58) nimmt dagegen an, dass nicht nur ein „eigenes“ Handeln des Verbands vorliegt, sondern ihm ebenso ein „originäres“ Organisationsverschulden vorgeworfen werden kann.[210] Tiedemann[211] führt an, Schuld könne nicht nur „sozial-ethisch“, sondern auch als „soziale“ Schuld begriffen werden, die Verbandsschuld müsse daher nicht im gleichen Sinne verstanden werden wie die Individualschuld. Dannecker[212] hebt – i.S.d. Theorie der realen Verbandspersönlichkeit – hervor, Unternehmen seien „eigenständige soziale Subjekte“, hätten eine „corporate culture“, da die Ziele und Eigenschaften eines Unternehmens mehr als die Summe und Ziele der Eigenschaften der einzelnen Mitglieder seien. Aus der gesteigerten Bedeutung, die Verbände im sozialen Leben haben, wird geschlossen, ihnen obliege eine gesteigerte „soziale“ Verantwortung, sie müssten deliktischem Verhalten durch Kontrollmechanismen entgegenwirken. Werde zu einem deliktischen Verhalten animiert oder dieses unterstützt, sei diese „kriminelle Verbandsattitüde“[213] oder „kriminogene Unternehmensphilosophie“[214] Ausdruck des Versagens der Kontrollmechanismen. Teilweise wird in Anlehnung an die Systemtheorie angeführt, der Verband sei ein „autopoietisches System“, die Unternehmensschuld „ein durch die Unternehmenskultur zum Ausdruck gebrachtes Manko an Rechtstreue“,[215] ein „qualifizierter Fehlgebrauch der Freiheit zur Selbstregulierung“[216]. Heine[217] ging von einer „Betriebsführungsschuld“ aus, die auf gravierende Organisationsmängel zurückzuführen sei und eine „funktions-analoge Übertragung“ der Bausteine des Individualstrafrechts darstelle.

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Die Möglichkeit der Exkulpation durch den Nachweis hinreichender Organisation wird dem Verband z.T. als „Gebot der Gerechtigkeit“[218] zugestanden, häufig jedoch verwehrt. So führt Tiedemann[219] an, eine Freizeichnung scheide aus, da das Organisationsverschulden weder auf Zufall beruhe noch unabwendbar sei; auch beim Vollrausch und der actio libera in causa seien die eigentlich schädlichen Taten durch ein „vorwerfbares Vorverschulden“ veranlasst. Für Ehrhardt[220] wird in jeder Tat die „fehlende Neutralisierung kriminogener Einflüsse“ sichtbar. Lampe[221] betrachtet das Organisationsverschulden gar als Folge eines „schlechten Unternehmenscharakters“: Weil sich niemand damit entlasten könne, dass er „für seinen schlechten Charakter nichts könne“, sei dies auch dem Unternehmen verwehrt, womit es für ein „schlechtes Management“ einzustehen habe.

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Schließlich soll der Menschenwürdegehalt des Schuldgrundsatzes einem „originären“ Organisationsverschulden nicht entgegenstehen, da juristischen Personen die Menschenwürdegarantie unstreitig nicht zukommt, womit die Verbands- bzw. Unternehmensschuld nicht aus der Menschenwürde, sondern nur aus den allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen an eine gerechte Strafe hergeleitet werden könne.[222]

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Gegen den Ansatz eines „originären“ Organisationsverschuldens ist einzuwenden, dass Schuld Einsichtsfähigkeit und ein Andershandelnkönnen voraussetzt. Ein Verband kann aber weder „originär“ einsichtsfähig sein noch „originär“ anders handeln, sondern dies können nur Menschen, die den Verband aufbauen und strukturieren.[223] Nur seinen Leitungspersonen kann ein „originäres“ Organisationsverschulden vorgeworfen werden. Hinweise auf die „soziale Wirklichkeit“ oder die Systemtheorie – und damit das Bemühen, ontologisch eine Parallele zwischen Menschen und Verbänden zu ziehen – können an diesem Befund nichts ändern. Ohnehin ist fraglich, ob etwa die Bezugnahme auf die Systemtheorie den Ansatz tragen kann.[224] Es ist bezeichnend, dass gerade Jakobs[225] sich gegen ein Verbandsverschulden ausgesprochen hat. Zwar möge es sein, dass eine juristische Person ein „Eigenleben“ führt, „sich ihre innere Verfassung nach Regeln bildet, die als bloße Summierung der für sie handelnden natürlichen Personen nicht zu erklären ist“. Dies ändere aber nichts daran, dass es sich um einen „Geist“ handelt. Diesen Geist will freilich Lampe[226] als „überindividuellen Geist“, der sich der Mitarbeiter „bemächtigt“, gerade bestrafen. Ebenso wenig ist die juristische Person ein „Lebewesen höherer Ordnung“[227], sondern nur ein juristisches Konstrukt. Auch die Anknüpfung an eine „Betriebsführungsschuld“ ist verfehlt, da im Individualstrafrecht nicht die „Lebensführungsschuld“ maßgeblich ist,[228] sondern die Einzeltatschuld, so dass es an einer „funktions-analogen“ Übertragung fehlt. Und schließlich ist es nicht überzeugend, von „sozialer“ Schuld zu sprechen und damit den Schuldbegriff zu „entleeren“. Wie das BVerfG im Lissabon-Urteil angeführt hat, enthält jede Strafnorm ein „sozialethisches Unwerturteil“.[229]

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Weiter ist es mit dem Schuldgrundsatz unvereinbar, wenn ein Organisationsverschulden unwiderlegbar fingiert wird.[230] So fehlt es ersichtlich an einem Organisationsverschulden, wenn etwa eine Leitungsperson, die sorgfältig ausgewählt wurde und jahrelang zuverlässig war, eine zuvor nicht absehbare verbandsbezogene Straftat begeht. In Wahrheit wird in einem solchen Fall nicht an ein „Verschulden“ des Verbands angeknüpft, sondern eine „Garantiehaftung“ begründet.[231] Dies mag zwar im Zivilrecht zulässig sein, ist im Strafrecht aber unannehmbar. Der unwiderlegbare Schluss von der Begehung einer Straftat auf ein Auswahlverschulden ist „schlicht unzulässig“, dem Verband muss nicht nur der Einwand rechtskonformer Organisation gestattet sein, sondern wegen der Unschuldsvermutung ist der Nachweis des Organisationsverschuldens zu fordern.[232]

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Schließlich lässt sich aus der Verankerung des Schuldgrundsatzes in der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) ableiten, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist, ein von dem Verschulden von Menschen vollständig gelöstes Verbandsstrafrecht zu begründen. Ein Verbandsstrafrecht kann daher nicht unmittelbar an ein nicht existentes „originäres“ Organisationsverschulden des Verbands anknüpfen.

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